Ihr Leben
Sie trat vor den Spiegel und blickte einige Sekunden lang völlig reglos hinein.
Sie versuchte, darüber nachzudenken, was sie sah, doch musste sie schnell
feststellen, dass sie es nicht konnte. Dass es sinnlos war.
Sie spürte ihren hektischen Herzschlag und legte eine Hand auf ihre Brust. Durch
die dünne Bluse fühlte es sich beinah so an, als hielte sie ihr eigenes Herz in den
Händen. Langsam hob sie auch ihre andere Hand und öffnete damit die Knöpfe
ihrer Bluse. Sie atmete einmal tief durch und zog sie dann aus.
Der weiße BH hatte keinerlei Schwierigkeiten, die zarten Rundungen ihrer
winzigen Brüste zu halten. Sie glichen kleinen prallen Äpfeln. Solchen, wie sie
sie als Kind immer so gerne gegessen hatte. Sie stahl sie meistens aus
Nachbars Garten und hielt sie dann oft noch sehr lange in den Händen, bevor sie
zum ersten Mal hinein biss. Sie fühlte ihre feste pralle Form und die Glätte ihrer
glänzenden, roten Schale unter den Fingern. Nur um gleich darauf ihren süßsäuerlich
schmeckenden Lebenssaft auf dem Gaumen zergehen zu lassen und
sie schließlich gierig zu verschlingen..
Tommy hatte diese Brüste geliebt. Clara vermutete, dass er sie von allen wirklich
am allermeisten geliebt hatte, wenn auch seine Stimme keinesfalls die einzige
war, die zu später Stunde noch in ihr Ohr geflüstert hatte. Das trunkene
Liebesgeflüster von Männern, die genau wussten, was eine Frau wie sie brauchte
und die ständig versprachen, darauf zu achten, dass sie das auch wirklich bekam.
Ja, Tommy war es, der am meisten auf ihre Brüste gab. Seine Hände waren am
besten mit ihren feinen, verletzlichen Konturen vertraut gewesen. Seine Zunge
war es, die ihre Form nass, heiß und voller Eifer nachzugehen niemals müde
wurde.
Tommy. Wenn sie jetzt an ihn dachte, war es, als hätte er nie wirklich existiert.
Als wäre er ihr nie näher gewesen, als in ihren Träumen. Und geträumt hatte sie
wahrlich eine ganze Menge in ihrem Leben.
Sie konnte sich nur noch vage an den alten weißen Volkswagen erinnern, auf
dessen feuchten Rücksitzpolstern sie ihre Jungfräulichkeit verlor. Sie war
fünfzehn und ihre Brüste waren schon damals dieselben. Tommy hielt sie mit
beiden Händen umklammert, während er in sie eindrang und seine zu langen
Fingernägel rissen tiefe Wunden in das zarte Fleisch um ihre Höfe. O ja, am
besten erinnerte sie sich noch immer an das feuchte Polster. Feucht von ihrem
Lustschweiß. Feucht von den Säften, die ihre Liebe in dieser Nacht besiegelten.
Aber Tommy war sehr eifersüchtig.
Sie waren noch keine drei Monate zusammen, als er eines Tages wie aus
heiterem Himmel behauptete, er habe sie mit Bernd, einem Jungen aus der
Nachbarschaft gesehen. Eine Lüge.
Doch Tommy rastete völlig aus. Und in seiner Wut verletzte er genau das, was er
am meisten liebte.
Claras Finger zitterten, als sie vorsichtig den Riemen ihres Büstenhalters
öffnete. Sie zog ihn ebenfalls aus und betrachtete nun eine hässliche weiße
Narbe, die sich von ihrer rechten Brustwarze fast bis unter ihre mit feinem
blonden Haar bewachsene Achselhöhle erstreckte. Sie glitt mit der Fingerkuppe
darüber.
Tommy. Sie hatte ihn wirklich geliebt.
Eine einzige Träne lief über ihre Wange. Sie fing sie auf und wischte sie an der
weichen Haut der linken Brust ab.
