Was ist neu

Identitätsschwund

Mitglied
Beitritt
10.11.2019
Beiträge
2
Anmerkungen zum Text

Ich habe mich bemüht, das Gebäude so mystisch und unabhängig zu beschreiben wie möglich. Die "Zweite Welt" kann als eine Art eigenständiges Konstrukt gesehen werden, das vollständig ohne menschliches Zutun aus sich selbst heraus agiert.

Identitätsschwund

Ein schmächtiger, kränklich wirkender, junger Mann kam mir entgegen, als ich die breiten Steintreppen der "Zweiten Welt" emporstieg. Er würdigte mich keines Blickes, seine starren, glasigen Augen blieben am Boden haften. Nervös ließ er seinen Schlüsselbund von einer Hand in die andere gleiten.
Als ich die schwere Holztür aufzog, schwappte mir ein Schwall von schwülem Parfüm entgegen. Der Gang, den ich betrat, war mit dunklen Perserteppichen ausgelegt, die sich hier und dort überlappten und kleine Bodenwellen bildeten. Es schien, als müssten sie in diesem ohnehin schon engen Gang noch fester zusammenhalten. Die schmalen Fenster wurden von seidenen Tüchern verdunkelt, in die allerlei Perlen und Pailletten eingenäht waren. Auch von der Decke hingen Tücher. Es klimperte, als ich mich durch den engen Flur bewegte. Die Luft war drückend und schwül, der stechende Parfümgeruch war beinahe nicht auszuhalten.
Camilla kam mir entgegen. Sie trug klobige, hochgeschnürte Stiefel mit Plateauabsätzen. Ihre besorgniserregend mageren Beine wurden nur von einer zerlumpten Netzstrumpfhose bedeckt und ihre übergroße, von Brandlöchern übersäte, weiße Windjacke ließ sie noch schmächtiger aussehen, als sie ohnehin schon war. Die schwarzen Locken fielen in ihr bleiches Gesicht und schmiegten sich in die Kerben ihrer eingefallenen Wangen. Sie war das Aschenputtel ihres eigenen Berliner Vorstadtalptraums. Auch sie blickte nicht auf, sie grüßte auch nicht. Ich nahm ihr das nicht übel, fragte mich jedoch, wovor sie sich versteckte. Wahrscheinlich vor sich selbst. Vor der bösen Stiefmutter, die sie von innen heraus verfolgte. Die keinen schamvollen Augenblick ungesehen vorüber gehen ließ. Tadelnd, mit einem erhobenen Zeigefinger dabei zusah, wie Camilla ihre Jugend damit verbachte, ihre Beine für zwielichtige, verkommene Männer zu spreizen. "Wie unziemlich". hörte man sie schimpfen. Trotz allem sah sie tatenlos dabei zu. Ihre Handlungsfähigkeit hatte Camilla mit allerlei Opiaten betäubt. Aus Angst, jemand könnte ihre Unterarme sehen, zog sie die Ärmel ihrer Jacke weit hinunter und bildete Fäuste um die Enden.
Dicht hinter ihr folgte ein schmieriger Mann. Die wenigen fettigen Haare klebten an seiner Stirn. Er hatte größere Mühe sich an mir vorbei zu quetschen als Camilla und als er mir ihm Vorübergehen zunickte, stach mir ein säuerlicher Schweißgeruch in die Nase. Seine Kleidung sollte wohl schick aussehen, wirkte jedoch billig. Unter dem halb aufgeknöpften Hemd lugten ein paar wirre Brusthaare hervor. Draußen – in der echten Welt – war er bestimmt ein drittklassiger Geschäftsmann gewesen. Eine Marionette irgendeines Großkonzerns. Wahrscheinlich Familienvater, Besitzer eines Minivans, Mitglied einer, nach außen hin, friedlich wirkenden Ehe, deren Harmonie nur gelegentlich von jähzornigen Wutanfällen gestört wurde. Er sah aus wie ein Stefan oder ein Christian. Mit ein bisschen Fantasie und gutem Willen hätte er auch ein Paul sein können. Doch in diesem engen, rauchigen Flur war er ein Niemand, ein Schatten, eine leere Existenz. Bereit einen Preis zu zahlen, um für einen Moment aus dem Alltag in ein abgründiges Doppelleben abzutauchen. Quasi bereit, einen Preis zu zahlen, um kurzweilige Befriedigung zu erfahren. Sich jedoch dessen bewusst, dass er an diesem düsteren Ort niemals tiefgreifende Befriedigung erlangen könne.

