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Im Lande des Bären
Es waren Touristen. Ausländische Jugendliche, die mit ihren Rucksäcken den Weg hinauf keuchten. Wer hätte gedacht, daß der Anstieg so lang sein würde?
„Wie weit ist es noch bis oben?“, fragte eines der beiden Mädchen.
„Nicht mehr weit“, sagte einer der Jungen, ohne sich herumzudrehen. Das hätte Kraft gekostet. Er lief hinter seinem Freund, aber noch vor den Mädchen.
„Das hast du schon vor einer Stunde erzählt“, maulte die Zweite. Und man konnte hören, wie sie ihm die Schuld an dem beschwerlichen Weg gab.
„Es kann gar nicht mehr weit sein“, meinte er zuversichtlich und fügte für sich hinzu. „Nach allem was wir schon zurückgelegt haben.“
„Und was ist, wenn wir es nicht bis zum Lager schaffen?“, fragte wieder die Erste, bemüht nicht den Anschluß zu den beiden Jungen zu verlieren.
„Dann müssen wir eben wild campieren“, der, der bisher geschwiegen hatte, blickte vielsagend zu seinem Kumpel.
„Das ist aber gefährlich!“, sagte das Mädchen. „Habt ihr nicht die Schilder gesehen, die auf Bären hinweisen? Alle drei Kilometer so ein Schild, das ist doch nicht normal, oder? “
„Achwas“, sagte der eine. „Ich habe noch keine Zeichen von Bären gesehen. Hier steht´s“, er nutzte die Möglichkeit, seinen schweren Rucksack abzunehmen, um den Reiseführer einer Seitentasche zu entnehmen, „blabla ... hier... >>Anzeichen für Bären sind häufig große Kothaufen, Fuß- und Kratzspuren<<."
Er schloß triumphierend das Buch. "Ich habe noch gar nix davon gesehen. Den ganzen Weg über. Ich glaube wir werden wohl wild campieren müssen.“
Er steckte zufrieden das Büchlein weg. Soeben kam sein Freund den Weg wieder hinab. Jenr war weitergelaufen, um hinter der Biegung die Möglichkeit eines kleinen Geschäftes zu nutzen. Aber scheinbar war ihm etwas dazwischen gekommen.
"Kannst Du mal kurz kommen?“ nuschelte er und wandte sich von den Mädchen ab.
„Was ist denn los?“, der Angerufene blickte überrascht zu seinem Gefährten. "Soll ich Dir irgendwas halten?"
Es war sonst gar nicht dessen Art, bereits gelaufene Meter wieder zurückzukommen.
„Quatsch. Komm´ doch einfach mal mit! Laß deinen Rucksack ruhig hier.“
„Ist was?“, fragte eines der Mädchen.
„Wir müssen ... äh... uns noch mal einnorden. In die Karte hier!“, er fummelte hektisch am Rucksack herum und murmelte, „Da vorne hinter der Biegung.“
„Aber Norden ist doch dort drüben“, sie deutete zum Bergkamm, dessen schneeweiße Spitzen das Sonnenlicht zurückwarfen. „Es ist kurz nach Mittag und wenn die Sonne im Süden ist, dann...“
„Jaja, aber wir müssen das jetzt mal ganz genau machen“, antwortete der Junge seinen Freund hinter sich her ziehend.
2 Monate davor
Er stand eine Weile auf der Anhöhe und betrachtete sinnend den Fluß. Das Wasser war reißend und schäumte von den Abfällen der Holzfabrik. Poak Nem Mimku hieß auf indianisch „Der Fischreiche“. Wann hatten sie das letzte mal genug Fische gefangen, um satt zu werden? Der Kriegername des Mannes war Pun Kom. Das bedeutete „Der Speer, der nie daneben geht“.
Früher hatten sie die Fische so fangen können. Mit dem Speer und an guten Tagen mit der Hand. Wie die Generationen vor ihnen. Heute mußten sie Netze auslegen, die regelmäßig rissen, wenn flußaufwärts das Sägewerk seine Reste entsorgte. Oder sie bekamen Ärger mit den Tierschützern, die peinlich darauf achteten, daß die dezimierten Fischschwärme zu ihren Laichgründen kamen. Aber wie sollte das Volk der Uglu sonst satt werden? Außer dem Fluß gab es nichts, was sie ernähren konnte. Vor 20 Jahren hatte einer der Häuptlinge das karge Reservationsland flußabwärts an einen landwirtschaftlichen Betrieb verkauft, um diesen abgelegenen Flecken 200 Meilen flußaufwärts in den Rocky Mountains zu erwerben. Er war tüchtig damals. Sie nannten ihn Mak Wit Scha „Der mit dem Kopf jagt“.
