Was ist neu

Ich war noch nie in Berlin

Mitglied
Beitritt
15.09.2005
Beiträge
7

Ich war noch nie in Berlin

Ich war noch nie in Berlin. Und auch jetzt würde es wohl nur für ein flüchtiges ‚Hallo’ reichen. Schnell rein, tun wofür ich hier war, Mittagessen, schnell wieder raus. Ich war immer davon ausgegangen, dass mein erster Besuch in meiner Hauptstadt etwas Besonderes werden würde. Eine Zeit an die man sich später lächelnd zurück erinnern würde.
Nichts da. Ganz unspektakulär.
Sehr geehrte Passagiere, wir werden in wenigen Minuten in Berlin landen. Bitte legen Sie Ihre Sicherheitsgurte an und stellen Sie das Rauchen ein. Klappen Sie Ihre Tische hoch und bringen Sie Ihre Sitze in eine aufrechte Position. Vielen Dank, dass Sie mit bla bla bla wir wünschen ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt und so weiter. Die Standartabfertigung.
Bing. Bing. Über mir leuchten eine durchgestrichene, qualmende Zigarette und der Schnappverschluss eines Anschnallgurtes.
Eine Stewardess, eben noch über eine besorgte Frau gebeugt, verschwindet vorne im Flugzeug, auf dem Weg zu ihrem Sitz.
Die Turbinengeräusche werden lauter. Der Boden kommt näher. Das Flugzeug scheint immer schneller zu werden.
Komischerweise sagt niemand mehr etwas. Wenn man wollte, dann könnte man in der Luft irgendein Knistern hören, etwas Elektrisches, dass in der Luft liegt, spüren, ein Kribbeln im Bauch, irgendwas, was eben die Buchautoren an solchen Stellen immer schreiben, kurz bevor das Unvermeidliche passiert.
Das Fahrgestell kollabiert, Fall- oder Seitenwinde kurz bevor die Reifen quietschend den Asphalt berühren, eine Missverständnis im Tower, eine Startende und eine landende Maschine kommen sich entgegen.
High Noon.
Ein Feuerball rollt über den Asphalt, spuckt zerfetzte Flugzeugteile und brennende Passagiere über die Landebahn. Ein paar Stunden später setzt ein Tagesschau-Sprecher eine betroffene Miene auf. Aus bisher ungeklärten Gründen kam es heute auf dem Flughafen Berlin zu einem tragischen Flugzeugunglück. Die Angehörigen werden verständigt, die bis zu Unkenntlichkeit verbrannten Leichen zu identifizieren, Formalitäten regeln. Und so.
Ein kurzer Ruck. Die Verzögerungskraft drückt dich in gegen den Sicherheitsgurt. 3 Sekunden. Applaus. Einen schönen Aufenthalt in… jaja.
Ich trage Jeans, einen hellen Rollkragenpullover und eine Lederjacke. An Gepäck habe ich nichts bei mir.
Es ist kalt. Viel zu kalt für Anfang März. Es ist kurz nach 7. Eigentlich würde an diese Stelle irgendein romantischer, erinnerungswürdiger Sonnenaufgang gehören. Gold-rote Färbung der letzten Nebel-Dunststreifen der Spree, kurz bevor die ersten Sonnenstrahlen des Tages warm über dein Gesicht streichen. Nichts da. Grauer Himmel. Einer dieser Tage, an denen es jeden Moment anfangen kann zu schneien. Mal wieder.
Ein kalter, feuchter Wind kämpft einen aussichtslosen Kampf gegen mein kurzes Haar, als ich aus dem Shuttlebus steige, der mich von meiner Maschine über das Rollfeld zum Terminal gebracht hatte.
Ich bin froh, als die Glasschiebetür den Weg ins Terminal freigibt und ich von der warmen Luft des Gebläses umspült werde.
