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Im Alleingang
Der linke Ski ist eingebrochen und ich habe das Gleichgewicht verloren. Irgendwie schaffe ich es dennoch, mich nach rechts zu werfen. Ich schlage auf, ohne erneut durchzubrechen, die Eisdecke hält mein Gewicht. Den Ski aus dem Wasser ziehen, dann aus dem Rucksack schlüpfen und ihn zur Seite schieben. Durchatmen. Das rettende Ufer ist zwei Meter entfernt.
Noch während ich dorthin krieche, beginne ich mich über mich und meine Dummheit zu ärgern. Es war ein unnötiger Leichtsinnsfehler, der Felsen war klar zu erkennen gewesen, ebenso die Spur der beiden Rentiere, welche das Eis verlassen hatten. Nur ich Trottel wollte mir ein paar Meter ersparen und breche prompt ein.
Natürlich ist es kalt, der Ski ist unterkühlt und vereist sofort. Wenn ich nicht schnellstes etwas unternehme, wird mich der Belag am weiteren Fortkommen hindern. Mit Hingabe und Hilfe der Stockgriffe kämpfe ich gegen das Eis, als ließe sich durch Beseitigung der Folgen ungeschehen machen, was soeben passiert ist.
Ein frommer Irrglaube, denn die Natur verzeiht keine Fehler, schon gar nicht jemandem, der es besser wissen müsste. Wären wir gemeinsam hier, gäbe es nun ein elendes Gezeter oder einen handfesten Streit. Ich schiebe den Gedanken weg, bevor er ausgewachsen ist. Vorbei ist vorbei. Ich habe mir den Beweis erbracht, auch ohne sie zurecht zu kommen. Nach dieser Tour kann ich mir todsicher sein, auch alleine überleben zu können, sogar in der Einsamkeit dieser Eiswüste.
Ich spüre das Wasser, wie es von den Zehen ausgehend im Innenschuh hochkriecht, nach oben der warmen Mitte meines Körpers entgegen und ignoriere das Gefühl. Eine andere Wahl habe ich nicht. Es wird Tage dauern, bis ich den Schuh wieder getrocknet habe. Schließlich ist wenigstens der Kampf gegen das Eis gewonnen, ich ziehe den getauften Ski wieder an. Nun ist es Zeit für eine Dosis meines Allheilmittels: Vergessen durch Marschieren.
Doch dessen Wirkung hält sich heute in Grenzen. Vor mir breitet sich die unendliche öde Weite einer konturlosen Eisfläche aus, der Himmel hüllt sich in charakterloses Grau und kein anregendes Wolkenspiel will mich ablenken. Ketzerische Gedanken steigen aus den unkontrollierbaren Ecken meines Unterbewusstseins auf. Auch sie mag keine zugefrorenen Seen. Während ich laufe, versuche ich ruhiger zu werden. Hier ist das Eis bestimmt meterdick, das Missgeschick von eben lag an der starken Strömung, welche den Fels umspülte, nicht vergleichbar mit dem unbewegtem Wasser, welches alle Zeit der Welt hatte, zu erstarren.
Ich ramme die Spitze eines Skistockes nach unten, und sauge das zugehörige Geräusch ein. An dieser Stelle klingt es dumpf und solide, aber zehn Meter weiter? Seen sind seltsame Wesen. Die absolute Umgebungstemperatur hat nur bedingten Einfluss darauf, ob sie zufrieren. Es hängt auch ab von ihrer Tiefe, den Windverhältnissen, den Zuflüssen und wahrscheinlich auch ihrer Stimmungslage.
Wie es wohl ihr nun geht? Der Rand der Zivilisation ist nicht mehr weit entfernt, er liegt irgendwo am gegenüberliegenden Ufer des Sees, welches nicht näher kommen will. Vielleicht hätte ich morgen schon die die Möglichkeit, mein Handy anzuschalten und sie anzurufen. Die hypothetische Option, ihr sagen zu können, dass ich auch ohne sie zurecht gekommen bin. Ein seltsamer, fast befremdlicher Gedanke. Spekulationen, Optionen, Theorien. Die große Herausforderung des mit sich selbst alleine Seins ist die Kontrolle der Geistes. Weit weg von aller Zwischenmenschlichkeit erscheint alles denkbar, alles als aussprechbar. Das richtige Verhalten, die richtigen Worte, alles lässt sich zurecht legen, in der Theorie zumindest.
Was war das Hauptproblem der vergangenen Wochen gewesen? Die Nächte, das Fehlen eines Ansprechpartners, die einsamen Entscheidungen, ungewohnt wenig menschliche Wärme während der Sturmtage im Zelt? All dieser Mangel erscheint blass gegen die Vorstellung, das alles nie wieder zu haben. Wirklich nie mehr? Vielleicht gibt es ja die Möglichkeit, die hypothetische Chance, noch einmal mit ihr hierher zu kommen?
Das verdammte Ufer will nicht näher kommen. Warum ausgerechnet heute dieser wolkenverhangene Himmel, das trügerische Eis und der Unfall? Ich komme mir vor, als hätte sich die Welt gegen mich verschworen, wäre auf mein persönliches Unglück aus. Die Dummheit von eben hätte mein Ende sein können, genausogut wie die unwahrscheinliche aber mögliche Variante, an Thymusdrüsenkrebs erkrankt zu sein und es nicht zu wissen. Es hat Tradition, dass Menschen in dieser Gegend umkommen, zum Ärgernis derjenigen, die dieses wundervolle Land Heimat nennen. Von Schlechtwetter überrascht werden, erfrieren, bei Flussquerungen ins Eis einbrechen und ertrinken alles das ist altbekannt hier und kommt regelmässig vor.
Warum war ich nicht erst einmal am Ufer weinend zusammengebrochen? Ich hatte das Eis abgekratzt und mich ohne Pause auf den Weg gemacht. Einerseits unbeeindruckt durch die Beinahe-Katastrophe andererseits getrieben, als wäre etwas hinter meinem Leben her. Laufen, leben, überleben. Wieder muss ich an sie denken. Überleben bedeutet ein Ziel haben.
Will man auf Eisflächen vorwärts kommen, muss man die Richtung halten können. Das Ziel vor Augen zu haben, ist so unverzichtbar wie für den Chirurgen das Röntgenbild, das die Lage des Schattes relativ zur Lunge anzeigt. Solange freie Sicht den Blick auf einen Orientierungspunkt in der Ferne zulässt, ist alles kein Problem. Mit einem klaren Ziel lässt sich auf etwas hinarbeiten. Aber was ist, wenn man kein Ziel mehr erkennen kann? Oder wenn das blanke Eis freigeblasen ist? Bei zuviel Wind hat man dann keine Chance mehr, vorwärts zu kommen und auch sich im Schnee eingraben ist keine Option. Seen können grausam sein.
Einfach den Blick auf das gegenüberliegende Ufer richten, Kurs halten und laufen. Ich erinnere mich an jene denkwürdige Hochwinternacht vor vier Jahren, nur wenige hundert Kilometer von hier. Es war ihre Idee gewesen, zur Zeit maximaler Dunkelheit hierher zu kommen. Die Sonne ging nicht mehr auf, statt dessen bestanden die Tage aus vierstündigem Dämmerlicht.
Gegen Ende der Tour mussten wir einen See queren, es war tiefste Nacht. Ändert sich die Temperatur, arbeitet das Eis, Risse bilden sich. Es hört sich an, als würde ein gigantischer Troll auf das Fell einer überdimensionalen Pauke einprügeln. Was um uns herum in dieser grausamen Nacht geschah, war nicht durch die mageren Lichtkegel unserer Stirnlampen erfassbar, die sichtbare Welt wurde nach wenigen Metern von der Dunkelheit weggefressen. Sie hatte Angst, lief mit Rekordgeschwindigkeit, am Ende einer anstrengenden Tagesetappe hatte ich höchste Mühe, ihr zu folgen und in ihrer Nähe zu bleiben. Am meisten beunruhigten sie die Geräusche, jenes Krachen und Dröhnen, das sie bis zur Panik antrieb. In welchem seltsamen Kontrast stand dazu die Ruhe und Sicherheit, mit welcher sie die Operation und die anschließende Chemotherapie überstanden hatte.
Mein eigener See will nicht enden, das Ufer kommt einfach nicht näher. Mir fallen die Geschichten von den Helden der Arktis ein, welche auf ihrem Weg zum Nordpol gegen die Drift des Eises angelaufen waren in schier übermenschlichen Kraftanstrengungen, des blanken Überlebens willen, die arktische Version des Sisyphos.
Warum komme ich nicht vorwärts? Es gibt nur eine Erklärung: Am Ende dieses Tales muss ein Abgrund liegen, über dessen Kante sich permanent die Schicht dünnen Eises hinabschiebt, herabbröckelnd über den Rand der Welt. Ich laufe also nur gegen die Bewegung des Eises an. Sobald ich anhalte um zu verschnaufen, schiebt mich die Drift dem Abgrund entgegen.
Eine Zone blanken Eises dämmert vor mir herauf, ich bin nun in der Mitte des Sees, dort wo der Wind mit größter Geschwindigkeit durch das Tal fährt. Ein Sturm scheint loszubrechen, der Wind kommt wie immer schräg von vorne. Ich bekomme Probleme, auf den Beinen zu bleiben, auf dem Eis haben die Ski keinen rechten Halt, ich nähere mich der Reibungsgrenze der Felle. Vielleicht hätte ich das Eis nicht abkratzen sollen? Wäre es eine Option, mich umzudrehen und mich vom Sturm treiben zu lassen, in Richtung des Abgrundes, am Ende des Tales?
Ich glaube am gegenüberliegenden Ufer des Sees die Weltesche zu erkennen, ihr dürres Geäst, welches sich im Wind bewegt. Die ersten Nachuntersuchungen hatten gut ausgesehen, doch eineinhalb Jahre später ging alles ganz schnell: Eine zweite Operation war nötig, danach würde eine weitere Chemotherapie folgen.
Die Wolken hängen tiefer nun, fangen an Schnee abzuwerfen. Es ist dunkler als der Uhrzeit entsprechend, das gegenüberliegendes Ufer versinkt in der Konturlosigkeit. So kann ich wenigstens nicht mehr erkennen, wie groß die Zone blanken Eises ist.
Ob sie ihr Ziel vor Augen nun noch sieht? Die Operation müsste nun abgeschlossen sein, man würde ihr einige Tage Zeit geben, sich zu erholen, um so weit zu Kräften zu kommen, bis sie die zweite Runde an Chemotherapeutika verkraften würde. Alles klang so einleuchtend und logisch, als gäbe es keine weiteren Optionen. Ein klarer Plan mit fraglichen Erfolgsaussichten.
Einfach auf das gegenüberliegende Ufer zulaufen. Durchalten und irgendwann ankommen. Ich krame die Skibrille hervor, weil ich den Schmerz der Schneeflocken in meinen Augen nicht mehr ertrage. Um mich herum weiterhin nur blankes Eis, über welches die sturmgepeitschten Flocken wie ein riesiges Leichentuch flattern.
Welche Optionen habe ich noch? Wird der Wind noch stärker, werde ich das ersehnte Ziel am anderen Ufer der Macht des Sturmes opfern müssen. Meine neue Bestimmung wäre dann der Abgrund am Rand des Tales, und ich müsste nicht einmal darum kämpfen, ihn zu erreichen, der Sturm würde mich automatisch dorthin treiben. Am Rand der Welt wird mein Handy nicht funktionieren, ich werde nicht anrufen können, bevor ich über die Kante falle, weder bei ihr persönlich noch bei den zuständigen Ärzten. Seen können grausam sein.