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Ich werde dich kriegen
„Ich werde dich kriegen. Hörst du, was ich sage, Susan? Ich krieg dich. Nichts und niemand kann mich daran hindern. Niemand. Es gibt kein Entkommen. Du bist mein. MEIN!“
Susan zitterte und unterdrückte die Tränen. Sie starrte aus dem dunklen Wohnzimmer in die regenverhangene Nacht, ihr war kalt, wie selten zuvor. Immer öfter kamen ihr die Worte von ihm in den Sinn, und immer öfter kämpfte sie um ihre Fassung und den mühsam errungenen Seelenfrieden.
So auch heute.
Denn tagtäglich gewann sein Vermächtnis an Kraft und Intensität, da die unaufhaltsame Entlassung näher rückte. Anfänglich noch verdrängt und in die ferne Zukunft verbannt, hatte die Zeit ihre Arbeit verrichtet und zwanzig Jahre zu einem einzigen verbleibenden Tag schrumpfen lassen.
Nur ein Tag.
Vierundzwanzig Stunden.
Susans Magen krampfte, leises Würgen platzte über ihre Lippen. Bilder aus verbotenen Tagen spülten hoch und ließen sich nicht verdrängen, zeigten Szenen des Leidens und der ertragenen Qual.
Was hatte er ihr alles angetan. Wie hatte er sie gepeinigt. So jung war sie noch gewesen, so unschuldig, so unendlich naiv und unbefleckt. Keine Fünfzehn, voller Tatendrang, berstend vor Lebensenergie, als sie ihn kennen gelernt hatte, ihn, den Teufel in Person.
Alle hatten sie vor ihm gewarnt. Wirklich alle. Doch sie wollte es nicht glauben. Wusste es besser. Er war die erste große Liebe.
Und würde auch die letzte bleiben.
Wie sollte sie je wieder vertrauen, wie sollte sie je wieder lieben.
Wie unzählige Male zuvor haderte sie an dem Umstand des Überlebens, warum hatte man sie nicht einfach sterben lassen, wie alle anderen Mädchen vor ihr. Lächerliche fünf Minuten hätte es länger dauern müssen, dann wäre sie ihrem sinnlos gewordenen Sein entkommen und nie mehr von derartiger Angst erdrückt worden.
´Ich werde dich kriegen.´
Das Deckenlicht flammte an und nahm den Raum mit Helligkeit in Beschlag. Susan zuckte zusammen und zog die Schultern ein. Unterwürfig in der Haltung, gehorchte sie, heraufbeschworen durch die unseligen Gedanken, längst der Vergangenheit angehörigen, aber tief eingebrannten Verhaltensmuster. Die Augenlider fest aufeinander gepresst, die Lippen bebten.
´Warst du auch artig, meine kleine Hure?´
„Susan!“ Peters Stimme erreichte sie und zerriss die Schleier der Erinnerung. „Susan, verdammt!“ Mit wenigen, schnellen Schritten war er hinter ihr und drehte sie an der Schulter herum. „Susan, sieh mich an!“
Tränen liefen über ihre Wangen, die Augen waren leere Zeugnisse der Hoffnungslosigkeit. Wenn auch unzählige psychiatrische Sitzungen damit beschäftigt gewesen waren, das Vergangene zu verarbeiten und ihr Zuversicht und Lebenskraft einzuimpfen, so war ihr Wille doch zumindest stark angeknackst und das Selbstvertrauen so gut wie nicht vorhanden. „Er wird mich finden.“
Peter drückte sie wortlos an seine Brust, er wusste nicht, was er sagen sollte. Es wiederholte sich unaufhörlich.
„Er wird mich finden“, flüsterte sie, und wenn es etwas gab, worin sie Sicherheit ausstrahlte, dann war es die Überzeugung in diesem Satz.
Peter strich über ihr Haar und vermeinte die von ihr verströmte Angst körperlich zu fühlen, freischwebende Energie, die sich wie Tau an die Oberfläche setzte. „Ich bin bei dir.“
„Er hat es mir versprochen, als sie ihn mitgenommen haben.“
„Ich weiß.“
„Das waren seine letzten Worte.“
„Ich weiß, Susan.“
„Er wird mich holen.“
Peter biss auf seine Unterlippe, die gleichen Sätze seit Wochen in abwechselnder Reihenfolge. „Susan.“ Er fasste sie sanft an beiden Schultern und schob sie auf Armlänge von sich. Der versuchte Blickkontakt blieb aus, sie senkte den Kopf und schlug die Augen nieder.
„Sieh mich an.“
Sie presste die Lippen aufeinander, ein leises Schluchzen war zu hören.
„Sieh mich an.“
Sie starrte auf ihre Fußspitzen, Tränen tropften zu Boden.
Vorsichtig ergriff er ihr Kinn und führte den Kopf nach oben.
Nur langsam und widerwillig hob sie den Blick.
„Ich bin bei dir, Susan. Dieses Mal bist du nicht alleine.“
Sie schien seine Worte nicht zu verstehen. „Er wird kommen.“ Verzweiflung huschte über ihr Gesicht.
„Diesmal lässt du dir helfen, und ich werde es nicht zulassen, dass er dir nochmals weh tut.“ Peter war Susans Bruder, und die einzige Konstante in dieser schweren Zeit.
„Er wird kommen.“
Peter schüttelte langsam den Kopf. „Du bist umgezogen.“
„Er wird mich finden.“
„Du hast deinen Namen gewechselt.“
„Bald bin ich sein.“
„Dir wird nichts passieren.“
„Er weiß, wo ich wohne.“ Ihre Stimme wurde lauter.
Peter schüttelte den Kopf.
„Er weiß, wo ich wohne.“ Lauter.
„Weiß er nicht.“
Noch lauter. „Er weiß, wo ich wohne.“
„Susan, beruhige dich.“
Sie schrie. „Er weiß, wo ich wohne.“
„Susan!“
„Er weiß, wo ich wohne!“
Peter war überfordert und schlug ihr ins Gesicht, um die Hysterie zu brechen.
Sie prallte einen Schritt zurück und ihr Blick klärte sich.
„Es tut mir leid“, sagte Peter mit schwerem Herzen und seine ausgestreckten Arme luden sie ein.
Ein hoffnungsloses Lächeln zog über ihr Gesicht. „Er weiß, wo ich wohne.“
Peter atmete tief ein. „Woher sollte er das wissen, Susan?“
„Er weiß es.“
„Woher, Susan? Er kann es nicht wissen.“
„Doch.“
„Wie sollte er?“
„Es weiß es von mir“, flüsterte sie.
Peter erstarrte, Eiswasser lief durch seine Adern.
Sie nickte. „Ich habe ihn angerufen!“