Bis auf einen Mann mit einem Schild, das meinen Namen trägt, Nachname, Komma, Vorname, und einiges Putzpersonal ist niemand in der Halle.
Der Typ ist vielleicht 30 Jahre alt, trägt einen sandfarbenen Anzug mit weißen Nadelstreifen, darunter ein weißes Hemd. Verdammt, wir haben Winter.
Ich könnte zu dem Typen gehen, Hallo sagen, ich bin’s, dann werde ich mich von ihm dämlich begrinsen lassen, fragen, und wer sind sie, ach, er ist Herr Sowieso, Sekretär von einem anderen Herrn Sowieso, der Lektor ist, der mein Skript gelesen und es vorgeschlagen hat. Ah, angenehm, freut mich, sie kennen zu lernen. Und eben dieser ganze Formscheiß.
Um mich strömen noch jede Menge andere Passagiere, die mit dem Shuttlebus gekommen sind in die Halle und alle steuern sie zielstrebig irgendeinen Punkt auf dem Flughafen oder sonstwo an. Wenn ich es genauso mache, dann könnte ich an diesem Typen vorbeikommen, ohne dass er mich bemerken würde. Dann ein Taxi nehmen, zum Verlag bitte, und ich könnte mir dieses peinliche Getue sparen.
Ich fixiere irgendeine Glastür und gehe darauf zu, als hätte ich es schon hundertmal gemacht. Ich bin der einzige hier, der kein Gepäck mit sich trägt. Sei es auch nur ein kleiner Rucksack oder eine Tasche, jeder hat irgendwas, nur ich nicht.
An mir ziehen Leute vorbei, manche, die meisten, in Hast. In einen kleinen Plastikkasten an ihrem Ohr sprechend, miteinander diskutierend. Einige Yuppies schlängeln sich in elegantem, energiegeladem Laufschritt an den Langsameren vorbei, während sie mit den Aktenkoffern in ihrer einen Hand, der Laptoptasche in der Anderen wild herumwedeln. Trotzdem wird die eine oder andere Kniekehle getroffen. Oh Verzeihung. Das wollte ich nicht. Schon ok. Nichts passiert.
Also gehe ich doch zu ihm. Er würde mich ohnehin erkennen, und dann wird es noch peinlicher. Oh! Das Schild habe ich ja gar nicht gesehen. Verzeihung.
Als er sieht, dass ich ihn sehe, lächelt er mich an, kommt auf mich zu, streckt mir die Hand entgegen. Ich hasse es wenn beim Händeschütteln jemand nicht zudrückt. Ich gebe jemandem die Hand, ich will nicht irgendeinen leblosen Fleischsack kneten.
Ich drücke zu. So fest wie immer. Drück’ zurück oder zieh’ deine Hand weg.
Überraschung. Er hat einen festen Händedruck.
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass ein Händedruck 3 Sekunden einfach nur passiert und erst dann als unangenehm oder eben angenehm empfunden wird.
Einen schönen guten Morgen. Schön dass Sie es geschafft haben. Ich freue mich Sie kennen zu lernen. Ja, bla, bla, die Freude ist ganz auf meiner Seite, man kennt das ja.
Er fragt mich, ob ich Gepäck dabei habe. Ich sage nichts. Ach so, ja, wieso sollten Sie für ein paar Stunden Aufenthalt Gepäck mitnehmen. Schön. Kommen Sie, ich bringe Sie zum Wagen.
Er geht voran, auch mit solch einem energischen Schritt. Woher nehmen diese Bürohengste mit Anzügen als Arbeitskleidung diese Energie. Oder ist das aufgesetzt?
Wann geht eigentlich ihr Rückflug? Mein Rückflug? Um 9.
Ah, dann haben Sie ja alle Zeit der Welt.

Ich weiß nicht was hier los ist. Ok, es ist erst 7 Uhr morgens, aber ich bin doch in Berlin, verdammt. Auf der Straße vor dem Haupteingang des Flughafens sind kaum mehr als 10 Menschen, 3 Taxis und ein schwarzer 5er.
Der Yuppie hat einen Autoschlüssel aus seiner Jacketttasche geholt und zielt damit lässig auf den BMW. Das Handy und der Funkautoschlüssel haben den Revolver ersetzt. Nokia-Cowboys. Motorola-Desperados. Siemens-Marshals. Die gelben Lichter des 5er flackern aggressiv auf, das Auto bellt dazu im Takt.
Noch nie hat mich ein Chauffeur abgeholt. Wo setzt man sich da hin? Hinten? Oder vorne? Ok, alles klar, er hält mir die Tür auf. Ich steige ein, auf den Beifahrersitz.

An der Flughafenausfahrt sieht es schon anders aus. Verkehr ohne Ende. Der BMW steht über eine Minute, bis eine Lücke, die groß genug scheint, zwischen zwei Autos herannaht. Da hätte ich mir ja eine schöne Zeit ausgesucht, um nach Berlin zu kommen. Genau in den beginnenden Berufsverkehr.
Wann ist die Besprechung noch mal angesetzt will ich wissen. Um 9:30 Uhr, sagt er. Wir hätten noch Zeit. Obwohl es um diese Uhrzeit gut eine Stunde dauern könnte, bis wir am Verlag wären. Aber für ein Frühstück im verlagseigenen Café würde es noch reichen. Ich hätte doch noch nicht schon im Flugzeug gefrühstückt, oder? Nein, sage ich, ich hätte aber auch keinen Hunger.
Das spielt keine Rolle. Er ja auch nicht, aber ein Kaffee müsse sein.
Wegen mir.
Die Blechmassen schieben sich wie eine zähe Masse Gelee auf der einen Seite in die Stadt, auf der anderen Seite heraus. Die Straße, die Stadt, die Häuser, die Automassen pulsieren, gleich zweier gigantischer Blutadern auf dem Weg zu Herzen und weg davon.

Häuserfronten, kalt. Dreckiger Teer. Faules Wasser das sich durch trockene Rinnsteine und darin angesammelten Müll schlängelt, nur um dann doch in die dunklen Löcher der Kanalisation zu stürzen.

Zeitungsstände. Ein Mann mit Anzug klemmt die Zeitung untern den Arm, reicht dem grauhaarigen Frauchen Geld, beide lächeln sich an. Er nimmt seinen Aktenkoffer, geht. Mir ist, als würde der Duft der frisch gedruckten Zeitung bis zu mir herüberwehen.
Bäckereien. Eine Mutter mit ihrem kleinen Kind an der Hand. Sie trägt eine Stofftasche. Das Kind eine kleine Papiertüte. Es kaut, seine Backen sind ganz dick, es kann kaum den Mund zumachen. Eine dicke Wollmütze reicht ihm über die Augen fast bis an den Mund.
Der Wagen biegt ab, die beiden verschwinden hinter mir.
Eine Litfasssäule, Werbung. Messen, Ausstellungen, Theatervorführungen, Opern, Konzerte. Dahinter liegt ein Penner. Eingewickelt in einen schäbigen Polyesterschlafsack, seine ganze Habe in einem Einkaufswagen verstaut, der daneben steht. Ein trägt eine Russenmütze, die Ohrschützer heruntergeklappt, tief in sein Gesicht gezogen. Den Hals mit einem Schaal umwickelt. Nur die rauen, dicken Lippen sind zu sehen. Neben dem Schlafsack liegt eine leere Whiskeyflasche.
Eine kleine Galerie. Schwere Marmorstufen führen zu einer Glasfront hinauf. Alles mit Edelstahl verkleidet. Ein Portier schließt gerade die Tür von innen auf. Er trägt ein Frack mit platinschimmernden Knöpfen. Der weiße Marmor der Eingangshalle spiegelt sich in der breiten Glastür.
Ein paar Schüler. Etwa in meinem Alter. Sie warten an einer Bushaltestelle. Alle miteinander halten sie dampfende Pappbecher in den Händen.
Der Wagen hält an einer Ampel.
Links von mir ein Mann in edel aussehendem, schwarzen Anzug. Blaues Hemd, blaue Krawatte. Die Haare hart an die Kopfhaut gekleistert. Handy am Ohr. Er gestikuliert und fuchtelt wild mit den Händen in der warmen Heizungsluft seines Benz.
Rechts von mir, ein alter Mann. Dicke Brillengläser in einer schwarz-braunen Hornfassung.
Wir fahren weiter.
Vor, neben und hinter mir eine Stadt, die gerade erwacht. Millionen von Menschen, die alle ein Ziel verfolgen, oder einfach nur vor sich hin leben. Die Stadt wir zu einem lebenden Wesen, es atmet, es bewegt sich.
Ich will die Autotür aufreißen, mich von dem Gurt befreien. Ich will in die Stadt rennen, die Kälte auf meiner Haut spüren, atmen, den Geruch Berlins. Die Millionen Gerüche. Ich will alles in mich einsaugen, ich will es aufnehmen, es verstehen, es leben. Ich will ein Teil von all dem werden, ich will dass mein Gesicht in der Masse der unzähligen anderen Gesichter verschwimmt. Zu einem Teil des Stromes wird. Ich will mit davon schwimmen.
Ich habe das Gefühl dass sich der Gurt um meine Kehle wickelt, mich erdrosselt, als das Auto an der nächsten Ampel stehen bleibt.

Ich habe keine Ahnung wie lange wir schon unterwegs sind. Da vorne beginnt die Straße in der das Verlagsgebäude liegt.
Na, das sind wir aber doch ganz gut durchgekommen. Ich erschrecke als ich die Stimme höre. Ich habe völlig vergessen dass ich nicht alleine in dem Auto sitze.
Er reicht mir einen kleinen Ausweis, mit Bild, Name, einer Nummer und den Worten geladener Gast. Er sagt, ich solle ihn an Jacke oder an Pullover in Brusthöhe befestigen.
Es ist 10 Minuten vor 8.
Er führt mich durch den Eingangsbereich zu dem Café. Alles hier ist aus Glas, Edelstahl, hellem Buchenholz und Marmor. Alles ist sehr elegant, beinahe schon filigran gearbeitet. Jede Menge Grünpflanzen, Palmen und meterhohe Frangewächse sind um einen Brunnen verteilt. Meterhoch aufgetürmtes, braun-schwarzes Vulkangestein das von Wasser überspült wird.
Er hält mir eine weitere Glastür auf. Im Café sitzen nur wenige Leute, alle tragen Anzüge, sind über Zeitungen oder Laptops gebeugt. Manche telefonieren mit winzigen Handys.
Nein, tut mir Leid, diesen Termin kann ich nicht wahrnehmen.
Was soll das heißen, sie sind noch nicht fertig? Wir wollen in einer Woche mit dem Druck beginnen.
Fräulein soundso, wären sie bitte so nett mir diese Daten auf meinen Laptop zu schicken?
Ich bräuchte für heute Abend einen Tisch für 6 Personen, in einem separaten Raum. Ja, danke, um 21 Uhr.