Ein tiefer Schluchzer entrang sich ihrer Kehle. Sie fasste sich ganz automatisch
an den Hals. Das ließ sie aus irgend einem unersichtlichen Grunde sofort an
ihren Vater denken. Sie besaß sehr große hellblaue Augen. Die hatten ihrem
Vater schon gefallen, als sie noch viel zu jung war, um auch nur den Ansatz eines Busens zu haben. Er sagte
immer, ihre Augen seien ihr wahres Gesicht und
manchmal strich er mit einem seiner großen , schwieligen Finger so sanft er nur
konnte über ihre Augenbrauen. Während seine andere Hand sich allerdings an
einer anderen Stelle ihres Körpers befand. An einer Stelle zwischen ihren
Beinen, wo er sie oft kitzelte, was sie zum Lachen brachte und wo er ihr noch
öfter wehtat, was sie zum Weinen brachte. Und doch hatte er währenddessen
stets nur davon gesprochen, wie sehr ihm ihre Augen gefielen. Clara hatte schon
viele Male überlegt, ob das wohl auch der Grund dafür war, weshalb er sie
ständig auf die Augen geschlagen hatte, wenn sie einmal unartig gewesen war
(was in den Augen ihres Vaters äußerst häufig vorkam).
Ja, ihr Vater. Er hatte sie geliebt und sie hatte ihn geliebt. Aber die meiste Zeit
hatte er ihr eigentlich wehgetan, während seine wulstigen, oftmals
Herpes befallenen Lippen die Schönheit ihrer Augen anpriesen.
Als sie zehn war, fiel er von einem Kran und war einfach tot.
Clara hatte einen Tag lang geweint und einen Tag lang gelacht. Sie fand
irgendwie, das wäre passend, nachdem, was er ihr Tag ein, Tag aus angetan
hatte.
Nun, soviel zu ihren Augen. Im Augenblick waren sie größer als je zuvor und
furchtbar blutunterlaufen, was wahrscheinlich daran lag, dass sie schon seit
Tagen kaum mehr ein Auge zugetan hatte.
Ihre Lippen hingegen waren schon von jeher alles andere als ihr großer Stolz
gewesen. Die waren ungewöhnlich schmal und blass und außerdem ein wenig
schief. Aber nun waren sie ohnehin völlig entstellt und nur mit einer dicken Schicht
Lippenstift wusste Clara sich mehr Abhilfe zu verschaffen seit ihrem achtzehnten
Lebensjahr.
Als sie siebzehn war, hatte sie einen kleinen silbernen Ring durch die Unterlippe
getragen, so wie das damals in ihren Kreisen eben üblich war.
Und eines schönen Tages war einfach irgendein Typ dahergekommen, dem ihre
Visage nicht passte, und der hatte den halbherzigen Versuch unternommen, sie
durch den Raum zu schleudern, indem er den Zeigefinger durch eben jenen Ring
schob, womit er ihr die Unterlippe um mehr als zwei Zentimeter einriss. Sie wurde
mit drei Stichen genäht. Und das an der Lippe, großer Gott!
Ja, irgendein Typ. Nicht weiter wichtig. Den Namen hatte sie vergessen, sofern
sie ihn überhaupt je gewusst hatte natürlich.
Clara biss sich in die Lippe. Aufgrund des dichten alten Narbengewebes
verspürte sie so gut wie keinen Schmerz.
Jetzt liefen mehr Tränen über ihr Gesicht. Sie schniefte und wurde sich dabei
eines dumpfen Schmerzes in ihren Nasenlöchern Gewahr. Ihre
Nasenscheidewände waren ziemlich kaputt. Sie war kokainabhängig, solange
sie denken konnte, glaubte aber, sich noch daran zu erinnern, dass ihre Mutter es
war, die es ihr irgendwann einmal beigebracht hatte.
Das lenkte Claras Aufmerksamkeit jetzt auf ihre Nase, die kurz, spitz und krumm
war. Man hatte sie ihr insgesamt so an die fünf- sechsmal gebrochen und dafür
sah sie eigentlich sogar noch ganz gut aus.
Clara schwankte etwas vor dem Spiegel hin und her, dabei fielen ihr einige
fettige blonde Haarsträhnen in die Augen. Sie blies sie weg. Hatte es nicht
Männer gegeben, mit denen sie für Geld schlief, und die behaupteten, sie hätte
sehr schönes Haar? Sogar wunderschönes?
Ja, ein paar waren gewiss dabei gewesen. In erster Linie älterer „Herren“ mit
fürchterlich schwabbeligen Bierbäuchen und Haaren auf dem Arsch, die darauf
bestanden, „ihre Titten zu drücken“ und „ihre Möse zu grabschen“. Einer von
ihnen fand es „ganz besonders geil“, mit der gelblichen Zunge den Linien der
Narbe auf ihrer Brust zu folgen. Sie ließ ihn gewähren, weil es ihr im Grunde
scheißegal war, wo sie ihre Zungen am liebsten hatten. Nur alles, was mit analem Verkehr zu tun hatte, schreckte sie ab und ließ ihren Magen jedes Mal zu
einem schmerzlich verkrümmten Klumpen werden. Da ließ sie sich auch auf
keine Kompromisse ein, obgleich sie das Geld dringend brauchte. Das brauchte
sie immer.
