ihre blauen augen
Es begann vor vielen Jahren, als die Erde unbewohnbar wurde. Und entgegen aller früheren Prognosen der Menschen waren sie selber vollkommen unschuldig daran. Es war ein Komet, der die Erde traf und einen ziemlich tiefen Krater an der Stelle hinterließ, an der vorher einmal Australien gewesen war. Das interessierte die Menschen aber eigentlich weniger (mit Ausnahme einiger Australier natürlich).
Viel gewichtiger, aber immer noch nicht besorgniserregend, war die Tatsache, daß sich die Erdumlaufbahn durch die zusätzliche Masse des Kometen dramatisch veränderte. Sie wanderte auf die Sonne zu und bewegte sich fortan zwar noch auf einer Kreisbahn, aber es war nun um einiges Wärmer auf der Erde, was die Menschen auch nicht wirklich beunruhigte, zumal sie endlich einen richtig sonnigen Sommer genießen durfte, und zwar unabhängig von der Jahreszeit.
Richtig betroffen wurden die Menschen erst, als sie zum Baden an den Strand gehen wollten, und feststellten, daß es dort gar kein Wasser mehr gab. Und das nicht nur dort. Eigentlich fehlte es auf der ganzen Erde an Wasser, denn das verdampfte und verließ infolge der überhöhten Sonneneinstrahlung die Erdatmosphäre. Und das fanden die Menschen nun wirklich ärgerlich. Viele starben an Hautkrebs oder einfach, weil sie verdursteten (mit Ausnahme der Australier, die hatten sich Reserven angelegt). Und so beschloß man, eine Kuppel aus Glas zu errichten, unter der man vor den UV-Strahlen sicher wäre und die letzten Wasserreserven konservieren könnte.
Der Bau wurde von der provisorischen Erdenregierung genehmigt und so entstand in der Nähe von Bielefeld Die Kuppel. Das war ein gewaltiger Glasbau, der durch sein Eigengewicht gestützt wurde. Das war auch der Grund, aus dem Die Kuppel in Bielefeld gebaut wurde, hier gab es einfach die besten Ingenieure. Die Kuppel maß mehrere Kilometer im Durchmesser und war knapp zweitausend Meter hoch. In ihrem Inneren bot sie Platz für gewaltige Wohnhäuser, in die wiederum winzige Wohnungen gebaut wurden. Hier lebten die letzten Menschen der Erde wie in Sardinenbüchsen.
Dennoch bot Die Kuppel längst nicht genug Platz für alle Menschen. Und so wurde eine strenge Geburtenkontrolle eingeführt. Jede Familie durfte nur zwei Kinder bekommen, für jedes weitere mußte ein Mitglied der Familie Die Kuppel verlassen und Draußen sein Glück versuchen. Draußen, dort wo sie vegetierten und schließlich wie die Hunde starben, sich gegenseitig essen mußten und von denen in Der Kuppel wie Dreck behandelt wurden. Nur einige wenige hatten Mitleid und versorgten die Draußenler mit Wasser und Nahrung. Und auch dafür gab es nur eine Strafe: Verbannung. Um diese Maßnahmen durchführen zu können, schickte die Regierung spezielle Soldaten, um die Menschen zu verbannen. Sie wurden mit Computerchips manipuliert, so daß sie über keinen eigenen Willen mehr hatten und den Weisungen blind folgten. Einer von ihnen war Paul Johnson, Sohn australischer Einwanderer.
...
„Agent Johnson, sofort in mein Büro!“
Er ging gemessenen Schrittes durch die verschlungenen Gänge des Stützpunktes, auf der Suche nach dem Büro seines Vorgesetzten. Natürlich wußte er ganz genau, wo es sich befand, aber durch einige Umbaumaßnahmen innerhalb der letzten Wochen veränderte sich das Innere des Gebäudes ständig. Schließlich fand er das Büro aber doch.
„Da sind sie ja endlich! Setzen!“ Paul nahm auf dem abgewetzten Stuhl Platz, der vor dem Schreibtisch stand.
„Ich habe einen neuen Auftrag für Sie. Die Familie heißt Brömmeling. Die haben ein drittes Kind und sich für die Großmutter, Frau Gerda Brömmeling, entschieden. Sie ist noch eine der ersten Generation, sie haben Die Kuppel damals quasi um sie herum gebaut. Seien Sie also ein wenig nett zu der alten Dame.“
...