Er kommt mit zwei Tassen Espresso in den Händen zurück zu dem Tisch, an dem ich sitze, stellt die kleinen Tassen ab und schiebt eine zu mir.
„Also, gut.“ Beginnt er. „Ich weiß nicht welche Vorstellungen Sie von dieser Sitzung haben, aber ich versichere Ihnen, dass Sie alles sein können, nur nicht nervös. Schließlich haben wir Sie eingeladen, und wir wollen etwas von Ihnen, nicht?“
Er verrührt einen übervollen Löffel Zucker in seiner Tasse.
„Wir wollen Ihr Buch drucken. Und die Fragen die Sie gestellt bekommen werden, sind mehr inhaltlicher Natur. Warum haben Sie Das so geschrieben, warum haben Sie diesen Namen benutzt, und solche Fragen. Und wenn Sie einmal keine Antwort haben, dann sagen Sie das ruhig. Kein Problem. Darf ich Ihnen etwas zu essen anbieten? Hier ist die Karte? Oder wollen Sie eine Zeitung?“
Ich lehne dankend ab.
„Gut. Aber sagen Sie mir wenn Sie etwas wünschen.“
Die Besprechung war für halb 10 angesetzt. Noch eineinhalb Stunden würde ich hier rumsitzen müssen.
„Wer wird denn bei dieser Besprechung alles dabei sein?“ will ich wissen.
„Nun ja, zum einen mal ich.“ Er grinst. „Dann mein Chef, der Lektor der ihr Buch gelesen hat. Dann drei weitere Lektoren, die ihr Buch ebenfalls gelesen haben und deren Sekretäre. Der Verlagschef natürlich, zwei Mitglieder des Aufsichtsrates und Zwei des Vorstandes. Dann noch ein Medien- und Werbepsychologe und Herr Lukas Friedrich Roth.“
„Lukas Friedrich Roth?“ wiederhole ich und kann dabei ein klein wenig Erstaunen nicht verbergen. Der Typ grinst mich an.
„Ja, er ist der erfolgreichste Romanautor den unser Verlag derzeit unter Vertrag hat.“
Ich frage, warum denn um mich sofort so ein Wirbel gemacht wird.
Er trinkt den letzten Rest aus seiner Tasse, rückt sich auf dem Stuhl zurecht und scheint sich für eine längere Rede aufzubauen.
„Sehen Sie, täglich gehen bei mir mindesten 30 Skripte ein, die irgendjemand geschrieben und sie mir dann geemailt hat. Natürlich will jeder dass wir seinen Roman oder was auch immer, sofort abdrucken und verkaufen. Ich lese mir dann alles durch und treffe eine grobe Vorauswahl. Jemand der mir einen Roman andrehen will, der trotz Schriftgröße 16 nur 30 Seiten in Word hat, kann ihn gleich behalten. Genauso wie Texte, die einfach nur dümmlich und oder plump geschrieben sind. Auch nehme ich keine Texte an, die es genauso schon einmal gegeben hat, und ihr vermeintlicher Verfasser nur Namen und Schauplätze vertauscht hat.
Kennen Sie den Skandalroman von Ellis? American Psycho?“
Ja.
„Nun, sehen Sie, der Roman läuft nicht über unseren Verlag, aber wir bekommen pro Woche mindestens ein Skript für American Psycho II, oder Überarbeitungen…“ bei diesem Wort verzog er hämisch sein Gesicht. „…des Originalwerkes. Ein Krampf, ein einziger Krampf, sage ich Ihnen. Oder kennen Sie Fight Club?“
Ja.
„Mittlerweile könnte ich einen Sonderraum in einer Bibliothek betreiben, wo nur Fight Club Klone stehen. Von Fortsetzungen bis zu Teil 8, Romanen in der dritten Person ist alles dabei. Reichlich Schrott.
Sehen Sie, Alles, was diese grobe Vorauswahl übersteht, vielleicht ein Text pro Monat, landet bei einem der Lektoren. Dieser ließt den Text dann mindestens dreimal, aber ich sage ihnen, ein Text der was hergibt, wird nicht selten mehr als zehnmal gelesen. Er arbeitet den Text mehrfach durch, von allen möglichen Standpunkten aus. Wenn es der Text wert ist. Es kann natürlich auch sein, dass nach dem dritten Lesen der Text im Müll landet. Wenn der Lektor mit dem Durcharbeiten fertig ist, und er beendet es nur dann, wenn der Text später mindesten vorgeschlagen wird, dann nimmt er mit dem Autor Kontakt auf. Wie es dann weitergeht, wissen Sie ja am besten.“ Sagt er und grinst mich an.
Ich versuche zurückzugrinsen, kann aber nicht.
„Mich würde interessieren, warum Sie dann meinen Text weitergereicht haben. Denn wenn man ihn nur überfliegt, dann könnte man meinen es ist ein…“
„…Herr der Fliegen Klon.“ Macht er weiter. „Ja, ich weiß. Aber, nun, wissen Sie, ihr Schreibstil hat mich dermaßen beeindruckt, dass ich den Text komplett und intensiv gelesen habe. Ihr Stil ist eiskalt, aalglatt, präzise wie ein Schnitt mit einem Skalpell und gleichzeitig doch gewaltig wie ein Hammerschlag. Außerdem ist Ihr, gestatten Sie mir den Ausdruck, Werk, sehr imposant, tiefgründig und genau an den richtigen Stellen regelrecht verstörend.“
Ich schaue in den Espresso.
„Sie dürfen ruhig stolz sein. Ehre wem Ehre gebührt. Als ich dem Lektor den Text gegeben und er ihn gelesen hatte, überschlug er sich fast. Und das ist etwas Besonderes. Selbst Texte, die ausgenommen gut sind und sich später zu Bestsellern entpuppen, wurden von ihm nur mit einem ‚naja, ganz ok’, höchstenfalls, tituliert.“
Aus Höflichkeit und vor allem um irgendwelchen Frage aus dem Weg zu gehen, nehme ich einen Schluck des mittlerweile kalten Espressos.
„Und eben aus diesem Grund, weil selbst mein Chef eine noch nie da gewesene Euphorie Ihrem Text gegenüber an den Tag legte, hat der Verlagschef keine Minute gezögert, hat ein paar Telefonate getätigt und einen Termin für die Sitzung angesetzt.“

Ungefähr 5 ausführliche Lebensgeschichten und je 3 Espresso weiter ist es dann, endlich, 10 Minuten nach neun.
Er bittet mich ihm zu folgen, raus aus dem Cafe, durch die Eingangshalle durch eine weitere Glastür. Ein durch und durch mit Marmor getäfelter Raum. Ein Pförtner saß hinter einem, Überraschung, Buchenschreibtisch. Er blickt auf meinen Ausweis und wünscht uns einen angenehmen Aufenthalt. Danke.
Mit dem Fahrstuhl, aus Edelstahl und Glas, von dezentem Neonlicht ausgeleuchtet, von Robbie Williams beschallt, rauf in den 32 Stock. Hoch über den Dächern Berlins. Die Chef-Etage.
Ich soll mich ganz natürlich und selbstbewusst verhalten. Das wäre ja kein Problem für mich.