Plötzlich schüttelte sie heftig den Kopf, als erwachte sie aus einem
unangenehmen Traum.
„Clara, wer bist du, was willst du hier und was hast du getan?!“ sagte sie mit
heiserer Stimme in den Spiegel. Sie stützte die Hände auf den Rand des
sauberen Porzellanbeckens und betrachtete das Blut unter ihren Fingernägeln.
Sein Blut.
Ihre winzigen Brüste schwebten über dem Becken und wieder musste sie an die
leckeren Äpfel aus ihrer viel zu kurzen Kindheit denken und daran, dass sie auf
einmal einen riesigen Kohldampf hatte.
Die Neonröhren an der Decke des Bades tauchten ihr Gesicht in ein äußerst
unvorteilhaftes Licht, in dem sie noch viel blasser und magerer erschien, als sie
es ohnehin bereits war.
Egal, Clara, das ist doch jetzt egal!
Auf dem Rand des Beckens lag noch immer der Revolver des Jungen. Den hatte
er gestern Abend bei sich gehabt und dann auf dem Nachtkästchen neben dem
Bett abgelegt, um beide Hände für sie freizuhaben. Denn die eine brauchte er,
um ihr eine ordentliche Ohrfeige zu versetzen, während er ihr mit der anderen die
Kleider vom Leib riss.
Er war gerade mal achtzehn Jahre alt, höchstens 1, 70 m groß und das, was ihr
Vater eine halbe Portion genannt hätte. Deshalb hätte Clara ihm auch nie und
nimmer eine solche Kraft zugetraut. Doch schon nach der ersten Ohrfeige war
sie beinah besinnungslos gewesen und völlig unfähig, auch nur den leisesten
Schrei über die Lippen zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits
hier oben in dem schäbigen kleinen Motelzimmer gewesen und sie hatte mehr
als nur einen Brandy intus gehabt. Dem Jungen, sie glaubte sich zu erinnern, dass
er sich als Toni vorgestellt hatte, ging es da kaum anders. „Du bist doch ´ne
Nutte, oder?“ hatte er heiser in ihr Ohr gestöhnt, und sein Atem stank furchtbar
nach Bier und Knoblauch. „Du bist nichts weiter als ´ne miese kleine Nutte und
deshalb werd ich dich jetzt ficken, Baby! Ich fick dir die Seele aus dem Leib, so
dass du mich nie vergessen und immer an mich denken wirst, wenn du wieder
mal mit einem deiner impotenten, verklemmten Freier im Bett liegst!“
Daraufhin hatte sie sogar noch versucht, ihm zu erklären, dass diese Zeiten für
sie nun ein für allemal vorbei waren. Dass es also keine Freier mehr geben
würde. Weder ihn, noch irgendeinen anderen. Zwecklos!
Sie war nicht einmal dazu gekommen, die ersten beiden Worte ganz
auszusprechen, da hatte er sie auch schon mit Hilfe einer zweiten Ohrfeige aufs
Bett befördert und ihr die restlichen Kleider vom Leib gerissen. Clara hatte mit
aller Kraft versucht, sich zu wehren. Aber er war so stark, so furchtbar stark. Er
hielt ihre Handgelenke fest und drang in sie ein. Immer wieder. Sie schrie, doch
seine Fäuste brachten sie mit der Zeit völlig zum Schweigen. Clara beschloss, es
über sich ergehen zu lassen. Sie redete sich ein, dass es so schlimm ja auch
wieder nicht werden konnte. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass sie
Geschlechtsverkehr mit einem Typen hatte, den sie auf den Tod nicht ausstehen
konnte. Klar, sie würde diesmal wohl kaum dafür bezahlt werden, aber es war,
wie gesagt, eine Sache, die eine Frau wie sie durchstehen konnte. Ganz
bestimmt.
Schließlich hielt er inne. Doch er blieb noch immer stöhnend auf ihr liegen und
sein schmieriger Schweiß tropfte ihr ins Gesicht. Clara dachte, dass es nun
sicher gleich vorbei war. Da richtete Toni sich auch schon auf, doch statt von ihr
abzulassen, packte er sie lediglich an den Schultern und drehte sie auf den Bauch.
O nein! Lieber Gott, bitte nicht! Bitte lass nicht zu, dass er es von hinten tut! Bitte
nicht! Ich würde es nicht ertragen!
Gott schien das nicht im Geringsten zu interessieren, denn schon spürte sie
Tonis pochendes hartes Glied, das sich an ihrer linken Pobacke rieb. „Nein!“
schrie sie aus letzter Kraft und ihr Speichel tränkte das zerknitterte Kissen. „Nein
bitte! Bitte tu das nicht! Bitte nicht!“
„Halt´s Maul, du blöde Fotze! Das ist es doch, was dir gefällt! Gib’s ruhig zu! Du
willst es doch gar nicht anders!“
Clara tat wirklich, was sie nur konnte, um es zu verhindern, doch da war es auch
schon passiert. Und eine Welle aus rotem Schmerz explodierte in ihrem Gehirn.
Ihre Schreie gingen unter in seinem Stöhnen.
Es schienen Stunden zu vergehen, bis er sich endlich zum allerletzten Mal aus ihr
zurückzog. Er rollte sich einfach schwerfällig von ihr hinunter und schlief sofort
neben ihr ein. Seine nackte Haut war schweißüberströmt. Sein Glied lag schlaf
wie eine schlafende Schlange zwischen seinen Beinen. Es war noch nicht
einmal so besonders groß. Clara setzte sich im Bett auf, schlang die Arme um
die Knie und brach in Tränen aus. Sie dachte, dass sie jetzt schleunigst von hier
verschwinden sollte, bevor er wieder aufwachte und vielleicht auf die verrückte
Idee kam, sie ein zweites Mal zu vergewaltigen. Als kleine Einstimmung zum
Frühstück sozusagen. Also stand sie auf, bemühte sich, ihre zitternden Glieder
unter Kontrolle zu bekommen und zog sich an. Ihr Slip war völlig zerrissen. Sie
kümmerte sich nicht darum und schlüpfte einfach so in ihre Jeans. Das war der
Augenblick, in dem eine harte, vollkommen unbekannte Stimme sich in ihrem
Kopf zu Wort meldete.
Du hast schon wieder zugelassen, dass ein Mann dir wehtut, Clara! Denkst du
vielleicht, du wärst dazu geboren, das wäre deine Bestimmung? Sieht ganz so
aus, oder? Aber es liegt nun an dir, dem ein Ende zu bereiten. Du kannst
natürlich auch den Schwanz einziehen und einfach so gehen. Wieder einmal
das gepeinigte Opfer spielen. Doch wir beide wissen, dass es nicht das ist, was
du willst und woran du denkst, oder? Wenn du jetzt gehst, wird er über dich
lachen. Ja, er wird sich wahrlich zu Tode lachen, wenn er an diese dumme
Schlampe denkt, die sich schön brav von ihm vögeln ließ und anschließend
das Weite suchte, um zurück in ihr kleines Kaninchenloch zu kriechen und
sich selbst einzureden, dass es ja im Grunde ohnehin ihre Schuld war, wie
immer. Das ist doch ein echter Spitzenlacher, oder? Seine Freunde werden
sich vor Lachen glatt in die Hosen machen, wenn sie davon zu hören
bekommen. Die bescheuerte, kleine Hure, die man sogar umsonst
bekommen kann, wenn man es richtig anstellt. Wirklich großartig, Mädchen!
Du hast es weit gebracht, muss man schon sagen!
Was soll das? Möchtest du vielleicht, dass ich ihm zuerst noch einen
Denkzettel verpasse, damit er weiß, dass er sich besser nicht mit mir
eingelassen hätte?
Bingo! Du kapierst ja schnell!
Und wie soll ich das machen?
Du erinnerst dich an seine Pistole? Er hat sie mit raufgebracht und dann
weggelegt, als er sich über dich hermachte.
Selbstverständlich erinnerte sie sich. Sie warf einen Blick auf das Nachtkästchen
neben dem Bett und da lag das gute Stück auch schon und schien nur darauf zu
warten, dass jemand kam, der etwas damit anzufangen wusste. Clara ging hin und
nahm die Waffe in die Hand. Ist sie geladen? fragte sie die Stimme in ihrem
Kopf. Nur so, um zu sehen, ob sie überhaupt noch da war.
Das war sie. Ja, natürlich ist sie geladen. Er ist kein Typ, der ungeladene
Waffen mit sich herumträgt, oder?
Nein, sicher nicht.
Dann los! Zeig ihm, dass er eben den größten Fehler seines Lebens begangen
hat! Er ist völlig hilflos! Genau wie du es immer warst. Das ist deine Chance,
dich endlich zu rächen. Mach einfach all das mit ihm, was du schon immer
den vielen Männern antun wolltest, die dir im Laufe deines Lebens wehtaten.
Allen voran dein lieber Vater.
Sie beugte sich über ihr fest schlafendes Opfer und richtete die Mündung der
Pistole auf dessen Schläfe.
Du willst ihn doch nicht etwa im Schlaf erschießen? Ein solcher Tod wäre ja
noch eine Belohnung für dieses Dreckschwein. Wenn du das tust, ist er tot,
noch bevor er ein einziges Mal mit der Wimper gezuckt hat.
Aber was soll ich sonst machen?
Weck ihn erstmal auf. Aber sei vorsichtig!
Das war sie. Clara trat wieder ein paar Schritte zurück, die Waffe schussbereit.
Fettige Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht. Ihr Herz klopfte wie verrückt. „Hey,
Toni!“ sagte sie. Er rührte sich nicht einmal. „Hey! Aufwachen!“ Diesmal etwas
lauter. Er drehte den Kopf in ihre Richtung und stöhnte, doch seine Augen
blieben nach wie vor geschlossen. Clara holte einmal tief Luft, dann trat sie kurz
vor und schlug ihm kräftig ins Gesicht. „Aufwachen, du elende Drecksau. Zeit für
dein Frühstück.“
Endlich schlug er die Augen auf. Anfangs wirkte sein Blick noch benebelt und
abwesend. Dann sah er die Pistole und saß mit einem Ruck aufrecht im Bett.
„He, was soll das, du Nutte! Leg sofort das Ding weg! Bist du verrückt
geworden? Die ist eh nicht geladen!“
„Ach nein? Warum siehst du dann so aus, als würdest du dir jeden Moment in
die Hosen machen? Wenn du welche anhättest, mein ich natürlich.“
Er blickte kurz mit zusammengebissenen Lippen an sich herab und sah dann
wieder sie an. „Was- was soll das? Was willst du? Geld? Ich- ich kann dich
bezahlen, dann sind wir quitt. Das machst du doch bei deinen Kunden genauso,
Oder?“
„Du bist aber keiner meiner Kunden, Baby, das ist das Problem.“
„Was willst du sonst? Die Bullen rufen vielleicht? Denkst du im Ernst, die würden
dir auch nur ein einziges Wort glauben? Du bist ´ne billige Straßennutte, das
weiß doch jeder!“
„Ja leider. Das ist sehr schade. Schade für dich, mein ich.“
„Was soll das heißen? Willst du mich etwa erschießen?“
„Das ist die einzige Möglichkeit, die mir bleibt, Toni. Du hast es ja schon selbst
gesagt. Wer würde schon einer wie mir Glauben schenken?“
Er hob beschwichtigend eine Hand. Clara sah, dass sie stark zitterte und das
gefiel ihr außerordentlich. Sie entdeckte gerade eine völlig neue Sicht der
Dinge. Sie entdeckte gerade, wie es auf der anderen Seite aussah und dachte,
dass sie es da ruhig noch ein wenig länger aushalten konnte.
„Hör zu“, er weinte fast. „Das klingt jetzt bestimmt nicht sehr überzeugend in
deinen Ohren, aber es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Ich war betrunken. Ich-
ich bin ein Arschloch, ein Schwein, was du willst. Ich hab dich vergewaltigt und
du- du hast völlig recht, dass du jetzt diese Waffe auf mich richtest, aber bitte,
bitte tu´s nicht.“ Er deutete hinüber zu seiner Hose, die über dem Bettpfosten
hing. „Da sind etwas über fünfhundert Mark drin. Die kannst du haben, wenn du
mich gehen lässt. Ganz ehrlich, ich lüg dich nicht an.“
„Was wenn ich dein schmutziges Geld nicht will?“
„Dann- dann ruf die Polizei und ich werd denen bestätigen, dass ich dich
vergewaltigt habe. Ich schwöre es.“
„Einen Scheißdreck tust du!“
„Clara. Clara, so ist doch dein Name? Ich werde ihnen erzählen, was passiert ist.
Dass ich dich auf der Straße gesehen habe und dir dann hierher gefolgt bin. Ich
sag ihnen alles. Ich schwöre es bei Gott!“
„Siehst nicht gerade sehr gläubig aus.“
„Aber das bin ich. Ich wurde so erzogen.“
Sie betrachtete seine Klamotten, die allesamt über dem gleichen Bettpfosten
wie seine Hosen hingen. Das waren alles Designerprodukte. Allem voran die
Schuhe.
„Die sind ganz schön reich, deine Eltern, oder?“
„Ja. Mein Vater ist ein ziemlich erfolgreicher Anwalt. Er hat seine eigene Kanzlei
und so. Wenn er wüsste, was ich getan habe, wär er jetzt derjenige, der diese
Waffe auf mich hält.“ Er lachte hohl. Erste Tränen glänzten in seinen Augen.
„Wie alt bist du?“
„Achtzehn. Genau seit gestern. Bitte erschieß mich nicht. Es tut mir so leid.“
Clara spürte, wie sie langsam schwach wurde. Trotz allem, was er ihr angetan
hatte, hatte sie auf einmal wieder Mitleid mit ihm. Großer Gott, er war ja noch ein
halbes Kind!
Und was ist mit dir? Wie alt warst du, als man dir zum ersten Mal wehtat? Vier?
Fünf? Du hast lange genug Rücksicht genommen und Mitleid empfunden,
Clara. Dieser Kerl hier hat dir sehr wehgetan und das lässt sich durch nichts
entschuldigen. Übe endlich die Rache, die du schon so lange unterdrückt
hast!
„Gut. Du bekommst noch eine Chance“, sagte sie lächelnd. „Hast du ein
Taschenmesser?“
Er starrte sie mit großen Augen an.
„Lüg mich jetzt besser nicht an, Kleiner. Sonst bist du tot.“
„In meiner Jacke.“ Er schluckte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Clara sah nach, wobei sie Toni keine Sekunde aus den Augen ließ. Sie
entdeckte das Messer zwischen einer Packung Camel und einem gelben
Gasfeuerzeug und nahm es heraus.
Toni beobachtete sie. Er hatte am ganzen Körper eine Gänsehaut.
Clara klappte das Messer auf und hielt es ihm dann hin. Seine Lippen bebten. Er
bewegte sich nicht.
„Nimm es!“
„Wieso...?“
„Nimm es, verdammt noch mal!!!“
Er streckte eine zitternde Hand danach aus und nahm es schluchzend entgegen.
„Okay. Hier kommt mein Vorschlag: Wenn du dir den Schwanz damit
abschneidest, lass ich dich gehen, ansonsten bist du tot.“
„Nein! Das kann nicht dein Ernst sein!“
„Ich geb dir fünf Minuten. Bis dahin musst du dich entschieden haben.“ Sie setzte
sich auf einen Stuhl, der etwa eineinhalb Meter vom Bett entfernt war und zielte
von dort direkt zwischen seine Augen, dann warf sie einen kurzen Blick auf ihre
Uhr. „Und komm bloß nicht auf dumme Gedanken.“
Toni weinte jetzt wie ein kleiner Junge. „Das kannst du mir nicht antun. Wenn ich
das tun sollte, würdest du mich doch bestimmt trotzdem erschießen.“
„Ich halte mein Wort.“
„Aber ich würde wahrscheinlich verbluten oder sonstwas! Ich...das kannst du
doch nicht mit mir machen. Bitte! Bitte sag, dass das bloß ein dummer Scherz
war!“
Clara schwieg.
„Bitte! Bitte sag doch was! Sag irgendwas!“ Er ließ das Messer auf das Laken
fallen. „Ich schneid mir doch nicht den eigenen Schwanz ab! Du mußt verrückt
Sein!“
„Noch vier Minuten.“
„Bitte! Du kannst noch mehr Geld haben, wenn du willst. Du kannst hunderttausend Euro haben, oder noch mehr. Das hängt allein von dir ab! Ich
schwöre, dass ich persönlich dafür sorgen werde, dass du nie mehr Geldsorgen
haben wirst in deinem Leben.“
Clara sagte kein Wort. Ihre Miene war hart wie Stein, ausdruckslos wie ein
leeres Blatt Papier.
„Du hast mich doch schon genug gedemütigt! Ich flehe dich hier um mein Leben
an, verdammt noch mal! Was soll ich denn noch tun? Vielleicht auf Knien vor dir
rutschen? Was willst du, verdammt?“
„Deinen Schwanz, das ist alles.“
„Bitte!“
„Du willst leben? Dann wirst du wohl für den Rest deiner Tage auf Sex verzichten
müssen. Na ja, und Pinkeln könnte sich natürlich ebenfalls zu einem kleinen
Problem entwickeln. Aber keine Sorge, die Medizin wirkt wahre Wunder
heutzutage. Sie werden dir schon irgendeinen Schlauch einsetzen, damit du…“
„Hör auf! Ich halt das nicht mehr aus!“ Er barg das Gesicht in den Händen und
schluchzte hemmungslos.
Clara wartete, bis die fünf Minuten um waren und stand dann auf. Sie trat bis auf
wenige Zentimeter an Toni heran. Er hob den Kopf und sah sie an.
„Du hast dich anscheinend entschieden.“ Sie presste die Mündung der Waffe
unter sein Kinn.