„Fische können wir auch dort jagen“, hatte Mak Wit gesagt und dann sprach er von Öl in den Rockys und wie sie alle reich werden konnten, mit dem schwarzen Gold. Aber es gab kein Öl in der Rockys. Jedenfalls nicht auf dem Land, das dann den Indianern gehörte. Die Expertise, die Grundlage für den Vertrag war gefälscht worden und die Firma, die sie angefertigt hatte, war schon längst aufgelöst, als man dahinter kam. Mak Wit Scha klagte, doch bevor der Prozeß begann, wurde er in der Stadt von einem Auto erfaßt. Ein Unfall. Der Fahrer betrunken. Man schrieb, der Indianer hätte nicht richtig aufgepaßt, als er in der Stadt unterwegs war. Ohne ihren Anführer einigte sich Ältestenrat auf einen Vergleich. Der Staat sicherte eine einmalige Zahlung von zwei Millionen an die Uglu zu, aber was sollten sie mit dem Geld auf diesem Land machen? Wieder tagte der Rat und es wurde beschlossen, das Geld aufzuteilen. Der Stamm löste sich auf. Viele gingen in die Stadt. Nur eine kleine Gruppe, überwiegend Alte, war noch vom einst so großen Stamm der Uglu geblieben.
Pun Kom schaute noch einmal auf das braune Wasser. Er trug die Verantwortung für diese Menschen. Vor all den Ahnen war er verantwortlich und es bereitete ihm Sorgen, daß das verbleibende Geld, das jeder von seinem Anteil eingebracht hatte, immer knapper wurde. Irgendwann würde es alle sein und dann? Er drehte sich abrupt um und ging zum Lager zurück. Acht Zelte standen auf der Anhöhe. Aus dreien drang Rauch. Es war Spätsommer und er spürte, es würde einen langen Winter geben. Einige Kinder spielten lärmend auf der Wiese. Das waren die Familien von Wot Kam (Großer Durst) und Mît Quem (Rollender Stein). Sie vertrauten Pun Kom.
„Dir wird schon was einfallen“ pflegten sie zu sagen, wenn er sie um Rat fragte.
Vor einem der Zelte saß Pun Koms jüngste Tochter Ha Weih (Morgenstrahl). Sie war so stark beschäftigt, daß sie das Nahen des Vaters nicht bemerkte.
„Was machst Du da?“, fragte er.
„Ich kratze.“
„Das sehe ich. Aber warum kratzt du in diesem Topf?“
„Weil noch etwas drin ist“, sagte sie und ließ den Holzspan voller Elan rußgeschwärzten Gefäß kreisen. Den Vater würdigte sie keines Blickes.
Pun Kom trat kopfschüttelnd ins Zelt, um seine Frau zu befragen.
„Sag, mal“, fragte er Oh Lala (Ewiges Lächeln), „Ihr seid schon mit Essen fertig? Was gab es denn? Und warum habt ihr mich nicht geholt?“
„Es gab noch nichts“, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln. „Ich bin gerade dabei die Erbsen zu schälen. Es sind übrigens nicht mehr viele da.“
Pun Kom überhörte die letzten Worte.
„Und warum kratzt sie dann im Topf?“
„Was?“
„Sie kratzt den Topf aus.“
„Wer?“
„Unsere Tochter!“
„Nein!“, Oh Lala rannte aus dem Zelt und nahm ihrer Tochter das Geschirr aus der Hand. „Ich hab´ Dir doch gesagt, daß Du das nicht machen sollst.“
„Aber ich hab´ Hunger!“
„Du solltest den Topf abwaschen gehen! Im Fluß! Und nicht auskratzen.“
„Wenn ich aber...“
„Du sollst endlich mal das machen, was ich Dir sage!“
Pun Kom war hinzugetreten und legte seinen Arm um seine Tochter.
„Eine Mahlzeit am Tag ist vielleicht doch zu wenig für Dich, mmh.“
„Ja“, Ha Wei nickte ernst. „Bei Tom gibt´s zweimal was.“
„Tom?“, Pun Kom sah hilfesuchend zu Oh Lala.