Welch eine Außergewöhnlichkeit, eine gläserne Flügeltür schwingt vor mir auf, gibt den Weg in den Konferenzraum frei. Ein gewaltiger ovaler Tisch steht in seiner Mitte. Die Tischplatte ist aus… Glas. 5cm stark. Die Platte liegt auf 4, ebenso imposanten Sockeln aus blassem Edelstahl oder Aluminium. Der Tisch bietet Platz für 30 Personen, die zurechtgerückten Bürostühle haben ein schwarzes Sitzkissen, die Rückenlehne ist mit einem filigranen Netz bespannt. Der Raum liegt in der abgerundeten Ecke des Gebäudes, die Außenwand, die einen Kreisausschnitt beschreibt, ist komplett verglast.
Alle drängen sich um mich und versuchen mir die Hand zu reichen. Wie schon am Flughafen drücke ich ordentlich zu.
Die letzten Beiden die auf mich zu kommen, ihnen macht man aber Platz, sind der Verlagschef und Roth.
Es freut mich sie in unserem Verlag begrüßen zu können.
Wie war ihr Flug.
Schön dass sie es geschafft haben.
Ich bin sehr auf ihre Ausführungen gespannt.

Der Verlagsleiter hatte alle in einem komisch aggressivem Ton gebeten, sich zu setzten. Nun sitzen alle.
Rohlinge meines Buches werden herumgereicht. Ein Deckplatt aus dickerem, weißem Papier, auf dem nur das Verlagslogo prangt. Dann 3 Leerseiten. Dann fängt es einfach an. Kein Titel, kein Name, nichts.
Der Rohling des Lektors sieht ziemlich mitgenommen aus. Überall an den Seiten schauen kleine, bunte Papierfetzen heraus.
Der Verlagschef erhebt sich am anderen Ende des gewaltigen, gläsernen Ovals und bläst sich auf. Dabei fixiert er mich.
„Wenn ich Sie bitten dürfte, anzufangen. Was hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?“
Ich erhebe mich ebenfalls und stütze mich schwer mit beiden Armen auf dem Tisch ab. Ich beginne zu erläutern, was mich dazu brachte zu schreiben.
Der Text von Golding hat mich beeindruckt. Allerdings zu wenig komplex. Nicht intensiv genug. Zu nüchtern, zu sachlich formuliert. Golding denkt interessante Ansätze nicht weit genug. Ich habe von Golding so abgeschrieben, wie Golding es von Ballantyne getan hat. Mädchen fehlen. Wodurch die Männer-Frauen Thematik auch fehlt. Die Charaktere sind zu stilisiert, verkörpern keine Individuen…
Ich labere alles herunter was mir einfällt, manches auch zwei- oder dreimal, irgendwann komme ich dann auf einen neuen Punkt, male den wieder aus. So geht das lange weiter. Ich bin überrascht, als ich feststelle, dass mich jeder der Zuhörer mit der gleichen Aufmerksamkeit ansieht wie als ich gerade begonnen hatte.
So langsam dämmert mir, um was es hier tatsächlich geht. Die sind wirklich an meinem Buch interessiert. Wenn alles so weiter verläuft, wie ich es mir vorstelle, dann kann ich mich in einem Jahr zu Ruhe setzen. Freier Autor mit 18. Kann einem was Besseres passieren?
Dort hinten, am Ende des Ovals werde ich immer euphorischer, meine Ausführungen werden immer präziser, ich ballere mit Antworten um mich, beinahe noch bevor die Frage fertig gestellt ist.
Am Ende des Kreuzverhöres lasse ich mich zufrieden in meinen Sessel fallen. Der Chef strahlt bis über beide Backen. Einer der Lektoren hat alles was ich gesagt habe, mitgeschrieben. Der Direktor steht wieder auf.
„Ich danke ihnen vielmals.“ Er breitet fröhlich seine Arme über dem Saal aus. „Dieser Vortrag alleine hätte gereicht um mich vollends zu überzeugen.“ Er setzt sich und beginnt in Unterlagen, die in bunten Mappen vor ihm liegen, zu kramen. Seine Stimme klingt jetzt nach typischem Verwalter, Organisator.
Er werde sich mit ein paar Grafikern und Textern unterhalten, sich um das Cover kümmern, die Werdeabteilung ankurbeln, den Druck vorbereiten. Er macht ein paar Notizen in seinen Unterlagen, dirigiert die Sekretäre mit ein paar hektischen Handbewegungen nach draußen. Anscheinend weiß jeder was er zu tun hat. Die Maschinerie läuft an.
Er schaut mich an.
„Ein muss ich ihnen noch sagen…“ dabei fuchtelt er mit dem erhobenen Zeigefinger herum, ich bin nicht sicher, ob es eine väterlich-fürsorgliche oder eine gebieterische Geste ist. „…Sie sollten überaus froh sein, dass Sie sich gleich an unseren Verlag gewendet haben. Es kommt nicht selten vor, dass solch geniale Skripte geklaut und dann bereits berühmten, aber gekauften Autoren zugeschoben werden.“ Er steht auf und kommt freundlich lächeln auf mich zu und streckt mir seine Hand entgegen.
„Lassen Sie mich bitte der Erste sein, der Ihnen zu Ihrem Erfolg gratulieren darf.“
Etwas optimistisch, sage ich, aber ok, danke.
„Wenn die letzen Formalitäten bezüglich Cover, Design und Layout geklärt sind, werden wir Sie noch einmal kontaktieren, denn dass finale ‚go’ werden Sie geben müssen.“
Der Fahrer von heute morgen steht freundlich lächelnd hinter mir.
Auf was hätte ich denn Lust zum Mittagessen?

