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Im Landl
Das Straflandesgericht, ein länglicher grauer Block im 9. Wiener Gemeindebezirk, befindet sich passenderweise auf der Landesgerichtsstraße und ist der letzte Straßenabschnitt der sogen. 'Zweierlinie'. Die Zweierlinie ist eine stark frequentierte Straße, die an der Grenze zum 1. Bezirk, dem Zentrum Wiens, verläuft und den östlichen mit dem westlichen Teil der Stadt miteinander verbindet und wird so genannt, weil früher dort die Straßenbahnlinien E2, G2 und H2 gefahren sind und in Erinnerung an diese Verkehrsmittel heute unter dem Straßenverlauf die U-Bahn mit der Nummer 2 verläuft, die U2 eben. (Nicht zu verwechseln mit der ähnlichklingenden Disco U4, die schon von Falco, Prince und Jonny Depp frequentiert wurde, aber nicht dort zu finden ist, sondern in Meidling, dem 12. Bezirk, Heimat des berühmten Meidlinger 'L' – Wiener wissen wovon die Rede ist).
Befährt man diese Straße, wenn möglich nicht zur Rush-hour, kann man einen guten Eindruck Wiens und seiner Kultur gewinnen. Sie beginnt am Getreidemarkt, an der Grenze zum Naschmarkt, dem traditionsreichsten Markt der Stadt. Dort kann man vom ausgefallenen Gemüse, wie Aguras, über frische Goldbrassen oder Seewölfe, bis zu jeglichen Sorten von Fleisch und Gewürzen alles erstehen, was einer leidenschaftlichen Köchin das Herz höher schlagen lässt. Alleine dort entlang zu schlendern und die Düfte und das Geschrei der Verkäufer auf sich wirken zu lassen, ist eine Wienreise wert. Nirgends wird man so frischen und saftigen Kebab bekommen, das noch Stunden später mit einem spricht, oder gegrillte Käsekrainer, von Wienern geradezu liebevoll 'Eitrige' genannt, weil der heiße, aus der Wurst quellende Käse eben wie Eiter aussieht. Unter den Bauarbeitern hat sie jedoch auch den anderen, viel ungustiöseren Namen 'Tripperpeidl'.
Die Zweierlinie führt weiter an der großen Einkaufsmeile, der Mariahilfer Straße vorbei, die erst vor ein paar Jahren erweitert und hergerichtet wurde, am hippen Museumsquartier, wo sich nicht nur zwei der besten Kunstsammlungen Wiens befinden, sondern auch Cafés und Bars, die von der alternativen Schickeria als Treff- und Verweilpunkt auserkoren wurde. Vis-à-vis befinden sich im Gegensatz dazu zwei altehrwürdige, jedoch etwas in die Jahre gekommene Museen, nämlich das Kunsthistorische und das Naturhistorische Museum, die zeitweilig sogar als Clubbing Locations genutzt wurden.
Fährt man weiter, kommt man am Volkstheater, das sich unterhalb des bohèmen Spittelberg befindet, an diversen Palais', wie dem Palais Auersperg, wo so mancher Ball organisiert wird, wie das 'Theresianisten Picknick', der Privatball der prestigeträchtigen Theresianischen Akademie, oder dem Justizpalast vorbei, wo sich die höheren Wiener Zivilgerichte befinden und mündet letzten Endes am eingangs erwähnten Straflandesgericht. Das Ehrfurcht gebietende 'Graue Haus', oder auch 'Landl' genannt, beherbergt nicht nur das namengebende Gericht, sondern, nachdem aus politischen und fiskalen Gründen der Jugendgerichtshof geschlossen wurde, auch das Jugendstrafgericht und eines der größten Gefängnisse innerhalb der Stadtgrenzen. Im gleichen Gebäudekomplex ist sogar das Arbeits- und Sozialgericht eingerichtet, aber genauso gut könnte es sich in Voralberg, dem westlichsten Bundesland Österreichs befinden, denn zwischen den beiden Gerichten gibt es nicht nur keinerlei Kontakt, sondern auch noch eine nicht zu unterschätzende Abneigung: die Strafrechtler sehen sich als Herzstück der Juristerei und die Arbeitsrechtler, meistens sozial engagierte Juristen, gedenken der kalten und herzlosen Atmosphäre des Strafgerichtes, die sie wahrscheinlich während der Ausbildungszeit als Rechtspraktikanten dort erleben durften.
Da man in Wien ist, gibt es natürlich auch im Straflandesgericht ein kleines Café, das von einem resoluten, aber absolut liebenswürdigen Ehepaar geleitet wird, dem Ehepaar Wiesinger. Die Frau Wiesinger heißt jeden Gast persönlich willkommen und organisiert sofort seinen Sitzplatz. Sie rückt Gäste zusammen, pfercht sie miteinander und schmeißt die Rechtspraktikanten oder jeden, der schon zu lange einen Sitzplatz ohne zu konsumieren okkupiert, eigenhändig hinaus.
"Geh, Buarli, mach' mal Platz fürn Herrn Dokta", "Beeil' di mit da Supp'n, i hob no andere Gäst' zu bedienan", "Jo, ihr fesch'n Mädls werdts nix dagegen hab'n, dass da Herr Rat sich hier zu euch setzt, net?", hörte man sie immer laut reden, und keiner nahm ihr ihren zuweilen etwas ruppigen Ton übel, da sie auch vor Autoritäten keinerlei Scham zeigte und so manchen bekannten Anwalt oder ehrwürdigen Richter schon den Ausgang gewiesen hat. Den Herrn Wiesinger sah man selten, da er den größten Teil des Tages in der Küche arbeitete, aber man hörte ihn regelmäßig herausbrüllen: "Lisl, Tooooaaaaast is' fertig! Gulaschsupp'n! Würschtl im Saft! Semmerl, Käsekraina!! Wer wüll bitte an Ketschap, dieses ameriganische Zehgs?"
Dr. Pasquale, ein alter Strafverteidiger, verweilte jeden Tag in diesem Café. Seine Großeltern waren aus der Triester Gegend noch vor dem ersten Weltkrieg nach Wien gezogen, um eine Pension in Wieden, dem 4. Bezirk, aufzumachen. Diese Pension gibt es auch heute noch und ist in der Nähe des Südbahnhofes zu finden, aber Dr. Pasquales Vater hatte sie nach dem Tod seiner Eltern verkauft und sich ein kleines Gasthaus in Ottakring, einem Außenbezirk, eingerichtet, mit dem er dem Sohn sein Jusstudium finanzierte.
Dr. Pasquale übte seinen Beruf schon lange nicht mehr leidenschaftlich aus. Er hatte einfach alles viel zu oft gesehen: Väter, die "aus'zugt san", und die untreue zickige Ehefrau, die frechen Kinder oder wer sonst noch ihren Weg kreuzte, umgebracht haben, Besoffene, die sich nicht zurückhalten konnten und nachher immer behaupteten, dass "die Kleine es eh g'wollt hat und der Sex überhaupt nicht erzwungen war" und Milieuverbrechen, wie "Bauchstich, Faustwatsch'n, Abreib'n", in allem war er ein Experte.
Früher war aber alles anders, natürlich. Da verspürte er eine glühende Aufregung, jedes Mal wenn er zu Gericht ging um seine Klienten zu befragen, Richter zu überzeugen, Staatsanwälte einzuschüchtern. Gab es einen Skandal, in der Politik oder Wirtschaft, dann wurde seine Nummer gewählt. Wenn ein Unternehmer einen unerlaubten Waffendeal gemacht hat, dann war sein Rat gefragt, oder wenn ein Versicherungsbetrug doch nicht so gelang, wie ursprünglich geplant, dann war er zur Stelle, um die Falten auszubügeln. Man kannte und respektierte ihn, man fürchtete ihn, und ja, man bewunderte ihn. Man bewunderte seine Scharfsicht, seine sprichwörtliche Eloquenz, seine Gerissenheit und seine Kaltblütigkeit. Und diese Eigenschaften mussten von seinen Klienten teuer erkauft werden. Aber Dr. Pasquale hatte auch seine Prinzipien: Er log nie. Nicht für die Klienten, nicht für deren Geld. Bestechungen hat er nie angenommen oder weitergegeben. Er glaubte an das Rechtssystem. Er beugte es, er formte es zu seinen Gunsten, aber er brach es nie, selbst wenn er dadurch einen Fall verlor. Das erlaubte ihm nächtens ruhig zu schlafen. Konnte ein Staatsanwalt keine eindeutigen Beweise vorlegen, meistens weil die Polizeibeamten geschlampt haben, dann war es seine anwaltliche Pflicht diese Mängel aufzudecken. Oder machte der Richter einen Verfahrensfehler, dann nutzte er diesen beinhart aus. So trug er dazu bei, dass die Polizeiarbeit, die richterliche Macht, ja das gesamte Rechtssystem einer ständigen Kontrolle unterlag und damit jeder einzelne Bürger vor ungerechtfertigtem Zugriff geschützt wurde.
So dachte Dr. Pasquale einmal, aber nun dachte er gar nicht mehr. Es gab einfach zu viele. Zu viele Kriminelle, zu viele Kollegen, zu viele Richter und Staatsanwälte. Er spürte, dass er noch einer anderen Welt angehörte, die es aber nicht mehr gab, und wenn, dann nur noch konserviert in Museen und Altersheimen.
Heute saß er zusammen mit seinem jüngeren Kollegen, Dr. Reiss, beim Mittagessen. Dr. Reiss hatte vor zwölf Jahren als Konzipient bei ihm angefangen und sich mittlerweile zum Partner hochgearbeitet. Dieser war ehrgeizig, klug und hatte auch sonst alle Eigenschaften, die man zum Strafverteidiger brauchte. Beide aßen sie ein Kalbsgulasch mit Nockerl und tranken dazu ein Seidel Bier.
"Lauter Schuldsprüche heute Vormittag", gestand Dr. Reiss.
"Bei mir auch", antwortete Dr. Pasquale.
Sie aßen schweigsam ihr Gulasch weiter, wobei nur hin und wieder Schmatzlaute hörbar waren. Dr. Reiss beobachtete verstohlen den älteren Anwalt. Grauhaarig, ausgemergelt, mit mehr Falten im Gesicht als seine alte Rindslederjacke, sah er in seinem feinen dunkelgrauen Zwirnanzug und dem Siegelring wie seine eigene Leiche auf Bewährung aus. "Wie lange er wohl noch arbeiten wird?", dachte sein junger Partner und hoffte insgeheim, bald die Kanzlei komplett übernehmen zu können. Er hatte ja auch große Ausgaben: seine Frau, die zwei Kinder in der Privatschule und seine obligate Mätresse, eine ehemalige Prostituierte, die er früher vertreten hat, und die ihm nun nicht mehr aus reiner Dankbarkeit die Beine breit machte.
"Was will man machen, sind ja doch alles Kriminelle", versuchte er das Gespräch wieder in Gang zu bringen. "Ich hab' heute drei Drogenneger gehabt. Was will man machen, die werden natürlich schuldig gesprochen."
"Waren bedingte Strafen dabei?" fragte der Alte grimmig.
"Ja, ja, alle drei waren teilbedingt."
"Hauptsache, du verkaufst ihnen die Bewährung als dein Werk, dann sind sie zufrieden und kommen wieder zu uns."
"Heute hab' ich einen aus Nigeria gehabt, einen Sammy Momuba. Seine Freundin hat mich ja in den letzten zwei Monaten beinahe täglich angerufen. Bei der Verhandlung hab' ich sie zum ersten Mal getroffen. Ein absolut liebes Mädl. Blond, jung, vielleicht Anfang zwanzig und mit Schulabschluss! Was die bloß an diesem Drogenneger findet, frag' ich mich die ganze Zeit. Auf jeden Fall, hab' ich lange mit ihr geredet und erklärt, dass der Momuba in den nächsten drei Jahren keine Drogen anfassen darf, sonst sitzt er. Und sein Asylantrag wird wahrscheinlich auch abgelehnt. Da hat sie mir gesagt, sie will ihn heiraten! Was will man da machen?"
Nach dem Essen tranken sie genüsslich ihr Bier und rauchten. Da kam Dr. Fasslbinder und, weil das Café voll war, setzte ihn die Frau Wiesinger zu ihnen an den Tisch:
"Für den Herrn Rat werds do noch an Platzerl frei haben, net?"
Normalerweise sitzen Richter und Anwälte nicht beieinander, aber Dr. Fasslbinder war ein Jugendrichter, sodass die beiden Anwälte wenig mit ihm zu tun hatten, und wie Dr. Pasquale ein alter grauer Fuchs, der sich um seinen Ruf nicht mehr zu kümmern brauchte. Auch der Richter bestellte das Gulasch, nahm aber ein Glas Wein dazu.
"Ich hab' Bier nie mögen. So ein Weißwein bekommt mir einfach besser."
"Na, Herr Rat, wie geht's Ihnen denn?" fragte Dr. Reiss den Richter kollegial und leicht unterwürfig, wie die meisten der jüngeren Anwälte.
"Wie soll's mir schon gehen? Sie wissen ja, wie man hier über uns Jugendrichter denkt."
"Ja, das stimmt. Aber doch nicht bei Ihnen?"
"Gerade bei mir. Die glauben, dass ein Jugendrichter es nicht drauf hat. Und wenn jemand so lange dabei ist, wie ich, dann schon gar nicht. Die haben ja keine Ahnung da oben."
"Wem sagen Sie das!" warf Dr. Reiss ein, nur um etwas zu sagen.
"Da besucht man Seminare und Kurse. Beschäftigt sich mit Jugendpsychologie und dann lösen sie den Jugendgerichtshof auf und sperren die Jugendlichen in die gleichen Zellen mit den Erwachsenen und wundern sich, dass sie verdroschen und vergewaltigt werden."
"Ja, ich hab' das heute in der Morgenzeitung gelesen. Ist schlimm. Was weiß man eigentlich?"
"Nix! Nur dass die vier Rumänen den Georgier seit einer Woche regelmäßig im Badezimmer missbraucht haben! Und die Wärter haben nix gesehen. Kein Wunder, die haben doch auch keine Ahnung im Umgang mit den Jugendlichen. Die haben ja nix in diesem Gefängnis!" ereiferte sich der alte Richter. Da kamen zum Glück sein Gulasch und Wein, sodass er von seinem Ärger abgelenkt wurde.
"Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen", murmelte er noch.
Die Anwälte dämpften ihre Zigaretten aus und nippten schweigsam an ihrem Bier.
"Ich kann mich noch and die Anfänge des Jugendgerichtshofes erinnern", begann nun Dr. Pasquale, "ich hab' damals ja im Namen des Verbandes der Strafverteidiger eine Expertise für den Justizminister gemacht, in dem ich die Vorzüge des Jugendgerichtshofes hervorhob. Humanere Behandlung, spezialisierte Richter, Staatsanwälte und Wärter, Psychologen werden eingebunden und so weiter. Aber das ist jetzt alles zu teuer, nehme ich an. Es gibt einfach zu viele."
Alle nickten zustimmend.
Dr. Reiss schaute auf seine Uhr: "Ui, ich muss jetzt aber wirklich los! Ich hab' ja eine Verhandlung. Hehlerei und Mitgliedschaft bei einer kriminellen Organisation."
"Bulgare?", fragte Dr. Pasquale.
"Nein, Niederösterreicher, aber hier in Wien ansässig."
Seine Sachen eilig zusammenpackend: "Du, kannst du für mich zahlen, ich hab's wirklich fast vergessen und muss los."
"Geh' nur, ich lad' dich ein."
Dr. Pasquale wartete bis der Richter sein Essen beendet hatte, zündete sich dann eine von seinen Zigaretten an, und beide bestellten noch etwas. Der Anwalt sein Seidel Bier und der Richter sein Glas Weißwein.
"Und wie macht sich Ihr junger Kollege?", fragte der Richter nebenbei, während er sein Glas in seiner zittrigen behaarten Hand balancierte und leise rülpste.
Bevor Dr. Pasquale antwortete, nahm er noch einen tiefen Zug, behielt für ein paar Augenblicke den Zigarettenrauch in seinen alten porösen Lungen, so als ob er eine schwere mathematische Gleichung zu lösen hätte und nicht wüsste, wie er an dieses Problem herangehen sollte. Dann, als er die Lösung sah, antwortete er: "Er ist wie ich einmal war."