„Nein! Warte! Bitte warte noch!“
„Was?“
„Ich- ich werde es tun.“
Sie trat zurück. „Gut. Dann nimm das Messer.“
Er tat wie ihm geheißen und nahm seinen Penis in die Hand. Seine rechte Hand
zitterte so stark, dass er kaum in der Lage war, das Messer zu halten. Er setzte
zum Schnitt an und zog das Messer im nächsten Moment wieder ruckartig
zurück. „Mein Gott, ich kann es nicht!“
„Dann stirbst du.“
„Bitte lass mich am Leben, Clara. Ich hab ein einziges Mal Mist gebaut in meinem
Leben. Warum muss ich dafür sterben? Das ist nicht fair.“
„Sieh mich an! Ich wurde mein Leben lang bloß benutzt und gequält. Sieh mich
an, verdammt noch mal! Hältst du das etwa für fair?“
„Natürlich nicht.“
„Warum hast du mir das angetan? Würdest du mir das bitte verraten?“
„Ich- ich weiß es nicht. Ich wollte nur wissen, wie das ist, wenn man eine Frau mit
Gewalt nimmt. Ich hatte bis jetzt nur eine einzige Freundin, die immer ganz scharf
auf mich war. Ich wollte aber mal eine, die sich wehrt. Da hab ich dich gesehen.
Dein Gesicht hat mir gesagt, dass du dich wohl schon oft in deinem Leben
wehren musstest. Wieso nicht noch einmal und diesmal bei mir? dachte ich mir.
Ich konnte ja nicht wissen, dass es bei mir das erste Mal ist, dass du
zurückschlägst.“
„Ja. Dein Pech. Ich werd dich jetzt erschießen.“
„Bitte nicht! Ich bin doch noch viel zu jung zum Sterben!“
„Das war ich auch.“
Mit diesen Worten hatte sie abgedrückt und Tonis Gehirn damit in sauberen
kleinen Klumpen auf dem Bett verteilt. Sie wickelte die Leiche in das Laken ein
und versteckte sie unter dem Bett.
Das war jetzt ungefähr zwei Stunden her.
Nachdem sie den Jungen erschossen hatte, hatte sie sich auf einmal so
schrecklich müde gefühlt, dass sie sich für eine Stunde auf den Boden legte und
ein wenig schlief. Sie hatte die Tür zu ihrem Zimmer versperrt, obgleich sich kein
Mensch für den Schuss zu interessieren schien. Sie hatte jedenfalls bis jetzt weder Schritte noch hektische Stimmen draußen auf dem Flur vernommen, und konnte sich daher einigermaßen entspannen, ohne bei jedem winzigen
Geräusch wie von der Tarantel gestochen aufzuspringen.
Und nun stand sie also hier im Badezimmer vor dem Spiegel und sinnierte über
die Größe ihrer Brüste. War das Leben nicht verrückt? Da Toni jetzt tot war, war
sie sehr froh, dass sie nicht nachgegeben und es statt dessen getan hatte. Er war
ein Schwein gewesen. Ein brutaler Drecksack. Allein die Todesangst hatte ihn
zum Schluss in ein zahmes Lamm verwandelt. War das nicht letztendlich bei fast
jedem so, solange betreffende Person nicht völlig geisteskrank oder dergleichen
war?
„So sieht also schließlich dein Ende aus, Clara.“ Sie nahm Tonis Pistole in die
Hand.
Er war der Sohn eines reichen, einflussreichen Anwaltes, sie eine gewöhnliche
Nutte, wie man sie an jeder Straßenecke vorfindet. Er hatte eine blühende
Zukunft vor sich. Mit der Hilfe seines Vaters natürlich. Sie hatte überhaupt nichts
vor sich. Wollte sie tatsächlich behaupten, es wäre Notwehr gewesen? Oder
Rache dafür, dass er sie vergewaltigt hatte. Vergewaltigen? Eine Nutte? War das
überhaupt möglich? Die „Wahrheit“ lag für die Bullen doch bestimmt sofort offen
auf der Hand. Der verwöhnte Sohn eines reichen Anwalts bekommt auf einmal
Lust, mal was ganz Außergewöhnliches zu tun. Er ist sehr jung und da sind
solche Ausrutscher schon mal möglich. Er geht mit einer Prostituierten in ein
billiges Motel. Vielleicht erzählt er ihr auf dem Weg ja sogar von seinem reichen
Vater oder aber sie erkennt an seiner Aufmachung, dass er sicher nicht aus
einem armen Elternhaus stammt. Nutten haben schließlich Erfahrung mit so
etwas. Sie beschließt also, den Preis noch um ein paar Hunderter
hochzutreiben. Als es vorbei ist, verlangt sie ihr Geld. Einen völlig überzogenen
Preis. Er weigert sich zu zahlen. Da legt sie ihn um mit einer Waffe aus ihrer
Handtasche. Sie will sein Geld. Doch dann wird sie unsicher und ruft aus
irgendeinem Grund doch noch die Polizei, um sich mit irgendeiner
Lügengeschichte herauszureden. Voilà da haben sie ihre böse Mörderin ja auch
schon. Gute Arbeit, Jungs. Und ihr wisst schon, die Öffentlichkeit darf auf keinen
Fall von den Umständen erfahren, unter denen der Junge ums Leben kam. Das
wäre ein Skandal, der seinem Vater Kopf und Kragen kosten könnte. Und wir
werden natürlich nicht ganz leer ausgehen bei der ganzen Sache, was sich von
selbst versteht.