Seit dem sind jetzt beinahe 6 Wochen vergangen. Ich sitze wie immer jeden Morgen beim Frühstück und blättere in der Zeitung.
Vielleicht melden sie sich heute endlich. Vielleicht. Endlich. Mein Buch. Mein Roman. Mein erster Roman. Der Weg in einen gelebten Traum. Freier Schriftsteller.
Mein Buch.

Ich schlage die Seite der Zeitung um.
Der Kaffee in meinem Mund verwandelt sich in Gallensaft. Die Druckerschwärze der Zeitung verätzt meine Haut. Irgendjemand donnert mir einen Hammer auf den Kopf.
Ich würge die Brühe in meinem Mund runter.
Ich lese noch einmal.
Bang. Der Hammerschlag. Bang.

Ich springe auf, reiße den Autoschlüssen vom Haken. Greife mir irgendeine Jack. Renne nach draußen. Ich fluche. Das können sie nicht tun. Diese Ratten.
Ich reiße die Autotür auf, fahre los.
Zur Buchhandlung.
Diese Arschlöcher. Diese charakterlosen Schweine.
Er hat es mir noch gesagt. Das war alles Heuchelei.
Ich werde euch alle töten, ihr Dreckfressen.
Das darf nicht wahr sein, dass darf einfach nicht wahr sein.
Eine rote Ampel. Scheiß egal.
Ich schreie und tobe, ich lache und kann es nicht glauben, ich bin verzweifelt und flehe in den Morgenhimmel.
Wut und Hass zerfetzen mich, die Ungläubigkeit hält mich zusammen. Die Entrüstung schlägt mich nieder, der Glaube an das Gute im Menschen hält mich oben.
Das können sie nicht tun.

Ich lande in der Parklücke, reiße die Tür auf, renne um das Gebäude herum, bleibe vor dem Plakat im Schaufenster stehen. Sinke auf die Knie. Kann es nicht glauben.

 

Alsoooooo... nachdem ich mit meiner ersten Geschichte ("ich habe sie doch geliebt") scheinbar nicht angekommen bin, hier mein nächster Versuch. Viel Spaß damit.

