Ihre letzte Nacht auf Erden
Die Sonne versank wie ein gleissend roter Feuerball am Horizont, schien die herbstlichen Berge mit rotem, flammengleichen Gold zu übergiessen. Der ganze Horizont schien in Flammen zu stehen. Drei Vögel schwangen sich schwarzen Schatten gleich gen Himmel. Die Hände um die Gitterstäbe geklammert schaute Evangeline ihnen sehnsüchtig nach.
Könnte ich doch nur an ihrer Stelle sein und frei, losgelöst von allen Fesseln bis hinauf zu den Sternen fliegen und all das Elend hier zurücklassen, dachte sie. Doch sie wusste, dass dies hoffnungslos war. Seufzend liess sie von den Gitterstäben ab, die sie von der Freiheit trennten. Sie waren vor einem zwei Fuss hohen Loch angebracht, welches man wohl als Fenster bezeichnen konnte,
für Evangeline jedoch war es eine nutzlose, gemeine Lücke in den undurchdringbaren, kalten Gefängnismauern. Sie drehte sich um, ihr Schatten hob sich hart vom roten Licht des Sonnenuntergangs ab, welches in ihre Zelle fiel. Sie war klein und beengend, höchstens zehn Fuss lang und sieben Fuss breit, auf dem Boden lagen fauliges Stroh und Mäuseköttel, in einer Ecke stand eine schäbige, harte Pritsche mit einer spinnwebendünnen Wolldecke. Evangeline strich sich geistesabwesend eine lange, verfilzte Strähne ihres ehemals glänzend kastanienbraunen Haares aus der Stirn.
Da war sie also, alleine, verlassen, verloren in den kalten Mauern, und hier sollte sie die letzte Nacht ihres Lebens verbringen. Sie seufzte, drehte sich wieder dem Fensterloch zu und schaute zu, wie die Sonne ihre letzten Strahlen über den Horizont schickte. Es war der letzte Sonnenuntergang, den sie miterleben sollte. Langsam senkte sich die kalte Nacht wie ein schwarzes Tuch über die einschlafende Stadt.
Abermals seufzend ging Evangeline zur Pritsche und setzte sich darauf. Das Metall quietschte. Womit habe ich das verdient? fragte sie sich. Doch die Antwort konnte sie sich gleich selbst geben: Sie galt als eine kaltblütige Mörderin. Aber Evangeline wusste, dass sie das Opfer einer grausamen Intrige geworden war.
Das Gesicht einer wunderschönen Frau tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Blasse, magnolienweisse Haut, eine gerade, kleine Nase, sanft geschwungene Augenbrauen, strahlenförmige Wimpern, die eisblaue Augen umkränzten, ein voller, kirschroter Mund, das ganze Antlitz eingerahmt von einer Fülle weichem, weizenfarbenen Haar. Saries Gesicht.
Das erste Mal hatte sie dieses Gesicht an einem warmen Markttag im aufblühenden Frühling gesehen. Evangeline hatte mit ihren Eltern einen Stand auf dem Markt aufgebaut, an dem sie nebst Eiern, Brot, Fleisch und Käse, die Erträge ihres Bauernhofs, auch noch zarte Spitzen und aufwendige Stickereien, die Evangeline an langen Winterabenden gefertigt hatte, verkauften.
Es war gegen Mittag, die Sonne stand im Zenit und Evangelines Magen machte sich langsam bemerkbar, als die Kutsche des Grafenpaars eintraf, Graf Ilya, Gräfin Sarie. Ein staunendes Raunen ging durch die Menge, als die Gräfin, schön und exotisch wie ein Paradiesvogel, mit der Hilfe eines livrierten Dieners aus der Kutsche stieg. Mit ihrem mitternachtsblau schillernden Gewand, dem aufwendig frisierten weizenblonden Haar und der schlanken, zierlichen Figur schien sie die Anmut selbst zu sein, die Inkarnation eines ätherischen Wesens. Der Graf stand total im Schatten ihrer Schönheit.
Die in die üblichen Grau- und Brauntöne gekleidete Menge wich zurück, als die Grafen von Stand zu stand flanierten, da und dort etwas kaufte und manchmal mit einigen Kaufleuten höfliche Konversation betrieben.
Evangeline bekam das alles von ihrem Posten hinter ihrem Stand mit, ihre Eltern verhandelten einige Stände weiter entfernt mit einem anderen Bauern, ihre kleinen Geschwister waren auf dem Hof geblieben. Auch ihr Blick blieb am Grafen hängen. Irgendwie gefiel er ihr, das musste sie sich widerwillig eingestehen.
