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"Ihre Fahrkarte bitte!"
„Ihre Fahrkarte bitte!“
„Endlich“, denkt sie, als sie ihr Abteil betritt. Die Tränen laufen ihr immer noch über das Gesicht, das mittlerweile geschwollen und wutrot aussieht.
Noch immer liegen Kathleen die Worte ihrer Eltern in den Ohren. „Das ist doch nicht normal!“ Ihr Vater hatte wutentbrannt vor ihr gestanden und seine Worte hatten sie wie Pfeile getroffen, die ihre kalte, aus Metall gegossene Spitze in ihr Herz rammten. Ihre Mutter hatte geschwiegen.
Die Eltern haben sie angeschaut, es war dieser Blick, den wohl nur Eltern hatten, der Blick der dir sagt: „Was haben wir in deiner Erziehung nur falsch gemacht?“, „Haben wir nicht alles für dich getan?“, ein Blick voller Leid und Enttäuschung.
Natürlich haben sie nichts falsch gemacht.
Kathleen weint immer noch, als sie ein Taschentuch aus ihrer Jacke zieht und sich die Nase putzt.
Sie sieht aus dem Fenster, als der Zug sich langsam in Bewegung setzt. Endlich ist sie unterwegs, auf dem Weg in ein neues Leben.
Die Worte „Ihre Fahrkarte bitte“, unterbrechen ihren Gedanken. Sie schaut zur Tür, der Schaffner hat graues Haar, das unter der Mütze hervorlugt, Falten umspielen sein Lächeln auf so sanfte Weise, das Kathleen ein warmes Gefühl der Hoffnung verspürt.
Trotzdem sucht sie hektisch in ihrer Tasche nach ihrer Fahrkarte.
„Ganz ruhig, junge Frau, nur keine Hetze, wir sind ja nicht auf der Flucht, oder?“, mit seinem Lächeln verrät er, dass er die Situation nur auflockern will. Aber ist sie nicht genau das: auf der Flucht?
Da ist sie, die Fahrkarte, Kathleen reicht sie dem Schaffner; und ist kurz darauf wieder alleine im Abteil. Bei dem Gedanken alleine zu sein schnürt es ihr förmlich den Hals zu. Sie hat sich noch nie so alleine wie jetzt gefühlt. Ihr wird kalt. Die Heizung ist nicht an. „Ob sie überhaupt noch funktioniert?“, überlegt Kathleen.
Ihre Eltern haben immer ein offenes Ohr für sie gehabt. Mit ihnen hat sie immer über alles reden können, bis heute.
So war es jedenfalls in ihrer ersten Beziehung, in der Grundschule, als sie mit Robbie Schluss gemacht hat, der ihr aber weiter nachstellte. Da half ihr ihr Vater, die Situation zu meistern. Sie hatte Angst davor, Robbie zu sagen, dass er gehen sollte. Nein, eigentlich wußte sie gar nicht, wie sie das anstellen sollte. Ihr Vater hatte sie damals einfach in den Arm genommen und gesagt: „Mein Kind. Egal was passiert. Wir sind immer für dich da!“ Mit diesen Worten hatte er sie in eine flauschige Decke gehüllt.
„Und nun sitze ich in diesem Zug, weg von ihm, weg, von der Stadt, weg von Zuhause. Warum versteht er mich nicht mehr?“, Kathleen wird wieder ganz traurig bei dem Gedanken.
„Vielleicht hat der Schaffner Recht. Vielleicht bin ich auf der Flucht. Auf der Flucht vor ihnen, vor meinen Eltern“, sagt sich Kathleen, während sie hinausschaut und die Häuser an ihr vorbeiziehen. Der Gedanke auf der Flucht zu sein lässt sie nicht mehr los.
Diese Fahrt hat sie schon hundert Mal gemacht, aber heute ist alles anders. Die Häuser sehen nicht mehr so farbenfroh aus, aber auch nicht düster, sie sehen... so normal aus. Nein eigentlich sind sie wunderschön, wie die Blumen an den Gleisen, oder die Seen mit ihren Seerosen. Alles ist so friedlich, da draußen. Nur in Kathleen tobt ein Wirbelsturm. „Wie soll es nur weitergehen?“
„Kaffee?“, fragt eine freundliche Stimme.
Kathleen blickt zur Türe, der Schaffner steht mit zwei Bechern auf einem Tablett und lächelt sie auffordernd an.
„Ja, gerne“, sagt Kathleen kurz.
Er kommt in das Abteil und setzt sich auf den Platz ihr gegenüber. „Milch... Zucker?“ Ein fragender Blick trifft sie.
„Nur Milch, danke“, antwortet Kathleen, noch nicht sicher, was sie davon nun halten soll.