 

Hallo Kambite,

man wird ja wohl mal träumen dürfen. ;)
In der Schilderung der Atmosphäre, der Beobachtungen hat mir deine Geschichte gefallen, auch wenn mir einige Details aus dem Auto heraus gesehen zu genau sind.
In der Handlung ist das Ganze aber nicht mehr als ein Traum. Das meine ich nicht, weil schon eine Autorenkarriere unwahrscheinlich ist, sondern eher weil der Plot mir Vorstellungen glänzt, die mir vom aufwand her übertrieben erscheinen. Selbst wenn ein großer Verlag in ein Erstlingswerk ordentlich investiert, eine solche Sitzung ist definitiv zu groß. Der beschriebene Lektoratsaufwand wird auch von großen Verlagen nicht mehr betrieben und die Verträge oder Einigungen werden, wie fast die ganze Kommunikation eher über Mails erledigt. Der ganze Plot ist also eine Fantasie von Größe, die selbst bei bekannten Autoren heute so nicht mehr stattfindet.
Und leider krankt auch deine Pointe an dieser Unwahrscheinlichkeit. Warum sollte ein Verlag so viel Geld in die Anreise eines hoffnungsvollen Jungautors investieren, wenn sie das Buch dann unter einem bekannten Namen veröffentlichen? Nein, das hätten sie heimlich still und leise gemacht.
Inhaltlich erscheint mir deine Geschichte also nicht rund, auch wenn ich bis zum Schluss natürlich dachte, die Adresse des Verlages muss ich haben.

Ich habe da noch so ein Skript ... ;)

Bitte legen Sie Ihre Sicherheitsgurte an und stellen Sie das Rauchen ein.
Da Berlin schon Hauptstadt ist, wird es auch nur Nichtraucherflüge geben.
Der Typ ist vielleicht 30 Jahre alt
dreißig
Der BMW steht über eine Minute, bis eine Lücke, die groß genug scheint, zwischen zwei Autos herannaht.
die Lücke naht heran? Na ...
Wegen mir.
Ja ja, die Umgangssprache und der Genitiv ;)
Die Blechmassen schieben sich wie eine zähe Masse Gelee auf der einen Seite in die Stadt,
Masse, Masse: Wie wäre es mit Blechlawine?
Eine Litfasssäule
Diese Bezeichnung geht auf Ernst Litfaß (1816 -1876) zurück, der diese Werbesäulenerfunden hat. Entsprechend darf, egal, was welches Korrekturprogramm auch immer sagt, das ß hier nicht durch ss ersetzt werden.
Die Stadt wir zu einem lebenden Wesen
wird
ich will dass mein Gesicht in der Masse der unzähligen anderen Gesichter verschwimmt.
will, dass
Ich habe das Gefühl dass sich der Gurt um meine Kehle wickelt
Gefühl, dass
Er reicht mir einen kleinen Ausweis, mit Bild, Name, einer Nummer und den Worten geladener Gast.
Woher das Bild?
und meterhohe Frangewächse sind um einen Brunnen verteilt.
Vielleicht Farngewächse?
Was soll das heißen, sie sind noch nicht fertig? Wir wollen in einer Woche mit dem Druck beginnen.
ja, ein hübscher Satz, passt so richtig in die Vorstellung, aber die Druckanlaufzeiten sind wesentlich länger, selbst, wenn der Anruf gerade dem Lektor oder dem Grafiker galt ;)
aber ich versichere Ihnen, dass Sie alles sein können, nur nicht nervös. Schließlich haben wir Sie eingeladen, und wir wollen etwas von Ihnen, nicht?“
- nicht nervös sein zu können ist in der Verneinung so etwas, wie "wenn sie nervös sind, riskieren sie, dass es fehlschlägt" und widerspricht damit der zweiten Satzaussage, bei der ich das "nicht" am ende streichen würde.
Alles, was diese grobe Vorauswahl übersteht, vielleicht ein Text pro Monat, landet bei einem der Lektoren.
Und dann leistet sich der Verlag gleich mehrere davon? Die müssen ja chronisch unterbeschäftigt sein. ;)
Ich bin überrascht, als ich feststelle, dass mich jeder der Zuhörer mit der gleichen Aufmerksamkeit ansieht wie als ich gerade begonnen hatte
"wie zu Beginn" klänge eleganter ;)
die Werdeabteilung ankurbeln,
auch wenn "werdeabteilung" nicht ganz unpassend ist, meinst du doch sicher "Werbeabteilung", oder?
„Ein muss ich ihnen noch sagen…“
Eins muss ich Ihnen noch sagen[ ]...
„…Sie sollten überaus froh sein
...[ ]Sie (Leerzeichen)
Er steht auf und kommt freundlich lächeln auf mich zu
lächelnd

Lieben Gruß, sim

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom