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Ich verstehe, worauf du hinauswillst, aber insgesamt ...

Seniors
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24.04.2003
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Ich verstehe, worauf du hinauswillst, aber insgesamt ...

Pastelltöne und Linien, Ecken, Kreuze, graue Kästchen mit bunt bemalten Porzellanfiguren darin. Horizonte und Bücher, schimmernde Möwen, winzige Elephanten, zwei Türen.
Die übliche Beschreibung eines Raumes ist etwas, was ich nie durchzuführen gelernt habe. Verschiedene Gegenstände und Formen, die Beschaffenheit an sich, darüber drücke ich mich aus.
Linda nimmt mich an die Hand und führt mich in die Küche.
Krumme Fliesen, ovale Gefäße, knochenförmiger Kopfschmuck und klappernde Musik. Ein Geruch, der sich aus vielen einzelnen Gerüchen zusammensetzt. Ein Chefgeruch.
"Ich möchte dir gern jemanden vorstellen", sagt sie und lächelt.
Von Antonio hat sie mir bereits erzählt.
Er besteht aus vielen Fragmenten, die sich als Ganzes zusammenfügen. Ich hätte mir einige davon anders vorgestellt. Nur knapp die Hälfte stimmt mit denen meiner Phantasie überein.
"Hallo Tom." - Die Buchstaben sprudeln lebhaft aus ihm heraus, ergeben Wörter voller Leichtigkeit. Ich mag ihn. In seiner Gesamtheit ist er symphatisch, bis auf eine Sache, die ich noch nicht benennen kann.
"Linda hat mir viel von dir erzählt, Tom. Das Essen ist gleich fertig. Geht doch solange nach nebenan."
Wieder ihre Hand. Knochen, Gelenke, warme Haut und Pfirsich. Der Stuhl, vier hölzerne Pfähle und eine quadratische Platte; verzierte, gemusterte Rückwand. Nachgiebige Fläche zum sitzen ... stechendes Grün.
Während wir warten, durchströmen unterschiedliche Emotionen bestimmte Regionen meines Inneren. Sie ergeben in ihrer Summe eine peinliche Zurückhaltung. Ein großer Teil von mir will sich mit Linda unterhalten, aber die Emotionen verbieten es. Es sind oft Kleinigkeiten, die dich verraten.
Sie lächelt.

***

Gelebte Flucht

Der kleine Junge stolpert über Stock und Stein. Er läuft, keucht, verliert die Übersicht und weiß nicht mehr wohin. Die Verfolger scheinen übermächtig. Er hört ihre Schritte, die fast schon ein Stampfen sind. Lautes Gelache; bald werden sie ihn eingeholt haben. Er macht sich in die Hose und erspäht einige Müllcontainer, die chaotisch in einer schmalen Seitengasse angeordnet sind.
Der kleine Junge geht hinter einem davon in die Knie und betet zu ... sonstwem.
Dann verhallt der Lärm der Verfolger. Der kleine Junge kann es kaum glauben. Er hat sie an der Nase herumgeführt. Jetzt muss er seiner Mama nur noch die nasse Hose erklären. Sie wird er nicht an der Nase herumführen können, und wenn sein Papa nach Hause kommt, dann wird sie ihm von Schwäche erzählen, und von Härte, die die Schwäche austreibt, und er will es sich nicht vorstellen.
Da kommt ihm ein Gedanke.
Vielleicht ist die Situation, die zweifellos kommen wird, nur dann eine Schmerzhafte, wenn sie aus erlebter Vergangenheit entsteht.
Die Hand seines Vaters, der Bambusstock, das Anfeuern der Mutter. Diese Dinge könnten gewissermaßen nicht zusammengehören. Für sich allein betrachtet sind sie sogar ziemlich unbedeutend.
Der kleine Junge beschließt ... sie kommen zurück!
Er hat zu lange gewartet. Sie haben sein Versteck entschlüsselt, und bald werden sie es finden.
Und dann geschieht, was der kleine Junge noch gar nicht richtig glauben kann.
Keine Verfolger stellen sich vor ihm auf, sondern Einzelteile.
Ein fetter Kerl, der selbst ständig gehänselt wird.
Ein dürrer Hering, der einfach bloß mitläuft; und um mitlaufen zu können, muss er besonders grausam sein, weil er sonst keine nennenswerten Eigenschaften besitzt.
Schließlich das Mädchen, das sich wie ein Junge anzieht, und gerne hart zuschlägt.
Verlierer. Es sind Verlierer, genau wie du. Aber bei ihnen ist es schlimmer, denn sie sind zu dritt, und trotzdem sind sie noch Verlierer
Der kleine Junge steht auf.
Das Mädchen lacht. - "Seht mal, der kleine Tom hat sich eingepisst!"
Die beiden anderen stimmen in das Gelächter ein. Tom greift nach einer Flasche, die aus dem Müllcontainer herausragt, und schleudert sie auf den Kopf des Mädchens.
Sie hört auf zu lachen, und fällt zu Boden.

***

"Holzfällersteaks und Folienkartoffeln. Guten Appetit."
Etwas Neues ist zu den Einzelteilen des Raumes gestoßen. Zwei Hauptgerüche, die sich zu einem Chefgeruch vereinen. Auf unterer Ebene gibt es da noch Gewürze und Fleisch, Knoblauch und Petersilie.
Niemals kann es Vollständigheit geben. Komplexität ist ein Begriff, der zusammenfassen will, was nicht miteinander vereinbar ist.
Linda streichelt über meinen Arm.
"Tom ... Antonios Tochter hat große Probleme in der Schule. Sie ist ein schlaues Mädchen, aber ihr Überbiss ..."
Ich weiß, worauf es hinauslaufen wird.
"Ich will nicht, dass es ihr schlecht geht", ergänzt Antonio, die Handflächen ausstreckend, und plötzlich weiß ich, welcher Teil mir an ihm nicht symphatisch ist.
Grobschlächtige Pranken.
Ich schiebe den Teller von mir weg. - "Hast du sie geschlagen?"
Einzelheiten setzen sich in Bewegung, ergeben einen Mechanismus, der eine rote Färbung auf dem Gesicht meines Gegenübers verursacht.
Er braucht nicht zu antworten.
"Ich will nur, dass du sie stark machst. Sie soll sich wehren können."
Ich schaue zu Linda, die einzige Frau ... das einzige Wesen überhaupt, was ich in meinem Leben immer als Gesamtheit gesehen habe. Sie zerbricht in tausend Stücke.
"Weshalb bringst du mich zu einem solchen Arschloch?"
Antonio springt von den Einzelteilen seines Stuhls auf.

***

Das erste Drittel war außer Gefecht gesetzt. Der Junge holte aus, zerschlug das zweite Drittel. Dann zerbarste die Flasche. Auch sie bestand lediglich aus Splittern; war kein zusammenhängendes Gefüge.
Es kam zu einem kurzen Kampf. Der übriggebliebene Verfolger besaß nicht mehr die Strömung, aus der Mut entstand. Was er gerade gesehen hatte, ließ die Strömung zu einem Strudel werden, in dem er selbst ertrank.
Tom verließ die Seitenstraße und ging nach Hause. In seiner Hand hielt er die Bestandteile einer Glasflasche, die scheinbar noch zusammengehörten. Auch sie sollten bald zu Splittern werden.

***

Antonio fällt zurück auf die Einzelteile seines Stuhls. Der Plastikgriff, die Klinge, die Gesamtheit des Steakmessers, steckt in der scheinbaren Gesamtheit seiner Brust.
Linda weint.
"So viele Jahre. Ich dachte, du hättest mich verstanden."
"Das habe ich. Deshalb habe ich dich hierher gebracht."
Ich zögere. Unzählige Überlegungen, die auf keinen Nenner kommen wollen.
"Was meinst du damit?"
"Tom, verstehe die Welt endlich einmal als etwas, was nicht immer bloß aus Einzelteilen besteht. Ich weine nicht, weil ich traurig bin."

In welcher Verbindung hat er zu Linda gestanden? Ich begreife nicht.

 

Hallo Cerberus,

hat mir gefallen, auch wenn einige Fragen bleiben.

Eine schöne Idee, die Wahrnehmung eines Menschen zu beschreiben, der sich auf die Details konzentriert. Fast hätte ich geschrieben "ohne das Ganze erfassen zu können", aber das stimmt ja nicht. Er erkennt den Raum als Raum, den Menschne als Antonio, den Stuhl als Stuhl, und gliedert nur in Einzelteile. Er ist sich also dessen bewusst, was mich etwas irritiert - die Fähigkeit zur Selbstreflektion. Ich weiß noch nicht genau, ob es ein Widerspruch ist. Tom entscheidet sich ganz bewusst dazu, die Dinge in Einzelteile zu zerlegen, aber er nimmt sie weiterhin auch als Ganzes wahr? Hm. Vielleicht liegt es daran, dass ich zu Beginn einen Menschen mit einer Behinderung vor mir hatte, der er ja wohl nicht ist. Ich weiß nicht, ob ich das Ende verstanden habe oder nicht vielmehr auch bei mir ein "Ich begreife nicht" bleibt. ;) Hat Linda das Ganze bezweckt und ihn deshalb zu Antonio geführt? Deutlich wird auf jeden Fall, dass manchmal die Rechnung ein detail bedingt das andere nicht aufgeht sondern es notwendig ist, das Ganze in seiner Komplexität zu betrachten. So ist das Leben.

Kleinigkeiten:

Niemals kann es Vollständigheit geben.
Vollständigkeit
Dann zerbarste die Flasche.
zerbarst

Liebe Grüße,
Juschi

 

hallo cerberus!
bin völlig hin und weg von dieser art der beschreibung! finde ich einfach wunderbar!
auch wenn es mir ein bisschen geht wie juschi und ich nicht weiss ob ich das ende wirlich verstanden habe, aht mir deine gescichte sher gut gefallen!
vorallem die gecsichte um den jungen, der sich die verletzbarkeit des einzelnen u nutze macht! sehr schön!
ist jetzt keine besonders "hilfreiche" kritik, aber ich hoffe ich kann die auch mit einem einfachen lob eine freude machen:-)

liebe grüße,
fiona

 

Hallo euch Dreien!

Ja ja, der liebe Schluss. Erlebte Vergangenheit und Verdrängung durch ein Verändern der eigenen Auffassung; ein Thema, das mich sehr interessiert.

Ich weiß gar nicht genau, was ich schreiben soll, muss ich doch zugeben, dass das Ende tatsächlich eher hingerotzt als wohldurchdacht ist, und solche Unarten wollte ich mir eigentlich abgewöhnen.
Wenn ich dazu komme, werde ich den Schluss noch einmal überarbeiten.

Viele Grüße und Danke fürs lesen.

Cerberus

 

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