Ich kam nicht gerne hier her. Zwar war die „Zweite Welt“ mit ihren Himmelbetten und den roten Laken um einiges komfortabler als der Babystrich an der Kurfürstenstraße, aber die Freier waren mindestens genauso ekelerregend.
Abgesehen vom schmierigen Klientel war das Bordell sehr angesehen im Rotlichtmilieu der Stadt. Seit den Achtzigerjahren hatte es unter dem Namen „Die Zweite Welt“ ständig an Bekanntheit gewonnen. Aus meiner Sicht hätte man diesen Ort auf keinen treffenderen Namen taufen können. Die schwere Holztür am Ende der mächtigen Steintreppe markierte das Tor zu einer Parallelwelt. Die "Zweite Welt" verschluckte ihre Besucher mitsamt ihrer Identität. Egal, wie angesehen du draußen warst, hier drin warst du ein Niemand. Zumindest niemand für den es sich lohnen würde den Blick zu heben.

 

Hallo @Milu,

herzlich willkommen bei uns!

In deinem Profil schreibst du:

Wenn ich schreibe, dann ist es als würden Dämme in mir brechen. Alle Gedanken sprudeln aus mir heraus und plätschern hinab.
Das ist super. Bei mir ist es eher ein Krampf etwas aufs Papier zu bringen, ich muss um jedes Wort kämpfen, weil ich so verkopft bin.
Allerdings ist ja dann die Arbeit noch nicht getan. Denn erst wenn alles aus dem Kopf aufs Papier geflossen ist, beginnt das Aufräumen, sortieren und ganz wichtig: kürzen.

Man kann ja von Adjektiven halten was man will (ich mag sie nicht), aber du solltest dringend einige aus dem Text schmeissen. Schau mal was da in dem ersten Absatz los ist!

Ein schmächtiger, kränklich wirkender, junger Mann kam mir entgegen, als ich die breiten Steintreppen der "Zweiten Welt" emporstieg. Er würdigte mich keines Blickes, seine starren, glasigen Augen blieben am Boden haften. Nervös ließ er seinen Schlüsselbund von einer Hand in die andere gleiten.
Als ich die schwere Holztür aufzog, schwappte mir ein Schwall von schwülem Parfüm entgegen. Der Gang, den ich betrat, war mit dunklen Perserteppichen ausgelegt, die sich hier und dort überlappten und kleine Bodenwellen bildeten. Es schien, als müssten sie in diesem ohnehin schon engen Gang noch fester zusammenhalten. Die schmalen Fenster wurden von seidenen Tüchern verdunkelt, in die allerlei Perlen und Pailletten eingenäht waren. Auch von der Decke hingen Tücher. Es klimperte, als ich mich durch den engen Flur bewegte. Die Luft war drückend und schwül, der stechende Parfümgeruch war beinahe nicht auszuhalten.

Adjektive können nützlich sein. In dieser Menge sind sie allerdings eher störend, sie plustern den Text auf, ohne ihn zu stärken. Überlege dir immer gut, ob du ein Adjektiv wirklich brauchst, oder ob du es anders beschreiben kannst oder einfach weglässt.

Das Problem ist, dass die Adjektive meistens ein schwammiges Bild erzeugen. Wie sieht ein schmächtiger Kerl aus? Warum sieht er kränklich aus? Was heißt jung? Woran könnte der Leser erkennen, dass jemand nervös ist, ohne dass du es direkt sagst?
Im Internet findest du ganz viel zu dem Thema, was man am Ende daraus macht, ist jedem selbst überlassen. Ich empfehle dir auf jeden Fall, dich damit auseinander zu setzen.

Deine Geschichte ist leider keine, nur ein Ausschnitt. Du beschreibst, aber da passiert ja kaum etwas. Ein Ende kann ich leider auch nicht entdecken. Vielleicht mast du da noch mal dran basteln?

Liebe Grüße und viele Spaß hier,
Nichtgeburtstagskind

 

Liebe @Nichtgeburtstagskind,

danke für deine ehrliche Kritik!

Tatsächlich verzichte ich auch gerne und oft auf überflüssige Adjektive und bemühe mich, klare Texte zu verfassen, die für sich selbst stehen. Daher finde ich deine Kritik auch voll und ganz nachvollziehbar.

In diesem Text wollte ich jedoch eine Atmosphäre schaffen, die überladen, ja, vielleicht drückend auf den Leser wirkt. Auch die Beschreibung des Flurs sollte zum Einen die Enge, zum Anderen die vielen Sinneseindrücke widerspiegeln, die man oft auch in Großstädten wiederfindet.

Natürlich muss ich an meinen Texten noch dahingehend arbeiten, dass sie Hand und Fuß bekommen. Eine wirkliche Handlung gibt es nicht, das stimme ich dir zu. Jedoch muss ich ehrlicherweise sagen, dass es eher schwierig ist, knappe Texte im Sekundenstil zu verfassen, die gleichzeitig noch eine starke Handlung beinhalten.

