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Im Haus gegenüber

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01.11.2001
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42

Im Haus gegenüber

1.12.01

Sie wohnt seit ich denken kann im Haus gegenüber, ist klein dick und mindestens 70. Ehrlich gesagt habe ich mir nie viele Gedanken über sie gemacht, schließlich gibt es viele kleine, dicke 70 jährige in der Nachbarschaft, und wo würde es hinführen wenn ich über jede davon nachdenken würde. Ich muß aber zugeben, daß sie sich irgendwie immer von den anderen abhob, was uns schon als Kinder zum Lachen brachte, und mich heute oft zum schmunzeln.
Jeden Tag, wenn ich aus der Arbeit komme, sehe ich sie, schwer bepackt mit verschiedenen Tüten und Taschen, deren Inhalt ich nicht einmal erahnen kann. Manchmal lächeln wir uns zu, als wären wir Verbündete, sie mit ihren Taschen, und ich mit meinem Rucksack. Stunden später, wenn ich ausgehungert und erschöpft nach Hause schleiche, meinen Rucksack hinter mir her schleifend, sehe ich sie stets an eine Hauswand gelehnt, ihre Taschen liebevoll mit beiden Armen umschlungen, es sieht aus, als hielte sie ein Kind oder etwas anderes Lebendiges.
Wenn sie das Haus verläßt, macht sie sich meistens zurecht, als wäre sie auf dem Weg zu einem wichtigen Ereignis, mindestens der Hochzeit ihres jüngsten Sohnes oder einer Beerdigung, je nach dem. Aber wenn ich später wieder nach draußen komme, um mit meinem Hund spazieren zu gehen, ist sie noch immer da, sitzt auf der Bank auf der anderen Seite der Straße und wühlt konzentriert in einer ihrer Taschen. Es ist ein Rätsel für mich, warum sie das tut, auf der Bank sitzen und eigentlich nichts tun.
Von meinem Spaziergang komme ich meistens in Eile zurück, weil mein Hund und ich die Zeit vergessen haben, und ich um fünf einen wichtigen Termin habe. Doch wenn ich keuchend vor Anstrengung um die Ecke gebogen komme, von meinem kläffenden Köter mehr oder weniger hinterher geschleift, weil er das alles für ein großes Spiel hält, sitzt sie noch immer auf der Bank und kramt in einer der Tüten herum. Es sieht aus, als suche sie darin nach etwas äußerst wichtigem und manchmal höre ich sie von weitem murmeln, wo sie noch überall suchen müsse.
Gestern kam ich abends noch einmal heraus, um nach ihr zu sehen. Sie saß auf der Bank bis es dunkel wurde, streichelte liebevoll ihre Taschen, bis sie aufstand und langsam in Richtung Hauseingang ging. Es dauerte unendlich lange bis sie ihn erreichte und ich kam ihr entgegen und wir unterhielten uns ein bißchen, bis ich wissen wollte, ob sie denn Kinder habe.
„Meine Tochter ist ehrenamtlich sehr in der Altenhilfe engagiert", sagte sie, sagte es voller Stolz und Euphorie, und machte mich nachdenklich.


Claudia Lichtenwald

 

Hallo ClaudiaLichtenwald,

eine gute Pointe: "Ehrenamtlich in der Altenhilfe engagiert" und dabei die eigene Mutter vergessen! Das Förmliche des Engagements zeigt sich auch in der Förmlichkeit der Formulierung. Die "Altenhilfe" ist eine Organisation, die sicherlich in der Gesellschaft sehr Positives bewirkt, aber eben organisiert, institutionalisiert, im Klima persönlicher Anonymität und der Fremdheit. So wenigstens kommt es aus diesem Text auf den Leser herüber. Die Wirklichkeit kann wohl in vielen Fällen ganz anders sein. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter hingegen, das wäre als Gegensatz die denkbar engste Verbindung. Ein kurzer und griffiger Text, der sehr nachdenklich stimmt.

Viele Grüße

Hans Werner

 

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