Ja, Clara war wirklich alles andere als dumm und sie wusste ganz genau, wie der
Hase lief auf dieser Welt.
Es hatte also keinen Sinn, auch nur den Versuch zu unternehmen, diesen Vorfall
der Polizei zu melden.
Und warum nicht abhauen? Nun, eine Leiche lag in ihrem Motelzimmer. Wie
lange würde es wohl dauern, bis man sie gefunden hat. Vier Tage? Eine
Woche? Dann Gefängnis. Angst, Verzweiflung, Schmerz. Das alles noch einmal
durchmachen? Vor zehn Jahren hätte sie sich das womöglich sogar noch
zugetraut. Da war sie zwanzig Jahre alt und hatte noch ein wenig Hoffnung in den
entlegensten Winkeln ihres Herzens vergraben. Aber heute, nach allem, was sie
erlebt hatte? Wozu denn? Sie hatte keine Lust mehr. Sie hatte verloren und sie
stand nun endlich auch grade dafür. Das Leben hatte ihr nie etwas gegeben und
das hatte diesen einen Vorteil, dass sie ihm nun auch nichts schuldete. Sie
konnte gehen. Sie hatte Rache geübt. Jetzt konnte sie endlich gehen.
„Scheiß auf die Welt!“ sagte Clara und fletschte die Zähne wie ein wildes Tier. In
diesem Augenblick hatte sie seit Jahren zum ersten Mal wieder das Gefühl, eine
schöne Frau zu sein. Trotz all der Narben, oder gerade deshalb, eine schöne
Frau. Diese Schönheit kam von innen aus ihr heraus. Aus ihrem Herzen. Und sie
überstrahlte alles andere wie ein blendender Heiligenschein.
Clara nahm die Pistole, mit der sie ihren Vergewaltiger Toni erschossen hatte
und steckte sich den Lauf in den Mund. Sie sah in den Spiegel. Sie schloss nicht
die Augen. Sie sah in den Spiegel und lächelte.
Wenn ihr mich jetzt so sehen könntet, ihr alle. Was würdet ihr wohl dazu
sagen?
Sie berührte ihre rechte Brust (schöne rote Äpfel ich hatte lange blonde Zöpfe
und hab noch viel gelacht obwohl mein Vater fast jede Nacht zu mir unter die
Decke schlüpfte und mir sagte welch schöne Augen ich doch hätte ich hab
gespielt im Sonnenschein es waren Ferien und ich hatte den ganzen Sommer für
mich ich war ganz allein aber das war in Ordnung so es war die schönste Zeit
meines Lebens ich hab im Schatten der Apfelbäume geschlafen und geträumt
ich flöge über die weißen Wattewölkchen auf meinem schönen schattigen Platz
hab ich geträumt und mir den süßen Saft der Äpfel von den Lippen geleckt und
ich war allein es gab niemanden der mir wehtun konnte nur abends denn da kam
mein Vater aber tagsüber da war das weit weg und die Äpfel ja die waren so
süß ich hätte auf der Stelle sterben können so glücklich war ich und durch das
dichte Blätterdach warfen die Sonnenstrahlen ein komisches Muster auf mein
Gesicht und ich musste niesen und öffnete die Augen und hab eine Wolke
gesehen die die Form einer Katze hatte und eine andere die aussah wie ein
schöner runder Apfel rot und saftig und süß auf meiner Zunge und so prall wie
meine Brüste die schon mit zehn Jahren zu wachsen begannen und die Tommy
so sehr gefielen obwohl ich oft unglücklich war weil sie doch so schrecklich klein
waren so klein wie die Äpfel in Nachbars Garten als ich noch klein war und mein
Papa meine Augen mochte.....)
Das Blut, das auf den Spiegel und die weißen Fliesen spritzte, als sie abdrückte,
war fast so rot wie die Äpfel ihrer Kindheit, aber irgendwie doch nicht ganz.
ENDE