Er hebt das Milchkännchen in aller Ruhe hoch und gießt die Milch in ihren Becher. Kathleen bekommt den Eindruck, dass es für ihn keine Zeit gibt, so ruhig und gelassen sind seine Bewegungen. Der Wirbelsturm in ihr legt sich langsam! Was ist das für ein Mensch, was für ein Schaffner?
„Doch auf der Flucht?“, fragt er gelassen, ohne sie dabei anzuschauen, immer noch damit beschäftigt ihren Kaffee in Milch zu ertränken.
Kathleen zuckt nur mit den Schultern.
„So schlimm?“ Er sieht sie großväterlich an.
Kathleen nickt nur, würde sie nun etwas sagen, würde sie sicherlich wieder zu weinen beginnen.
Ohne ein Wort zu sagen, reicht er ihr den Kaffee hinüber.
Sie nahm einen Schluck ihres Kaffees. Sie schweigen und schauen gemeinsam aus dem Fenster.
„Meine Eltern verstehen mich nicht“, sprudelt Kathleen plötzlich los. „Ich offenbare ihnen mein größtes Geheimnis und sie... sie hören gar nicht richtig zu.“ Sie sieht ihn prüfend an, da ist plötzlich dieses Gefühl, ihm vertrauen zu können, oder ist es nur der Wunsch, sich alles mal von der Seele zu reden, es ist ihr egal, er hört ihr zu, und das ist ihr im Moment das Wichtigste.
Nachdenklich nimmt er einen Schluck von seinem Kaffee. „Was ist passiert?“ Er nippt weiter an seinem Kaffee.
„Vor einem Monat traf ich meine große Liebe, es war so wunderbar, wir sahen uns und es benötigten keine weiteren Worte, damit wir uns verstanden. Sie lächelte mich einfach nur an und ich versank in ihren blauen Augen. Es war für mich sofort klar die oder keine.“
Kathleen ist von sich selbst überrascht, dass sie so offen über ihre Gefühle mit einem fremden Mann sprechen kann.
Verwundert schaut er sie an. „Du bist lesbisch?“
Dieses Wort hatte Kathleen noch nie benutzt. „Ja!“, sagt sie einsilbig fast schüchtern. Wie wird er wohl nun damit umgehen, fragt sich Kathleen. Er ist doch noch viel älter als ihre Eltern. Gleich wird er sicherlich das Abteil verlassen und bereuen, dass er ihr einen Kaffee mitgebracht hatte.
Er schmunzelt aber nur!
„Warum schmunzeln Sie?“ Kathleen sieht ihn unsicher, aber fest in die Augen.
„Hattest du gerade erst dein Coming-out?“ Sein Blick wird ernster.
Kathleen nickt und beginnt zu erzählen. „Es war mir so wichtig, dass meine Eltern es nun auch endlich erfahren würden, monatelang dachte ich darüber nach, wie ich es ihnen möglichst schonend beibringen könnte. Ich war mir nicht sicher, wie sie reagieren würden, aber ich dachte, sie würden mich immer lieben, egal was passiert.“ Die letzten Worte kommen nur noch mit einem Schluchzen aus Kathleen heraus. "Mein Herz zerspringt vor Kummer bei dem Gedanken daran, so anders zu sein und nur deswegen nicht mehr geliebt zu werden." Der Schaffner spürt das sie leidet.
Tränen laufen über ihre Wangen, als er ihr ein Taschentuch reicht. „Woher wissen Sie von Coming-outs, Sie sind doch...? Kathleen bricht ihren Satz ab und wischt sich die letzten Tränen aus dem Gesicht.
„ ...Alt?“ lacht er.
Sie wird rot. Sie hat ihn falsch eingeschätzt. Sie hat sich schon vorher eine Meinung gebildet, ohne ihn zu kennen. Das wird ihr plötzlich klar. "
„Mein Enkelsohn ist schwul, und es war für uns alle eine sehr schwierige Zeit, als er sein Coming-out hatte.“
Kathleens Blick ähnelt nun dem eines Kindes, das zum ersten Mal in seinem Leben auf einer Kirmes ist, sie kommt aus dem Staunen nicht heraus.
Im Abteil wird es leise, lediglich das Rattern des Zuges hört man langsam und gleichmäßig.
Sie schauen wieder aus dem Fenster und trinken ihren Kaffee.
„Warum war es für sie alle so schlimm?“, fragt Kathleen, nachdem sie ihren Becher geleert hat.
Seine Stirn kräuselt sich zu nachdenklichen Falten, seine Augen blicken nun ernst aus dem Fenster, als er antwortet: „Wir dachten alle, dass wir etwas falsch gemacht hatten...“
„Warum denken nur immer alle, dass sie was falsch gemacht haben sollen?“, entgegnete Kathleen ihm aufgebracht.
„Na ja, der Lauf der Zeit hatte uns gelehrt, dass es normal ist, wenn sich ein Mann eine Frau sucht, so dachten wir zu mindestens, weil es alle so dachten“, bei diesen Worten lehnt er sich ruhig zurück und atmet schwer ein, bevor er weiter erzählt, „Ich überlegte, was ich dem Rest der Welt nun sagen soll - mein Enkelsohn ist schwul? - und was sagt der Stammtisch dazu? Während dieser Fragen stellt man dann fest, dass es sich nicht wirklich darum dreht. Es gibt nur eine Frage die man sich stellen sollte!“
Die nachdenklichen Falten kann Kathleen kaum noch sehen, er wird wieder sehr ruhig, wie in Zeitlupen nimmt er seinen Becher wieder in die Hand, den er zuvor auf das Tischchen gestellt hatte.
Gespannt schaut Kathleen ihn an. Er lächelt und fährt fort, „Wie will ich selbst mit der Situation umgehen, will ich zu meinem Enkelsohn stehen oder nicht.“
Es ist überflüssig ihn zu fragen wie er sich entschieden hat. Er sitzt hier in diesem Abteil und sprach über das Coming-out.
Kathleen fragt sich, ob es ihren Eltern wohl auch so geht, dass sie einfach nicht wissen, wie sie sich nun verhalten sollen und einfach nur Angst haben. „War das möglich? Hatte ihr Vater sie deswegen angeschrien und meint damit nur, dass es keine normale Situation, für ihn ist? Ist ihre Mutter vielleicht aus der gleichen Angst heraus so schweigsam, da sie auch nicht weiß, wie sie sich nun verhalten sollte? Haben sie genauso viel Angst, wie ich sie vor dem Coming-out hatte?“ Während Kathleen darüber nachdenkt, bedauert sie es nun, das Haus ihrer Eltern im Streit verlassen zu haben, ohne mit ihnen noch ein Wort zu wechseln.
Als sie gegangen ist, wollte sie nur eines, fliehen, nicht nur vor ihren Eltern, nein, auch vor ihren Gefühlen! Sie hatte Angst davor lesbisch zu sein.
„Ihre Fahrkarte bitte!“ Kathleen wird aus ihren Gedanken gerissen.
Sie schaut erschrocken auf den Platz ihr gegenüber, er ist leer. Keine Becher sind im Abteil zu sehen, kein Milchkännchen oder Kaffeegeruch zu riechen.
Der Mann in der Türe wiederholt, „Ihre Fahrkarte bitte“. Erschrocken schaut Kathleen zur Türe, da steht der Schaffner, hat graues Haar, das unter der Mütze hervorlugt, Falten umspielen sein Lächeln auf so sanfte Weise, dass Kathleen ein warmes Gefühl der Hoffnung verspürt.
„Hoffnung“, denkt sie, „und Sicherheit“, soll ein Traum die Lösung ihrer Probleme sein?"
Kathleen will nun zu ihren Gefühlen stehen, sie will ihren Eltern das sagen, was sie fühlt, sie fängt an in ihrer Tasche zu wühlen. Der Schaffner steht wie angewurzelt in der Türe und wundert sich.
Kathleen hält ihm ihrer Fahrkarte rüber und kramt weiter in ihrer Tasche, da hat sie es, ihr Handy. Sie wählt die Nummer ihrer Eltern. Es klingelt! „Ob sie überhaupt noch mit ihr sprechen wollen?“, überlegt Kathleen kurz, als ihr Vater den Hörer abnimmt. „Ja“, ertönt es verhalten in der Leitung.
„Papa, ich bin es, Kathleen, ich wollte dir sagen, dass ich euch liebe!“
Es ist nur das Knirschen in der Telefonleitung zu hören.
„Papa?“, fragt sie vorsichtig, „bist du noch dran?“
„Ja", ertönt es aus der Leitung und Kathleen wird klar, ihr Vater weint. „Ich liebe dich auch, mein Kind, komm bitte wieder nach Hause und wir reden über alles.“
„Ich habe Angst Papa.“
„Ich auch!“
Da ist es. Ihre Vermutung wird bestätigt. Ihrem Vater geht es nicht anders, als ihr.
„Ich komme nach Hause!“ Kathleen legt auf.
Sie schaut aus dem Fenster und weiß nun wird ein neues Leben beginnen.
Sie lächelt und holt in aller Ruhe ihre Thermoskanne aus ihrer Tasche und gießt sich einen Kaffee ein.