Danke für deine Zeit!

Halt´ die Ohren steif,
Milu

 

Finde deinen Text sehr schön beschrieben. Im ersten Absatz dachte ich sogar noch an eine SciFi Alternativwelt à la Elysium, so atmosphärisch kannst du schreiben. So oder so. Hätte jedenfalls weitergelesen, falls die Story noch nicht zu ende gewesen wäre.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hola @Milu,

der Titel ist es nicht, der mich neugierig macht – meine Neugier wird von NGKs Kommentar aktiviert.

Sollten noch mehr Leser nicht viel mit dem Titel anfangen können, wäre wohl ein anderer anzuraten. Auf mich wirkt ‚Identitätsschwund’ abschreckend kalt und wissenschaftlich. Außerdem verliert mMn ein Puffgänger nicht seine Identität, denn er bleibt stets der selbe inner- oder außerhalb der Etablissements. Es geht mehr um Würde, aber auch das ist Ansichtssache.
Mir ist die message Deines Textes zu kleinbürgerlich und moralinsauer, aber selbstverständlich kannst Du schreiben, was Du willst. In meiner KG 'Puffbesuch' hab ich ein anderes Bild vom Millieu gezeichnet, auch subjektiv - vielleicht interessiert's Dich.

Neben einer Leseprobe in Deinem Profil schreibst Du unter anderem:

Wenn ich schreibe, dann kann ich mich treiben lassen.

Das ist toll, allerdings hat auch das zwei Seiten: Toll wäre es fürs Tagebuch, für Freunde, für vieles, jedoch nicht fürs schnelle Veröffentlichen. Da muss man die Weiche richtig stellen, denn bevor gepostet wird, muss der mit Leichtigkeit geschriebene Text aufbereitet werden. Das geht nicht mit links, das ist aufwendiger.

Im Forum gibt’s Hilfestellung für jedes Problem, hier kommst Du bestimmt gut voran – ich jedenfalls sage ‚Willkommen und eine gute Zeit bei uns!’.

Deinen ersten Text hier hast Du richtigerweise bei Flash Fiction eingestellt – eine Momentaufnahme ist keine Kurzgeschichte (für die liegt die Latte etwas höher, aber nach einiger Zeit weißt Du das alles auch).

Die kleine Debatte mit NGK wegen der Adjektive zeigt, wie subjektiv ein Text empfunden werden kann, in diesem Fall würde ich Euch beiden gleichermaßen recht geben.

Milu: schrieb:
Jedoch muss ich ehrlicherweise sagen, dass es eher schwierig ist, knappe Texte im Sekundenstil zu verfassen, die gleichzeitig noch eine starke Handlung beinhalten.

Das hast Du etwas verbogen dargestellt: Die Texte sollen nicht auf ‚knapp’ getrimmt sein, manches braucht mehr Raum und Zeit, um entwickelt, dargestellt und/oder erzählt zu werden.
Nur redundant sollte ein Text nicht sein.
‚Sekundenstil’ ist ebenfalls nicht angesagt, es besteht keine Zeitnot.
Auch eine ‚starke Handlung’ ist kein Muss. Zum Beispiel könntest Du unter ‚Romantik’ einen ganz zarten Text mit schönen Formulierungen und vielleicht sogar einem offenen Ende einstellen – und wir würden Dich hochleben lassen!

Es freut mich auf jeden Fall, dass Du bei uns Mitglied geworden bist.
José

PS: Ich fand Deinen Text gut geschrieben. Fast fehlerfrei, das ermöglicht angenehmes Lesen. Wie dann aber der Schmierige auftaucht, rutscht der Text ins Banale. Dieses ‚Kundenporträt’ ist schlimmstes Klischee, da hättest Du etwas Originelleres bringen könnenmüssen! Und dann noch die wissenschaftliche Analyse:

Quasi bereit, einen Preis zu zahlen, um kurzweilige Befriedigung zu erfahren.
Das ist das Allerneuste! Für Deinen nächsten Text: Leser sind keine Vollpfosten :sconf: .

Doch sicherheitshalber noch mal, der reine Extrakt der Botschaft:

Sich jedoch dessen bewusst, dass er an diesem düsteren Ort niemals tiefgreifende Befriedigung erlangen könne.
Was für eine raumgreifende Erkenntnis!

Milu: schrieb:
Zumindest niemand K für den es sich lohnen würde K den Blick zu heben.

Zu guter Letzt:

Ihre Handlungsfähigkeit hatte Camilla mit allerlei Opiaten betäubt.
Hier stimmt was nicht. Statt ihre Handlungsfähigkeit (würde ein gefälligeres Wort wählen) betäubt Camilla wohl eher ihre Psyche, oder?

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom