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Im Rausch der Gedanken

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10.07.2020
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Im Rausch der Gedanken

Für einen Samstagabend war die U-Bahn gut besetzt, platzte aber, anders als an Wochentagen, keineswegs aus allen Nähten, wodurch man nicht nur in den Genuss einer Sitzgelegenheit kam, sondern obendrein – solange man nicht ins Visier eines Schaffners geriet – seine Beine bequem am freien Platz gegenüber ausbreiten konnte. Den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt betrachte Philipp seine Finger. Mit jeder Station, der er sich seinem Ziel näherte, hatte sich das Zittern intensiviert und machte sich nun daran, auch von seinem Unterarm Besitz zu ergreifen. Wenige Minuten zuvor hatte er sich im Hotel noch einen Single Malt einverleibt, den er, in der naiv-vagen Hoffnung er könne ihn an diesem Abend noch mit jemanden teilen, eigens mitgebracht hatte. Sogleich spürte er zwar dessen sanft brennende Wirkung durch die Bahnen seines Körpers strömen, seine Nervosität allerdings war damit nicht zu bändigen.
Obgleich er, so gut es eben ging, seine Muskelzuckungen im Zaum zu halten versuchte, verstand er die körperliche Unruhe als positives Zeichen.
Schon immer war er aufgeregt gewesen, wenn etwas Bedeutendes bevorstand. Ganz gleich, ob es sich um eine wichtige Prüfung handelte, Vorträge vor großen Zuschauerscharen oder prestigeträchtige sportliche Wettkämpfe: Die Nervosität erwies sich als ständig wiederkehrender Begleiter, dessen Auftauchen den Dingen eine Wertigkeit zuzuordnen wusste.
Zu Philipps Glück trat diese Aufregung meist nur äußerlich in Erscheinung, innerlich empfand er für gewöhnlich eine tiefe Ruhe und Ausgeglichenheit. Es kam ihm in jenen Augenblicken so vor, als hätte er alle verfügbaren Antennen seines Körpers ausgefahren, sämtliche Sinne seines Körpers aktiviert, das Höchstmaß seines Konzentrationsvermögens erreicht. Das Geschehen vor ihm schien langsamer von statten zu gehen und seine Augen nahmen Eindrücke in derart scharfer Präzision wahr, dass er im Anschluss beinahe seine Sehkraft zu verlieren befürchtete.
Könnte man das Leben nur immer auf diese Art und Weise wahrnehmen., echt und ungefiltert, lebendig und aufregend, messerscharf und sonnenklar.

Freilich war ihm bewusst, wie es die meisten Leute wissen, dass dieser Zustand nicht von ewiger Beschaffenheit war und, ebenso launisch wie das Wetter, seine Beschaffenheit jederzeit zu ändern vermochte. Doch wo auf Regen eigentlich wieder Sonne folgen sollte, fühlte sich Philipp seit geraumer Zeit in einem Nebelschleier abgestumpfter Emotionslosigkeit gefangen und sehnte sich nach seinem aufgeregten Wegbegleiter, der ihn aus dem grauen Wolkendickicht herausführen würde. Er vermisste das lebendige Gefühl, es war ihm entglitten, abhandengekommen, schlichtweg nicht mehr aufzufinden. Er glich einem Chefkoch, der das Geheimrezept seiner Lieblingsspeise verloren hat und damit gleichbedeutend auch jeglichen Appetit.
Aber heute schien sein verschollener Gefährte zu ihm zurückzufinden, der Hunger wiederzukehren, der Nebel sich zu lichten. Heute schienen die Dinge endlich wieder eine echte, wertvolle Bedeutung zu besitzen:

Heute würde er zum ersten Mal Marie begegnen.

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„Maarnblotz“ schallte es ohrenbetäubend aus der in die Jahre gekommenen Sprechanlage der U-Bahn. Schon oft hatte Philipp den Sinn derartiger Durchsagen hinterfragt, wo doch zum einen aus diesem genervten, von Dialekt getränktem Genuschel bairischer Mundart ohnehin fast nichts zu entnehmen war, zum anderen quasi überall Fahrpläne aushingen und darüber hinaus sämtliche Ansagen auch auf Englisch durchgegeben wurden.
Nachdem er sich ein paar hundert Meter durch die vielbewanderte Fußgängerzone geschlängelt hatte, traf Philipp bereits etwas früher am ausgemachten Treffpunkt ein. Um inmitten der vorbeieilenden, von Hektik getriebenen Menschenmassen nicht gänzlich fehl am Platz zu wirken, beschloss er sich an einen der verwaisten Außentische, welche aufgrund der winterlichen Temperaturen an diesem Tag nur wenig Beachtung fanden, zu setzen und vor dem Restaurant auf Marie zu warten. Beiläufig registrierte er, dass sich das Zittern seiner Hände etwas gelegt, nun aber seine Beine ein Eigenleben entwickelt hatten und in aufgeregter Vorfreude hin und her wippten.
Bei aller Nervosität und Ungewissheit, die ihn die vergangenen Tage umgetrieben hatten, war er froh, dass nun endlich der Moment gekommen war. Bestimmt an die hundert Mal hatte er das Szenario durchgespielt und dabei aber etwas Elementares, obwohl offenkundiges, außer Acht gelassen: Sie waren sich bis dato noch ein kein einziges Mal von Angesicht zu Angesicht begegnet. Sicher, jeder hatte im Single-Portal ein paar Schnappschüsse des jeweils anderen in dessen Profil zu sehen bekommen, aber Bilder konnten einen in der Realität schnell täuschen, zudem hatte Philipp auch nie nachgefragt wann die Aufnahmen entstanden waren.
Was, wenn er aus Versehen die völlig falsche Frau ansprach, am besten noch in Maries Beisein? Vielleicht wäre es doch klug gewesen, ein klares Erkennungszeichen zu vereinbaren und wie auf Knopfdruck setzte sich vor seinem geistigen Auge ein Bild zusammen, wie er mit Rose am Revere und pinkem Luftballon dastand, bestellt und nicht abgeholt, am besten noch mit einem großen Schild, natürlich in Herzform, auf das er in großen Lettern den Name seiner Herzdame gekritzelt hatte. Paradoxerweise vermochte ihn diese absurde Vorstellung in diesem Moment zu beruhigen. Er war einfach nur heilfroh, dieses, vor kitschiger Peinlichkeit triefende, Schauspiel nicht über sich ergehen lassen zu müssen.
Nicht erspart blieb ihm jedoch jetzt das Spektakel in seinem Gehirn, die Neuronen feuerten aus allen Rohren, Kopfkino allererster Ordnung. Das nächste Hirngespinst ließ nicht lange auf sich warten, als eine schon etwas betagtere Frau, Philipp schätzte sie um die 50, auf hochhackigen Absätzen in seine Richtung stolzierte und ihm ein Lächeln zuwarf, bei dem sich die Mundwinkel bis an ihre Elastizitätsgrenze verzogen.
Selbst mit etwas Abstand erkannte man ihr abgemergeltes, wenn nicht gar leicht gebrechliches Erscheinungsbild, welches sie mehr oder weniger gekonnt mit diversen Aufhübschungsstrategien zu kaschieren versuchte. Die Haare, beim Färben im Friseurlokal wohl als kastanienbraun gepriesen, wirkten in Kombination mit dem unwiderruflich vorhandenem Grau eher wie rostige Metallfäden, welche zu lange der freien Witterung ausgesetzt waren und nun ungebremst korrodierten. Das Gesicht, gezeichnet von den feinen Klingen der plastischen Chirurgie, quoll vor Make-up fast über und zusätzlich zu ihrem überdimensioniertem Pelzmantel baumelte über ihrem rechten Unterarm eine mit Leopardenfell überzogene Handtasche, welche sie in einer übertriebenen Art und Weise zur Schau stellte, wie es nur Leute tun, die sich an ihrem eigenen Spiegelbild nicht satt sehen können. Womöglich war sie in früheren Tagen sogar recht hübsch gewesen, nun jedoch wirkte sie nur noch wie jemand, der eben jenen Glanz jüngerer Jahre konservieren wollte und, koste es was es wolle, dem natürlichen Alterungsprozess zu entkommen versuchte. Fast zwangsläufig drängte sich in Philipps Vorstellung das Klischee einer verbitterten Ehefrau, deren einziger Lebensinhalt darin bestand, beim wöchentlichen Kaffeekränzchen besserwisserischer Manier über ihre Mitmenschen abzulästern.
Weiterhin mit dem Blick auf ihm haftend, fischte sie während des Gehens einen Lippenstift aus der Felltasche, fehlte nur noch, dass sie sich nach dem Auftragen sinnlich-sehnsüchtig mit der Zunge über die Lippen strich.
Gesagt, getan und nun schauderte es Philipp endgültig.
Das konnte einfach nicht wahr sein. Natürlich wusste er bereits im Vorfeld seiner Online Dating Aktivität von der Existenz vieler Fakeprofile, die in diesem Milieu kursierten. Er war sich aber eigentlich immer sicher, diese frühzeitig erkannt zu haben, wofür man wahrlich kein zweiter Sherlock Holmes sein musste.
Noch keine ganze Woche angemeldet, hatten sich bereits eine Hand voll Blondinen unsterblich in ihn verliebt, bestanden jedoch darauf, die Kommunikation privat und außerhalb des Portals fortzusetzen, da sie leider kein Premium Abonnement besäßen und daher nur eine limitierte Anzahl an Messages tippen konnten. Das einzige was er dafür tun müsse, sei eine Nachricht von seinem eigenen Account an die angegebenen E-Mail Adressen (endless.love@hotmail.com, Heiße-Liebe@googlemail.com oder, sein persönlicher Favorit, Polarstern666@online.de; und das waren noch die seriösen) zu senden. Selbstverständlich gab es auch subtilere Vorgehensweisen, etwa wenn beispielsweise ältere Bilder hochgeladen wurden oder ausschließlich Fotos gewählt wurden, die lediglich einen begrenzten Sichtwinkel auf die Person gestatteten. Offen gestanden war Philipp doch etwas genervt vom hohen Aufkommen besagter Profile, wo der Anbieter doch hoch und heilig versicherte, ihr Produkt sei in Sachen Seriosität das Nonplusultra der Branche. Innerlich bedauerte Philipp bereits die horrende Summe, welche er bereits unwiederbringlich in die ganze Geschichte gesteckt hatte, eine kluge Investition schien es nicht zu sein. Immerhin ergaben sich über die nächsten Wochen hinweg ein paar Bekanntschaften, selten ging das Gesprächsniveau jedoch wirklich in die Tiefe, sondern versandete meist nach den üblichen Standardfloskeln.
Bis er eines Tages auf das das Profil einer Brauereiadministratorin stieß. Konkret konnte er mit der Berufsbezeichnung nicht sonderlich viel anfangen, letztlich war es Philipp aber auch gänzlich egal welchen Beruf jemand ausübte, solange er/sie dies mit Leidenschaft tat.
Schnell entdeckten sie einige Gemeinsamkeiten und Themen, über die es sich zu diskutieren lohnte und entwickelten eine Art digitaler Brieffreundschaft, an der Philipp zunehmend Gefallen fand, mitunter oder auch vor allem aufgrund der sprachlichen Versiertheit mit der Marie ihren Nachrichten formulierte. Seit jeher besaß Philipp ein Faible für das Spiel mit den Worten und nun saß da jemand auf der anderen Seite des Bildschirms mit dem er sich augenscheinlich auf einer Wellenglänge befand und der ihn auch rhetorisch endlich wieder forderte.
Maries Profilbilder taten ihr Übriges und zunehmend, nach einigen Fingernägeln, die beim Warten auf die nächste eintreffende Nachricht dran glauben mussten, wurde die Sache dringlicher und mündete schließlich in dem Vorhaben, man solle sich doch einfach mal in München treffen.
Und jetzt sollte er tatsächlich in die Falle gegangen sein, auf`s Glatteis geführt, übertölpelt von seiner eigenen Naivität? Nein, das ging selbst für seine blühende Fantasie zu weit, das grenzte schon an Verschwörungswahn.

„Da bist du ja!“, dröhnte es laut und jäh sah sich Philipp in die Realität zurückbefördert. Während seines mentalen Ausflugs hatte er gar nicht mitbekommen, dass er sich von der Bank erhoben hatte und die Alte vielleicht noch eine Armlänge von ihm entfernt war, die Arme freudestrahlend ausgebreitet.
„Du musst bestimmt Philipp sein“, rief sie voller Entzückung und wie paralysiert von seinen gedanklichen Auswüchsen öffnete er, innerlich das Universum auf das Übelste verfluchend, ebenfalls seine Arme, bereit die begrüßende Umarmung entgegen zu nehmen.

 

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