„Der Sohn von Wot Kam“, sie nickte in Richtung des Zeltes.
„Und was bedeutet das: TOM?“
„Nichts“, antwortete statt dessen Ha Weih. „Es bedeutet nichts. Es ist ein Name. Einfach nur ein Name.“
„Aha“, brummte Pun Kom düster.
„Wieso gibt´s bei Tom mehr, als bei uns?“, fragte seine Tochter.
„Weil wir für den Winter sparen“, antwortete Oh Lala. „Weil wir im Winter mehr essen wollen, weil es dann kalt wird.“
„Aber Ihr gebt den anderen sowieso wieder von unseren Vorräten ab“ klagte Ha Weih. „Weil die nichts haben, weil sie nicht gespart haben.“
„Das ist so...“, begann Pun Kom und dann sah er wieder diese fragenden Kinderaugen und sein Herz ballte sich zusammen und er wußte nicht, was er sagen sollte.
Er machte sich los und stapfte davon.
„Was ist mit Vati?“, fragte Ha Weih.
„Das ist die Verantwortung“, sagte Oh Lala und sah stirnrunzelnd ihrem Mann hinterher.
„Was ist das?“
„Das ist, was man nicht teilen kann, weil alle es wieder zurückbringen, weil sie es nicht haben wollen.“
„Und warum nicht?“, wollte Ha Weih wissen.
„Weil es zu schwer ist.“
„Aber wenn es doch viele tragen, dann ist es doch nicht so schwer für jeden?“, das Mädchen spielte mit seinen langen schwarzen Zöpfen.
„Wenn nur alle so schlau wären, wie du“, murmelte Oh Lala und ging zurück ins Zelt, um die restlichen Erbsen von der harten Schale zu befreien.
Inzwischen war Pun Kom am Zelt von Wot Kam angelangt. Er fand den Gesuchten rauchend im Inneren. Wot Kam trug nicht mehr die traditionelle Kleidung. Er hatte einen Großteil seiner Sachen in der Stadt verkauft, um seine siebenköpfige Familie ernähren zu können. Manchmal streifte er mit seinen drei Söhnen durch die Wälder auf der Suche nach Dachsen, Füchsen oder Vögeln. Doch ihnen fehlte die Übung. Meistens kamen sie mit leeren Händen zurück, zumal die alte Flinte zur Jagd nicht zu gebrauchen war. Außerdem war dies ein Naturschutzgebiet, wo der Schußwaffengebrauch untersagt war. Zum Glück ließen sich die Ranger hier seltener blicken. Und doch hockte Wot Kam die meiste Zeit im Zelt und döste vor sich hin. Solange er etwas zu essen hatte, war das Leben für ihn angenehm. Ihm reichte einfach, am Leben zu sein.
„Kann ich mit Dir reden?“, fragte Pun Kom vom Eingang her.
„Pun! Na klar, komm´ rein“, Wot Kam schlug die Decke zurück und begann sich hingebungsvoll zu strecken.
„Wir brauchen mehr Vorräte“, begann Pun Kom.
„Nein nicht schon wieder!“, Wot Kam klatschte in die Hände und hob den Blick seufzend zur Zeltplane über sich. „Fang´ nicht damit an! Die Jungs sind draußen und suchen die Fallen ab. Die Mädchen sind mit den Pilzkörben unterwegs. Die Netze hängen im Fluß. Was sollen wir noch...“
„Ich weiß nicht, ob es reicht.“
„Das hast Du bisher immer gesagt“, rief Wot Kam. „Und bisher haben wir es immer geschafft. Gemeinsam.“
„Aber der Winter scheint dieses Jahr früher zu kommen. Ich habe gestern morgen gesehen, wie sich die Vögel jetzt schon sammeln. Einige Blätter sind bereits abgefallen, der Wind ist ungewöhnlich kalt für die Zeit. Es wird ein langer, harter Winter.“
„Ach was, wir haben noch Sommer. Erst kommt der Herbst und dann...“
„Es wird sehr schnell Winter, wie du weißt.“
„Ja und? Was sollen wir deiner Meinung nach tun?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht suchen wir uns doch eine feste Behausung. Da ist immer noch diese leere Lagerhalle...“
„Und die Miete? Hast du gehört, was der für den Winter verlangt hat? 30000 Dollar für vier Monate!“
„Wir sind auch 48 Leute.“
„Aber er braucht die Halle doch nicht!“
„Doch, er könnte LKW´s reinstellen. Die bringen ihm 30000.“
„Sind wir etwa Maschinen, die man einfach so reinstellen kann und Geld kassieren? Soll er die doch nehmen! Wir werden es schon schaffen... gemeinsam.“
„Mmh. Wir haben weniger Vorräte, als im letzten Jahr.“
„Weil die Kartoffeln auf dem Kartoffelacker nichts geworden sind!“
„Weil Ihr sie zu früh ausgegraben habt!“
„Wir hatten Hunger!“ Wot Kam wurde lauter. Wieso hatte er immer das Gefühl für irgendwas die Schuld zu bekommen.
„Es hat keinen Zweck, zu streiten“, beschwichtigte Pun Kom seinen Freund. „Vielleicht sollten wir doch noch einige Säcke Maismehl in der Stadt kaufen.“
„Und was ist mit diesen...Z i n t en.“, Wot Kam hatte Probleme mit dem unbekannten Wort. „Du sagst immer, wir bekämen dann weniger davon.
„Das ist richtig. Aber lieber weniger Zinsen, als verhungern.“
„Ach Du wirst schon das Richtige tun“, lachte Wot Kam. „Du bist der Chef, Pun. Wir vertrauen dir!“
Pun Kom wollte aufbrausen. Die Gespräche endeten immer so! Jedesmal, wenn Entscheidungen zu fällen waren, kamen diese Sprüche.
Doch vor dem Zelt gab es einen Tumult. Irgend etwas war im Gange.
Die beiden Männer rannten hinaus. Ein kleiner, magerer Junge sprang vor dem Zelt umher und brabbelte gestikulierend auf die Umstehenden ein.
„So ein großer...mindestens.... wenn nicht...ach was sage ich... er ist sooooo.“, er machte eine ausladende Geste. „Nein noch viel mehr!“
„Was ist Tom? Was machst Du so einen Aufruhr?“
„Daddy, Daddy“, der Junge war so in Aufregung, daß er ganz vergaß, daß sein Vater diese Anrede gar nicht mochte. „Ein Bär! Ich habe einen Bären gesehen.“
„Was ein Bär? Ein ... Oh... Ein Bär!“ ein Murmeln ging durch die Anwesenden. Niemand wußte so recht, was das zu bedeuten hatte.
„Das kann nicht sein!“, brummte Mît Quem, der sich hinzugesellt hatte. „Die Bären sind in diesen Breiten gar nicht mehr anzutreffen. Höchstens drüben, auf der anderen Seite vom Pass.“
„Aber wenn ich´s doch sage!“, rief Tom und stampfte mit dem Fuß auf. „Ein Riesenvieh. So einer!“
Er breitete die Arme aus.
„Und wo?“
„Drüben bei der Buche, wo der Blitz vor drei Wochen eingeschlagen hat.“
„Und du hast einen Bären dort gesehen? So nah am Lager?““
„Jadoch!“
Die Leute wurden unruhiger.
„Kann nicht sein“, wiederholte Mît Quem. „Von dort aus hätte er den Rauch gewittert und außerdem wagt sich kein Bär so nah an die Menschen heran. Wann war das?“
„Gestern oder vorgestern.“
„Also wann denn nun?“, kam es voller Ungeduld aus aller Munde.
Tom kratzte sich am Bauch und stellte sich nachdenklich auf die Außenseite seiner nackten Füße.
„Na was?", Wot Kam war´s peinlich, wie sein Sohn sich vor all den anderen in Widersprüche verwickelte. "Weißt Du etwa nicht wann?“
„Naja. Ich weiß eben nicht von wann die Fährte ist. Sie ist noch frisch, aber...“
„Die Fährte?!“, einigen fiel ein Stein vom Herzen. Für die meisten war das Thema damit beendet und sie begaben sich zu den Zelten, um die liegengelassenen Tätigkeiten wieder aufzunehmen.
Mît Quem trat näher an den Jungen heran.
„Du hast also eine Bärenfährte gefunden an der alten Buche?“
„Ja!“, Tom strahlte, weil ihn endlich jemand ernst nahm. „Er war soooooooooo groooß....“
„Jaja. Und sonst?“
„Was?“
„War sonst noch was da?“
„Wie?“, der Junge geriet in Verlegenheit.
Bären kannte er mehr oder weniger nur aus den Erzählungen der Alten. In der Umgebung hatten sich die Braunbären weit hoch in die Berge zurückgezogen, nachdem vor 50 Jahren die Urbanisierung begonnen hatte. Und doch hatten die Älteren das Wissen an die Jungen weitergegeben. Bei Tom war aber noch nicht viel hängen geblieben.
„Na Kratzbäume oder Kothaufen“, forschte Mît Quem.
„Nöööö“, Tom war sich eigentlich sicher.
„Gar nichts?“
„Nein!“, kam es nun bestimmt von unten her.
„Was hältst Du davon, wenn wir´s uns mal ansehen?“, Mît Quem sah zu Pun Kom, dessen Stirn Sorgenfalten zeigte.
Wenn es tatsächlich ein Bär gewesen sein sollt, war er allein? Und bedeutete das Gefahr für die Frauen und Mädchen, die da draußen Beeren und Pilze sammelten?
Pun Kom nickte und gemeinsam mit Wot Kam, der natürlich wissen wollte, was sein Sohn da gefunden hatte, machten sich die Männer und der Junge auf den Weg zur alten Buche.
Es waren ungefähr 500 Meter, die die Indianer im Laufschritt zurücklegten. Schließlich bestand direkte Gefahr für alle, falls der Junge Recht haben sollte. Niemand konnte dann mehr unbesorgt im Wald Beeren sammeln, wenn ein Bär sich so nah an das Lager herantraute. Eigentlich war Tom beim Spurenlesen immer sehr erfolgreich gewesen. Und gerade dies konnte Pun Kom nicht beruhigen. Als sie an der Buche anlangten, führt der Junge sie zu der Stelle.
„Das ist es!“
Mît Quem, der Erfahrenste, warf einen kurzen Blick auf den Abdruck und seine Miene spiegelt Entsetzen wieder.
„Das ist ohne Zweifel ein Abdruck, der dem einem Bären gleicht.“
„Einem großen Bären.“, setzte Tom hinzu, ohne die Miene zu verziehen.
„Jaja. Riesig muß er wohl sein, aber was mich stutzig macht, sind die fehlenden Abdrücke der Krallen.“
„Die Krallen?“, Wot Kam, betrachtete interessiert die Vertiefung. Auch für ihn war es ohne Zweifel eine Bärenfährte. Diese Umrisse waren einfach charakteristisch.
„Ja. Die Sohle sieht man sehr schön, aber wo bitte sind die Abdrücke von seinen 5 Zehen? Ich sehe bloß zwei undeutliche. Wo sind die anderen?“
„Keine Ahnung. Vielleicht hat er die anderen eingezogen?“
„Und dann macht mich noch folgendes stutzig. Dieser Abdruck hier hat sich so gestochen scharf in den Boden eingedrückt. Aber wieso ist es bloß einer? Ist der Bär auf einem Bein gehüpft? Der Boden hier ist so weich, daß man auch noch andere Abdrücke sehen müßte, was aber nicht der Fall ist...“
„Und was kann man daraus schließen?“, fragte Pun Kom.
„Ich weiß nicht...“, murmelte Mît Quem. „Es ist sehr mystisch. Vielleicht sollten wir die Umgebung nach weiteren Spuren durchkämmen. Am besten jeder nimmt sich eine Fläche von 20 mal 20 Schritten. Irgendwas muß doch noch zu sehen sein.“
Sie trennten sich und begannen den Waldboden systematisch abzusuchen. Jeder starrte konzentriert auf die Erde zu seinen Füßen. Manchmal gingen sie in die Hocke, um die Spur eines Marders oder Fuchses genauer zu betrachten. Keiner schien jedoch weitere Anzeichen zu finden, die ebenfalls den Schluß auf das Vorhandensein von Bären zuließen. Bis Wot Kam einen lauten Pfiff ausstieß.
Die drei anderen rannten in die Richtung. Wot Kam stand vor einer Stelle die den Blick auf die weiche Muttererde zuließ. Und gerade dort prangte ein haarscharfer Abdruck, wie eben jener an der Buche.
„Mein Gott, der ist ja ganz frisch“, rief Mît Quem erschrocken aus, als er die Kanten des Umrisses untersuchte. "Kann maximal in den letzten drei Stunden entstanden sein.“
„Irrtum, mein Lieber“, lächelte Wot Kam. „Der ist fünf Minuten alt.“
„Was?!!“, die Indianer blickten entgeistert auf den lachenden Mann, der sich gar nicht wieder fassen konnte.
„Stellt euch vor, ich bin ein Bär“, prustete er, hob den Holzpfahl, den er in der Hand hielt und rammte ihn neben der Fährte in den Waldboden. Dann hob er den Stock hoch und zum Vorschein kam der gleiche Abdruck, wie sie ihn schon zweimal gesehen hatten.
„Was soll denn das?“, fragte Pun Kom.
„Das ist Euer Bär“, lachte Wot Kam. „Dieser Aststumpf hier ist wie ein Stempel. Er macht die Abdrücke. Scheinbar ist er durch den Wind in den letzten Tagen so unglücklich von der Buche abgebrochen, daß sein Abdruck so aussieht wie der eines Bären.“
„Aber wie...“
„Als ich nix fand, bin ich noch mal zum Abdruck an der Buche zurück und sah die Schleifspur die davon ausging. Die haben wir in unserer Aufregung ganz übershen. Also bin ich ihr gefolgt und bin auf diesen Stumpf hier gestoßen. Muß wohl von einem Fuchs bis hierher geschleppt worden sein, bevor er ihm zu schwer wurde. Ist ja auch ganz schön schwer.“
Wot Kam wog das massive Holzstück in der Hand.
„Das heißt, wie haben es mit einem Aststummel zu tun?“
„So ist es.“
„Und wir wären darüber beinahe in Panik ausgebrochen?“
„Scheint so.“
Die drei Männer begannen zu lachen. Tom lachte nicht, sondern betrachtete traurig den Ast, der auf so wunderliche Weise vom Baum gefallen war. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn es tatsächlich ein Bär gewesen wäre.
„Schade“, sagte er. „Haben wir doch keine Bären hier.“
„Wieso bist du darüber so traurig?“, wollte Pun Kom wissen, dem sichtlich ein Stein vom Herzen gefallen war.
„Na drüben, jenseits des Passes, da haben sie Bären und die Hûinti-Indianer verkaufen Bärenkrallen und Glocken an die Touristen. So haben sie genug Geld in die Kasse. Und wir, was haben wir? Einen Baumstumpf!“
Wot Kam betrachtete zuerst seinen Jungen und dann das Holz in seiner Hand.
„Naja“, meinte er dann gedehnt. „Eigentlich wissen das ja nur wir....“
Die Jugendlichen standen vor einem Haufen Bärenkot. Einige Fliegen krochen darüber hinweg und wunderten sich. In der Umgebung des Haufens konnte man mit geübtem Blick ziemlich große Bärenspuren erkennen.
„Ihr wolltet also nicht, daß wir das sehen, mmh?“, fragte das Mädchen gerade. Sie war ziemlich blaß.
„Naja“, sagte der Junge. „Damit Ihr Euch keine Sorgen macht.“
Auch er hatte nicht gerade viel Farbe im Gesicht. Er verglich gerade die Abbildung in seinem Reiseführer mit der harten Realität.
„Na toll. Scheinbar isses das, wofür ich´s halte.“
„Und wir sollten also nix erfahren“, sagte das Mädchen.
„Ja. Und es ist auch so unauffällig, wenn unsere Beschützer sich plötzlich davonmachen, um sich einzunorden und ich den Kompaß habe“, fügte die andere hinzu.
„Schön, schön. Und was machen wir jetzt?“
„Keine Ahnung. Gehen wir zurück?“
„Na vielen Dank! Vielleicht haben die Viecher schon die Witterung aufgenommen und warten jetzt auf´s Abendbrot!“
„Scheiße!“
„Du sagst es!“, pflichtete er seinem Freund bei.
„Schaut mal, da ist doch noch ein Schild. Was steht da? >>Bear-Survival-Camp 0,7 miles<< Mensch, das ist unsere Rettung!“
So schnell hatten sie noch keine Strecke mit Rucksäcken zurückgelegt. Die Mädchen langten als erstes an der Hütte an, in der ein Indianer saß und in Ruhe seine Pfeife rauchte. Unruhig erwarteten die beiden ihre männlichen Begleiter die mit hochrotem Kopf anlangten.
„Hi“, begann der erste keuchend auf englisch. „Wir brauchen ganz dringend etwas gegen „big, dangerous bears.“ Er zeigte mit den Armen, was für Kaliber er im Sinne hatte.
„Mmh“, nickte Wot Kam bedächtig, die letzten Tage hatte er sein Englisch wieder aufgefrischt. „Das ist gut. Denn zur Zeit haben sie Brunftzeit. Sehr gefährlich. Vor allem die Weibchen. Letztens hat es einen Ranger erwischt, der sich nicht an die Vorschriften hielt...“
„Was sagt er?“, fragte eines der Mädchen.
„Äh...Er kann uns helfen“, übersetzte der Junge und an den Indianer gewandt fuhr er fort, „Wie können Sie uns helfen?“
„Damit“, der Indianer bückte sich und stellte vier Glöckchen vor den Touristen auf den Verkaufstresen. „Kosten bloß fünf Dollar das Stück.“
„Fünf Dollar?“, fragte Moritz, der das verstanden hatte.
„Na so viel wird ihnen doch ihr Leben lieb sein?“, brummte der Indianer.
„Und die helfen?“, die Touristen waren skeptisch.
„Kommt mal mit“, sagte der Indianer und führte sie zu einem Kratzbaum, 100 Meter von der Hütte entfernt. Dort war die Erde aufgewühlt, wie nach einem Kampf. Hier und da konnte man jedoch noch Tatzenabdrücke erkennen, die denen im Reisebuch nicht unähnlich waren.
„Das ist ein Kratzbaum“, erklärte der Indianer. „Damit markieren sie ihr Revier. Wie man sieht, geht es nicht näher an die Hütte heran, weil ich jeden Tag einmal bimmle.“ Der Indianer holte seine Klingel unter dem Rock hervor und schüttelte sie bedächtig. „Das hält sie mir vom Leibe.“
„Ehrlich?“
„Habt ihr vielleicht einige Kothaufen gesehen auf dem Weg? Und seht ihr hier welche?“
„Ich nehm´ zwei“, erklärte das erste Mädchen und kramte nach dem Geld. „Für jedes Bein eine.“
„Wir auch“ nickten die Jungen.
Auch das andere Mächen hatte nach den Scheinen gefahndet und holte jetzt einen von ihnen heraus. „Ich nehm´ noch eine mit als Souvenier.“
„Und ich nehm noch die Bärenkette hier“, erklärte der Junge. Er war der Ansicht, daß diese ihn auf alle Fälle männlicher machen würde, wenn er sie trüge. Und außerdem konnte er sie immer herausholen, wenn er von dem Bärenabenteuer erzählte.
Der Indianer kassierte gutgelaunt.
„Wie weit ist es eigentlich noch bis zum Zeltplatz?“, fragte der zweite Junge und schaute besorgt auf die Uhr.
Der Indianer wiegte den Kopf.
„Etwa noch zwei Stunden Fußmarsch.“
„Und das durchs Bärengebiet!“, rief er und band sich schnell seine Lebensretter um die Knöchel.
Die anderen taten es ihm nach. Dann verabschiedeten sich die Wanderer von dem freundlichen Indianer und machten sich bimmelnd auf den Weg.
„Ring the bell“ rief Wot Kam hinter ihnen her.
„Ja ring the bell“, wiederholte der Tourist und stampfte auf, als er eines weiteren Bärenhaufens ansichtig wurde.
Aber irgendwie fühlten sie sich jetzt schon viel sicherer.
Abends trafen sich die Indianer an Wot Kams Souvenir-Hütte.
„Na Wot Kam“, begrüßte ihn Pun Kom, „wie lief´s heute?“
„Ich hab´ wieder zehn Glocken verkauft. Und noch einige Souveniers. Macht einen Reingewinn von 47 Dollars.“
„Sehr gut“, sagte Mît Quem. „Allerdings bin ich der Meinung, daß Tom es ein wenig übertreibt mit den Bärenhaufen. Man könnte ja denken, die haben Durchfall unsere Bären.“
„Was kann ich dafür, wenn Ha Weih zu viel davon anrührt“, verteidigte sich der Junge. „Außerdem macht sie viel zu viele Wildbeeren rein. Etwas mehr Erde und Gras dazu wär´ besser. Es muß so aussehen, wie in den Büchern der Touristen.“
„Na wenn Du das sagst“, lachten die anderen. „Du bist ja der Spezialist für Bären.“