Sie wusste jedoch, dass sie sich jegliche Hoffnungen verbieten musste, denn schliesslich war er der verheiratete Graf und sie nur eine einfache Bauerntochter, und ausserdem musste sie selbst bald ans Heiraten denken, wenn sie nicht als alte Jungfer enden wollte. So hing sie ihren Gedanken nach, bis sie ein leises Räuspern in die Wirklichkeit riss.
Unfreiwillig musste Evangeline lächeln, als sie sich daran erinnerte. Die fahle, trockene Gesichtshaut spannte unangenehm über die Knochen. Es war der Graf gewesen, der eine ihrer Spitzenstolas für seine Gemahlin kaufen wollte. Ohne sich gross zu unterhalten hatten sie das Geschäft erledigt und Evangeline staunte nicht schlecht, als sie einige Tage später eine Nachricht des Grafen erhielt. Auch daran erinnerte sie sich bestens. Sie konnte den Inhalt des Pergaments auswendig. ‚Auf allerhöchsten Wunsch des Grafen’, hatte dort in schöner, verschnörkelter Schrift gestanden, ‚wird Madame Evangeline Dupont gebeten, sich unverzüglich auf das gräfliche Schloss zu begeben. Grund: Der Graf wünscht, dass Madame die gesamte Spitzenherstellung für die Gräfin übernimmt. Festanstellung mit Lohn garantiert. Hochachtungsvoll, ’ Eine unleserliche Signatur hatte jemand schwungvoll daruntergesetzt, die sie nie hatte entziffern können.
Evangeline wurde von einer plötzlichen Unruhe ergriffen, als die Erinnerung an die kommenden Ereignisse in ihr aufstiegen. Wieder stand sie ungelenkig auf und ging zum Fenster. Die Sterne waren unterdessen am klaren Himmel aufgegangen und helles Mondlicht ergoss sich über die Stadt, verwandelte die Ränder der Welt in reines, glänzendes Silber. Es war kalt; Evangeline fröstelte und schlang sich die Arme um den Oberkörper. Es half nicht viel.
Ihre erste Nacht auf dem Schloss war auch so sternenklar gewesen. Ohne viele Umstände hatte Evangeline sich von ihrer Familie verabschiedet, es gab keine Tränen, schliesslich wurde ihr eine grosse Ehre zuteil. Mit ihrem wenigen Hab und Gut, einige Kleidungsstücke und ihrem Klöppelwerkzeug, wurde sie aufs Schloss gebracht.
Ohne auch nur einen Blick auf das Grafenpaar, geschweige denn auf den Grafen selbst werfen zu können, führte man Evangeline gleich in ihre Kammer. Diese war bescheiden eingerichtet, doch für Evangelines Verhältnisse besser als gut: Eine Kommode mit Porzellanschüssel und Krug zum Waschen, ein Schrank gefüllt mit sauberer Wäsche, und ein wolkenweiches Federbett.
Der Gedanke an das Federbett wärmte Evangeline ein bisschen. Sie wandte ihr Gesicht ab, ihr Blick fiel auf ihre harte Pritsche. Manchmal, wenn der Schmerz und die Kälte sie des Nachts übermannten, sie weinen und schluchzen liessen, versuchte Evangeline, sich die schützende, wohlige Wärme der dicken Daunendecke ins Gedächtnis zu rufen, versuchte, sich an die glücklichen Momente auf dem Schloss zu erinnern. Doch nicht die weiche Umarmung der Federdecke war es, die in ihrem Herzen eine schwelende Glut schürte, nein, die Erinnerung an den Grafen war es, die in ihrem Innern eine Wärme verbreiten liess.
An ihrem ersten Tag auf dem Schloss erwachte Evangeline schon im Morgengrauen. Die Sonne streckte zögernd ihre ersten, goldenen Finger über den Horizont, der blasse lavendelfarbene Himmel färbte sich langsam rosa.
Evangeline war gerade dabei, ihr Bett zu machen, als es plötzlich an der Tür klopfte. Nachdem sie erstaunt ‚Herein’ gesagt hatte, öffnete sich die Tür und der Graf höchstpersönlich trat ein. Vor Schreck hätte Evangeline beinahe das Kopfkissen fallen gelassen. Der Graf hatte sie in seiner Kammer aufgesucht, und das erst noch so früh am Morgen! Sie keuchte und starrte ihn an.
Für seine dreissig Jahre sah er noch erstaunlich jung aus. Die Gesichtshaut war straff, leicht gebräunt und glatt rasiert. Eine markante Nase, leicht asymetrische Augenbrauen, Augen wie zwei glänzende Kohlestücke, ein ausdrucksstarker Mund, ein kantiges Kinn. Das ganze Gesicht eingerahmt von lockigem, dunkelbraunem Haar. Seine Statur war nicht weiter aussergewöhnlich, gross, schlank und muskulös. Er war aber nicht das, was man als schön bezeichnet hätte, jedoch strahlte er eine gewisse natürliche Autorität und Intelligenz aus, ein bisschen Sanftheit lag in seinem Blick.
In Evangeline drin begann sich etwas zu regen, das sie noch die gespürt hatte und auch nicht kannte. Sie wusste, dass es an ihr war, etwas zu sagen, eine Ehrerbietung oder etwas in der Art, doch ihre Kehle schien wie ausgetrocknet, ihre Lippen wie zusammengeklebt. So fiel sie wortlos auf die Knie und senkte den Kopf. Der Graf räusperte sich, Evangeline fasste dies als Zeichen dafür auf, dass sie sich erheben konnte. ‚Ich habe Ihnen Ihren ersten Auftrag’, sagte er. Evangeline zog fragend die Augenbrauen hoch. ‚Meine verehrte Gemahlin ist gestern zur Kur verreist und wird in drei Monaten zurückkehren. Ich wünsche, dass Sie ihr ein Negligée aus Spitzen anfertigen. Ihre Masse und das Material habe ich Ihnen mitgebracht.’ Er stellte den Weidenkorb auf den Boden, den er in der Hand gehalten hatte. Dann fuhr er fort: ‚Sobald Sie den Auftrag erledigt haben, werden Sie das Ergebnis persönlich abliefern. Sie brauchen Ihre Kammer nicht zu verlassen; das Essen wird Ihnen gebracht werden.’ Mit diesen Worten drehte er sich um und verliess die Kammer.
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, musste Evangeline sich setzen. Die Gedanken wirbelten sinnlos in ihrem Kopf herum. Dann, nachdem sie sich wieder gefasst hatte, griff sie zögernd nach dem Korb und hob den Deckel. Sie traute ihren Augen nicht: Mehrere Spindeln feinst gesponnener, schneeweisser Wolle und neues Klöppelwerkzeug lagen auf einem Pergament, auf dem die Masse der Gräfin geschrieben standen. Ohne zu zögern machte Evangeline sich an die Arbeit.
Das silberne Mondlicht liess ihre Zelle in einem seltsamen Glanz erscheinen. Es war nicht die erste mondhelle Nacht, doch Evangeline erschien es, als ob sie das Mondlicht noch nie so intensiv wahrgenommen hätte. Sie hielt sich ihre Hände mit den Handflächen nach innen vor das Gesicht. Sie konnte jede Einzelheit genau erkennen. Die Hände waren klein, die Finger schlank und schmal. Die Fingernägel starrten vor Dreck und Blut. Auf den Handflächen zeichneten sich unter dem Gefängisschmutz die feinen Narben ihrer Arbeit ab. Oft hatte sie sich schon an einer Spindel gestochen, doch niemals wirklich den Schmerz verspürt.
Von der ersten Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang arbeitete Evangeline unaufhaltsam. Vom Leben auf dem Schloss bekam sie beinahe gar nichts mit, ihre Tage bestanden aus dem Anfertigen des Negligées, Essen und Schlafen. Sie klöppelte und nähte, mass und trennte wieder auf, ohne Pause, und bei jedem Stich, bei jeder Spitze, die sie machte, tanzte das Gesicht des Grafen vor ihren Augen.
Sie hatte ihn seit seinem Besuch nie wieder gesehen, doch in jedem Moment sehnte sie sich nach einem Wort, nach einem Zeichen von ihm. Aber Evangeline wusste, dass sie sich nichts einreden, keine Hoffnung machen durfte. Und so machte sie sich nach zwei Monaten harter Arbeit, mit einem wunderschönen, schneeweissen Spitzennegligée vorsichtig in den Armen, auf den Weg zum Grafen.
Noch beinahe nie hatte sie ihre Kammer verlassen, und so irrte sie durch viele hohe, endlos anmutende Gänge, und musste sie sich bei vielen Dienern, Zofen und Wachen zu dem Aufenthaltsort des Grafen. Durch die hohen Fenster in den Gängen flutete das warme, goldene Licht der untergehenden Sommersonne.
Schlussendlich stand Evangeline vor einer grossen, majestätisch wirkenden zweiflügeligen Tür. Die Bibliothek. Evangeline hatte sich sagen lassen, dass der Graf sich jeden Abend dort aufhielt. Schüchtern klopfte sie an die Tür. Sie hörte Schritte, dann wurde schwang ein Türflügel auf. Evangeline zögerte, hörte wieder Schritte. ‚Treten Sie näher’, sagte eine Stimme, die aus einem hohen Sessel am Kamin kam. Der Graf. Vorsichtig und das Gewand wie etwas Zerbrechliches auf den Armen haltend näherte sie sich dem Sessel und fiel mit gesenktem Blick auf die Knie. Sie hörte Stoff rascheln, der Graf erhob sich und kam auf sie zu. ‚Erheben Sie sich’, forderte er sie auf. Evangeline erhob sich mit noch immer gesenktem Blick. Der Graf trat noch näher. Sie konnte seinen Atem hören. ‚Wie ich sehe, haben Sie meinen Auftrag erfüllt. Geben Sie mir bitte das Gewand.’
Evangeline hob den Blick und reichte es ihm. Ihre Knie zitterten, als er das hauchdünne Negligée vor sich in die Luft hielt und es prüfend betrachtete, doch sie wusste nicht, ob es aus Angst vor einer Rüge oder aus purer Nervosität war, die sie immer ergriff, wenn sie in der Nähe des Grafes war. ‚Bezaubernd’, murmelte der Graf leise. ‚Wirklich wunderschön.’ Dann reichte er es Evangeline zurück, ihre Hände berührten sich kurz. Es war, als ob Evangeline von einem elektrischen Schlag getroffen worden war, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte der Graf sie in seine Arme gezogen und seine Lippen auf die ihren gepresst. Das Negligée hatte sie zu Boden fallen lassen, und nun lag es wie eine Spinnwebe zu ihren Füssen.
Sein Kuss brannte noch immer auf Evangelines Lippen. Sachte legte sie einen Finger auf den Mund, als dort noch immer die Süsse, die Intensität fühlbar sein würde, die sie gefühlt hatte.
Evangeline schaute zu den Sternen hoch, die in meilenweiter Entfernung am Himmelszelt funkelten. Genauso hatten seine Augen gefunkelt, als er sie das erste Mal auf sein ausladendes, grosses Ehebett gelegt hatte.
Doch dies war erst der Anfang gewesen. Ihre Affäre zog sich über Monate hinweg, Gräfin Saries Rückkehr hatte sich verzögert. Jede Nacht lag Evangeline an Ilyas Seite, und in so mancher gemeinsamer Stunde klagte er Evangeline sein Leid über seine unglückliche Ehe, die lediglich auf dem Pergament bestand und aus rein zweckerfüllenden Gründen geschlossen worden war. Sarie, seine Gemahlin, die ebenso schön wie böse war, machte ihm sein Leben zur Hölle, nur um sich selbst und ihre Schönheit besorgt und unfähig, ihm einen Sohn zu gebären. Doch Evangeline war, wie er ihr oft zu sagen pflegte, sein Gegenstück, seine grosse Liebe, die Frau seines Lebens. Dies habe er erkannt, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Und so geizte er nicht mit Geschenken und kleinen Zeichen der Zuneigung.
Sie währten sich in Sicherheit, zogen niemals den Gedanken in Erwägung, dass die Kammerzofen lange, braune Haare auf seinen Laken finden und Evangelines Vorzugsbehandlung bemerken würden.
Es dauerte nicht lange, bis Evangelines Monatsblutung ausblieb.
Evangeline stiegen die Tränen in die Augen, als sie an den Tag dachte, an dem sie es Ilya sagen wollte. Sie rutschte der Wand entlang auf den Boden, zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Es war ihr gleichgültig, dass heisse Tränen sich unaufhaltsam einen Weg über ihre eingefallenen Wangen suchten. Schmerzlich wie ein giftiger Dorn brannte die Erinnerung an diesen Tag in ihrem Gedächtnis sowie in ihrem Herzen.
Es war eine Woche nach Gräfin Saries Rückkehr. Strahlend schön wie nie zuvor erfüllte sie das gesamte Schloss mit ihrer Anwesenheit. In jeder Ecke spürte man ihre Präsenz, eine unnatürliche Kälte breitete sich aus.
Und natürlich bedeutete ihre Rückkehr das Ende der Affäre von Evangeline und Graf Ilya, doch Evangeline dachte Tag und Nacht an ihn, sehnte sich nach seinen Umarmungen und Küssen, nach seiner schlichten Anwesenheit. Denn der Graf war seit Saries Heimkehr stets darauf bedacht, Evangeline von sich fern zu halten. So sass sie nun wieder von Morgens bis Abends in ihrer Kammer, stickte, nähte und klöppelte, einerseits Stolas und Taschentücher für die Gräfin, andererseits, im Geheimen, kleine Kleidchen für ihr Baby. Sie hatte es nohc für sich behalten wollen, bis sie sich ihrer Schwangerschaft auch ganz sicher war, und als sie dann die Gewissheit hatte, kehrte die Gräfin zurück und machte ihr einen groben Strich durch die Rechunng. Doch noch mehr schmerzte es sie, dass Ilya sie nicht mehr zu sich rief, nicht einmal, um ihr weitere Aufträge zu schicken. Dies wurde jetzt von einer Zofe Saries erledigt.
Und deshalb staunte Evangeline nicht schlecht, als sie eines Abends eine hastig gekritzelte Nachricht vor ihrer Tür fand. ‚Evangeline, bitte komm schnell in die Bibliothek. Ich muss dir etwas Wichtiges sagen. Ilya’, stand dort. Evangelines Herz begann zu rasen. Was mochte er ihr wohl zu sagen haben? Ob er ihr endlich bestätigen konnte, dass er sie heiraten und mit ihr Kinder haben wolle und sich von Sarie scheiden lässt, wie er es ihr versprochen hatten? Und dann fühlte sie, dass dies der richtige Zeitpunkt war, ihm von ihrer Schwangerschaft zu erzählen.
Hastig fuhr sie sich mit den Händen durchs Haar und warf einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel, den Ilya ihr einst geschenkt. Dann, mit vor Aufregung bis zum Hals pochendem Herzen, eilte sie zur Bibliothek. Bevor sie anklopfte, strich sie sich die Röcke glatt und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Dann atmete sie noch einmal tief durch und klopfte an. Keine Antwort. Nochmals klopfte sie, etwas energischer. Wieder nichts.
Sachte öffnete Evangeline die Tür. Nur das Geräusch des im Kamin prasselnden Feuers war zu hören, die Flammen warfen bizarre Schatten an die mit Büchern vollgestellten Regale. ‚Ilya?’, rief Evangeline leise und schloss behutsam die Tür hinter sich. Wieder keine Antwort.
Erstaunt ging sie zum grossen Sessel vor dem Kamin. Vielleicht kommt er ja später, dachte sie hoffnungsvoll. Er hätte sie nicht grundlos herb-
Evangeline erstarrte, unfähig, einen Laut von sich zu geben. Auf dem Sessel sass, zusammengesunken wie ein Sack Getreide, ihr Geliebter. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken, das dicke Buch auf seinem Schoss war blutgetränkt. Aus einer hässlichen Wunde an seinem Hals sickerte träge tiefrotes Blut. Neben ihm auf dem Boden lag ein kleiner, zierlicher goldener Dolch, verziert mit Diamanten und Rubinen, die sie im Feuerschein geheimnisvoll anfunkelten. Die Klinge war blutverschmiert. Evangeline nahm nur schemenhaft wahr, dass der Dolch ein Geschenk Ilyas an sie gewesen war.
Wie durch Watte hörte Evangeline das Getrampel vieler sich schnell nähernden Füsse. Die beiden Türflügel der Bibliothek wurden aufgestossen, eine Gruppe Wachen stürzte herein, umzingelten Evangeline und fesselten sie grob. Diese, unfähig sich zu wehren, hatte ihren Blick noch immer starr auf ihren ermordeten Geliebten gerichtet.
Dann durchschnitt plötzlich eine schrille, keifende Stimme die Stille. ‚Du Mörderin!’ Sarie. Wie eine Furie, mit wehenden Gewändern und losen Haaren, kam sie ins Zimmer gestürmt. Alle drehten sich zu ihr um. Evangeline riss ihren Blick von Ilya los und richtete ihn auf die Gräfin. ‚Du Hure hast meinen Mann getötet!’, schluchzte diese. Tränen strömten über ihr engelhaftes Gesicht. ‚Nur weil er die belanglose Affäre mit dir beendet hat! Ich habe dich gesehen, wie du dich mit einem Dolch zu ihm geschlichen hast! Und nun... ’ Von Schluchzern geschüttelt sank sie dramatisch zu Boden, ihre Schultern zuckten, Dann reckte sie aber das Kinn und sagte gefährlich leise: ‚Ich verlange, dass man diese Mörderin sofort in den Kerker steckt. Und Todesstrafe, falls sie nicht gesteht.’ Da erwachte Evangeline aus ihrer Erstarrung, und erkannte in Saries Augen, was ihr maskenhaftes Gesicht zu verbergen suchte: Abgrundtiefer Hass. Und an den weiten Ärmeln von Saries fliederfarbenen Gewand klebte Blut.
Sich vor- und zurückwiegend sass Evangeline an der Wand. Ja, dann hatte man sie in diese Zelle im Stadtgefängnis geworfen. Seit diesem Tag war sie nun hier, alleine, verlassen, ohne Hoffnung, nur mit der Gewissheit, dass sie auf ihren Tod wartete. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aufgehört, die Tage zu zählen. Doch irgendwie war es ihr gleichgültig; ob sie nun lebte oder starb, alles von Ilya hatte sie verloren, sie zehrte nur noch an den Erinnerungen an ihn. Nicht einmal sein Kind war ihr geblieben.
Denn als man sie ihn ihre Zelle geworfen hatte, merkte Evangeline, wie ihr etwas Warmes die Schenkel hinab rann. Blut.
Sechs Tage lang sah man nicht nach ihr. Die Zunge klebte ihr trocken am Gaumen, nachdem sie, vor Durst beinahe verrückt geworden, alles Blut vom rauen Steinboden geleckt hatte. Ihr leerer Magen rebellierte, doch Evangeline nahm alles nur schwach wahr. Tag und Nacht weinte sie um Ilya und ihr totes, ungeborenes Baby, sah die Sterne aufgehen und in der Morgenröte wieder verblassen.
Dann, ohne Vorwarnung, wurde am Morgen des siebten Tages plötzlich die Zellentür aufgestossen. ‚Mitkommen’, befahl ein grober, ungepflegter Wächter barsch. Evangeline leistete seinem Befehl ohne Widerstand Folge. Unnötigerweise fesselte man ihr die Hände und brachte sie in die Folterkammer. Ein furchteinflössender, hünenhafter Mann stand an der knisternden Feuerstelle und hielt einen langen Schürhaken in die Flammen.
Evangeline sagte nichts, als man sie grob auf die Folterbank kettete. Kein Ton kam über ihre Lippen, als man ihn das glühende Eisen auf den Bauch drückte. Sie schwieg, als man ihr Salz in die klaffende Wunde streute. Als der Folterknecht sie fragte, ob sie den Mord gestehe, presste sie lediglich hervor: ‚Ich gestehe, dass ich ihn liebe.’ Doch als man sie in ihre Zelle zurückgebracht hatte, stürzte Evangeline zu Boden und schrie und schrie und schrie.
Vorsichtig legte sie ihre Hand auf den Bauch. Die alte Wunde nässte und brannte, doch Evangeline hatte sich schon so an den Schmerz gewöhnt, dass sie es nicht mehr wahrnahm. Am Horizont färbte sich der Himmel schon zartrosa, die Sterne begannen zu verblassen. Evangeline wusste, dass man sie bald holen würde. Doch sie war erstaunlich ruhig. Hier hielt sie nichts mehr; man hatte ihr schon alles genommen. Und schon bald würde sie wieder bei Ilya sein. Sie fühlte keine Sehnsucht mehr nach der Freiheit, nicht einmal Wut auf Sarie. Sie wollte nur noch bei ihrem Geliebten sein.
Evangeline erhob sich und blickte nach draussen. Die Stadt erwachte langsam, ein neuer Tag brach an. Sie hörte Schritte in den Gänge des Gefängnisses, die Tür wurde aufgestossen. Zwei Wachen traten ein. Vollkommen ruhig trat sie den beiden Männern entgegen, die ihr die Hände mit einem Strick fesselten. Noch ein letztes Mal schaute sie zurück in die Zelle, in der sie die letzten Wochen und Monate ihres Lebens verbracht hatte. Dann straffte sie die Schultern, atmete tief ein und folgte den Wachen. Die Tür fiel krachend hinter ihr ins Schloss. Leise verklangen ihre Schritte in den Gängen.