Nett? Für Paul hatte dieses Wort keine Bedeutung. Damals, als sie ihm den Chip einpflanzten, hatten viele Dinge für ihn an Bedeutung verloren. Glück, Freude, Mitleid, Herzlichkeit, Dinge, der wohl nie wieder spüren dürfte.
Er stand vor der Tür von Familie Brömmeling. Sie war offen. Im inneren der kleinen Wohnung sah er eine Frau liegen. Sie war schwanger, das konnte er deutlich erkennen. Der Bauch gab einen deutlichen Hinweis. Die Frau wand sich in Schmerzen, die Geburt schien unmittelbar bevorzustehen. Sie warf Paul einen flehenden Blick zu „Sie... der... Arzt...? Helfen... bitte...“ Paul ließ sie liegen, sie ging ihn nichts an.
Er wandte sich dem Nachbarzimmer zu, aus dem die ganze Zeit über Kindergeschrei klang. Hier saßen die beiden Kinder. Das eine schrie sich die Seele aus dem Leib, hatte wohl Hunger, und eine alte Frau, vermutlich die Großmutter, versuchte, das Kind zu trösten.
„Gerda Brömmeling?“
„Das bin ich.“
„Sie wissen, warum ich hier bin?“
„Sie sind der Arzt? Meine Tochter liegt nebenan.“
„Ich weiß, aber sie ist nicht der Grund. Sie wurden ausgewählt.“ Die alte Frau verstand und ihre Augen verrieten Schmerz und Trauer.
„Aber... ich kann unmöglich... ich meine... mein Schwiegersohn, er wollte gehen... warum ich?“
„Sie wurden ausgewählt.“
„Aber... die Kinder...“
„Das ist nicht mehr Ihr Problem. Kommen Sie.“ Er erinnerte sich an die Worte seines Vorgesetzten „...bitte.“ fügte er dann hinzu. Die Frau ließ das Kind los, tätschelte ihm beruhigend den Kopf, warf einen letzten Blick auf ihre sich in Schmerzen windende Tochter und folgte Paul nach draußen.
...
„Ah, Paul! Du bist es!“
„Ja.“
„Dann ist das... ähh... Gerda Brömmeling, richtig?“
„Ja, ich mache keine Fehler.“
„Eigentlich sollte mein mißratener Schwiegersohn jetzt hier stehen.“ warf Frau Brömmeling ein, die sich inzwischen wieder gefangen hatte, und der nun wieder einfiel, daß sie ihren Schwiegersohn sowieso noch nie gemocht hatte. „Dieser Kerl, ich habe ihr von Anfang an gesagt, Kind, habe ich ihr gesagt, der Kerl ist nicht der richtige, der bringt uns noch mal ins Grab... naja... das hat er jetzt ja wohl auch geschafft...“
„Ich öffne die Tür.“ sagte der Beamte namens Dirk. Er drückte einen kleinen Knopf auf einer Konsole und in der Kuppel öffnete sich eine Tür. Vor dem Bau standen einige Draußenler, wie immer eigentlich. Sie versuchten, ins Innere der Kuppel zu kommen, oder zumindest, den Neuankömmling als erster zu probieren.
„Wissen Sie eigentlich, was er meiner Tochter zu Weihnachten geschenkt hat? Einen Stein! Damit sie ihm die Unterhosen bügelt! Hat man so etwas schon mal gesehen?“
Paul gab der Frau einen sanften Stoß und sie stand Draußen. Sofort wurde sie von einem Pulk Draußenler verschluckt und war aus dem Blickfeld.
Dann sah er sie. Die junge Frau stand in der ersten Reihe der Draußenler und sah ihm direkt in die Augen. Für einen Moment schien für Paul die Zeit stillzustehen, das war ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Diese Frau, ihre blauen Augen waren für ihn plötzlich der Mittelpunkt des Universums. Er konnte sich nicht mehr rühren, sie immer nur noch ansehen. Und so sah er ihr noch lange nach, als sie sich an ihm vorbei in die Kuppel zwängte.
„Sag mal, willst Du ihr nicht folgen?“ sagte Dirk.
„...Was...?“
„Die Frau, die da eben in die Kuppel eingedrungen ist. Hättest Du die Güte, sie wiederzuholen?“
„Scheiße!“ Erst jetzt nahm Paul seine Umwelt wieder wahr. Er zückte seine Waffe und folgte der Frau ins Innere der Kuppel.
...
Während er ihr folgte, meldete sich sein Vorgesetzter via Funkverbindung.
„Johnson, was glauben Sie eigentlich, was Sie da machen?“
„Ich verfolge diese Frau... ich... ich hatte eine Fehlfunktion...“
„Das glaube ich allerdings auch. Fangen Sie sie ein und dann melden Sie sich danach bei Doc Müller!“
„Wer ist sie?“
„Eine dreckige Hure aus dem Westen der Kuppel. Sie wurde vor drei Jahren verbannt, als sie einem Draußenler ein Glas Wasser zuschmuggelte.“
„Eine was?“
„Eine Hure. Das sind Frauen, die gegen Geld Sex mit einem machen.“
„Sex?“
„Sie wissen nicht, was Sex ist? Mein Gott, diese Chips sind wirklich eine schreckliche Erfindung!“
Nach kurzer Zeit stellte Paul die Frau in einer engen Gasse. Er ging mit erhobene Waffe auf sie zu und wollte sie packen und zurückschleifen. Aber etwas hinderte ihn daran. Ihre Augen. Er sah tief in ihre blauen Augen, sah ihre Angst, ihr Flehen und dann fühlte er... Mitleid. Ja, das war es. Mitleid. Er kannte dieses Gefühl noch von früher. Der Chip hatte es blockiert, aber der hatte eine Fehlfunktion.
„Bitte... nicht... ich tue alles, was Sie wollen.“
„Sind Sie eine Hure?“
„Na schön, aber Sie sind ganz schön einfallslos.“ Die Frau begann, sich zu entkleiden.
„Lassen Sie das! Das meinte ich nicht. Ich wollte wissen, warum man Sie rausgeschmissen hat.“
„Ich... ich wollte den armen Seelen da draußen helfen...“
Er sah in ihre Augen, sah Hoffnung, gepaart mit Dankbarkeit. Konnte er ihr helfen? Nein, man würde ihn finden und ebenfalls verbannen. Es gab keine Hoffnung.
„Kommen Sie. Ich bringe Sie nach Draußen.“ Und sie folgte ihm.
...
Nachdem er Klara, das war ihr Name, nach Draußen gebracht hatte, meldete Paul sich nicht bei Doc Müller. Er wollte diese Gefühle von damals nicht wieder deaktivieren lassen. Er wollte sie spüren und noch ein wenig genießen. Diese blauen Augen, sie waren wunderschön. Paul wünschte sich in diesem Moment, in dem er an einer dunklen Straßenecke stand, nichts sehnlicher, als jetzt bei ihr sein zu können. Nein, er wollte nicht länger eine Maschine sein, er wollte zu ihr, mit ihr zusammensein.
...
„Was machst du denn wieder hier? Kannst wohl nicht genug von mir bekommen, oder?“ Paul stand wieder am Ausgang der Kuppel und ignorierte seinen Kollegen. Dort Draußen stand sie mit einigen anderen und blickte mit ihren blauen Augen durch das Glas sehnsüchtig nach innen.
Der Beamte öffnete die Kuppel und gab einige Warnschüsse ab. „Verschwindet, ihr Parasiten! Haut ab!“
Plötzlich wurde er von einem Jungen zur Seite gestoßen, der nach Innen rannte. Paul und Dirk sahen ihm nach.
„Verdammt, ich werde wohl alt. Würdest du bitte?“
Paul reagierte nicht.
„Würdest du bitte diesen verdammten Jungen fangen? Ich muß hier aufpassen!“
Paul reagierte nicht.
„Jetzt geh schon, oder ich muß Meldung machen!“
Paul reagierte nicht.
„Du weißt, was auf Befehlsverweigerung steht? Die werfen dich raus, Mann!“
Paul reagierte nicht.
„Ich mache jetzt Meldung, wenn du nicht gehst! Auch wenn du mein Freund bist.“
Paul reagierte nicht. Er sah Klara in die strahlenden blauen Augen.
„Ja, wir werden alt...“ sagte er. Dann lächelte er...