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Im Rhein schwimmen und von Thailand träumen
Bevor seine Zeit als Messias gekommen war, hatte Eduard Sputski als Gabelstaplerfahrer gearbeitet. Der Weg zur Erleuchtung begann mit einem Betriebsunfall: Im Sog morgendlichen Restalkohols verwandelte er eine siebenlagige Europalette mit Biermischgetränken in Scherben. Da es nicht der erste Vorfall dieser Art war, ermöglichte ihm sein Arbeitgeber zum Monatsende die Verwirklichung eines lange gehegten Lebenstraums: zeitlich unbefristeter Puffurlaub in Thailand.
Eduards Ausflug nach Phuket endete – entgegen seinen Erwartungen – nicht mit der Sperrung aller Kreditkarten, sondern mit einem Wunder. Nach neunzehn Stunden synthetischen Schlafes erwachte er ohne jede Erinnerung im Hinterhof einer Imbissbude, nur mit einer goldbraun gemusterten Unterhose bekleidet und sämtlicher Dokumente und Magnetkarten beraubt.
Das Privileg, nicht mit durchgeschnittener Kehle in einem Müllcontainer geendet zu haben, bewegte ihn zu dem unumstößlichen Entschluss, sein Leben von Grund auf zu ändern, sobald die bestialischen Kopfschmerzen abgeklungen sein sollten. Von nun an war er der Messias.
Wie üblich, wurde Franka gegen Ende des Jahres alles zu viel. Die vermeintlich besinnliche Zeit vor Weihnachten bedeutete profane Hektik, als stünde nicht das Fest des Friedens, sondern ein apokalyptisches Ende allen Daseins bevor. Es waren einfach zu viele Termine: Freunde treffen, Ideen für Geschenke ausknobeln, stundenlange Laufereien durch überheizte Läden, um dann doch nicht das Gesuchte zu finden. Außerdem musste sie die Heimfahrt ins Elternhaus und das Familienfest mit ihren Geschwistern organisieren.
Während der Bürotage, die dunkel begannen und düster endeten, schien das Läuten des Telefons aggressiver und aufdringlicher zu sein, die Kunden genervter und übler gelaunt als sonst. Von allen Seiten kam Druck, eine Gefühlslage, die Franka nicht ausstehen konnte. Und zu allem Überfluss wollte nun auch noch ihr Chef ein lange versprochenes "Dann gehen wir mal nett essen" einlösen. Den letzten freien Abendtermin der Woche würde Franka also nicht in der warmen Badewanne verbringen, sondern mit Running Sushi.
Der Messias liebte den Advent. Es war die ideale Jahreszeit, um fischen zu gehen. In ihrer Getriebenheit sahen die Menschen aus, als würden sie sich nach einer guten Nachricht sehnen. Sie schienen williger zu sein, einem Ruf zu folgen, der sonst ungehört an ihnen vorbeigegangen wäre:
"Glaubt Ihr denn, dass es jenseits von Ficken, Fressen und Saufen nichts gibt?"
Er hatte sich auf die Treppe gestellt, in die menschliche Brandung geworfen, dort, wo steile Stufen in die Unterwelt der Großstadt führten. Die Masse war gezwungen, sich zu teilen und ihn zu umfließen. Ein zäher Strom unwilliger Gesichter, vom rechten Weg abgebracht durch ein menschliches Hindernis und aus ihrem Dämmerzustand von einer Botschaft gerissen, die sie nicht hören wollten:
"Das Ende wird so furchtbar sein, dass ihr euch wünschen werdet, man hätte euren Vorvätern die Eier abgeschnitten und ihr wärt nie geboren worden."
Die Zeit im Bauch der Großstadt verging langsam, verstrich nicht in Sekunden und Minuten, sondern in Menschen. Das Fortschreiten des Nachmittags konnte der Messias daran ablesen, dass sich die vereinzelten Individuen zu einer gesichtslosen Masse zusammenrotteten; einer murmelnden Schafherde, die dann, nach Überschreiten eines halbstündigen Höhepunktes wieder ausdünnte. Andere, müdere Gesichter kamen nun nach. Es waren die Verlierer unter ihnen, vertrieben von der Kälte des Abends, rotnasige Gesichter, mit Plastiktüten auf Beutezug, nach Pfandflaschen suchende, oftmals unbequeme Gesprächspartner, schwer zu überzeugen von der Liebe eines allbarmherzigen Herrn.
Manchmal aber huschte auch noch um diese Zeit eine vergessene Perle vorbei, in schwarzen Strümpfen, mit halbhohen, klappernden Stiefeln und durch den dunklen Wollmantel hindurch erahnbarer Oberweite. Es waren dies die Augenblicke, in denen ihn selige Erinnerungen lächeln ließen.
Thomas Weith war Weihnachten herzlich egal. In zarter Jugend konfirmiert und im Mannesalter überzeugt durch eine monatlich immerhin dreistellige Ersparnis aus der Kirche ausgetreten, entsprach das Jahresende lediglich einer Häufung von arbeitsfreien Tagen, die in seiner Firma alles durcheinander brachten.
Nüchterner Rechner, wie Weith war, sah er aber auch klar die Vorteile: Das Fest lieferte ihm einen Vorwand, seine Assistentin zum Essen einzuladen. Weith konnte sich einreden, mit dem Einsatz von etwas Kapital und Charme endlich bei ihr zum Ziel zu gelangen, eine Vorstellung, die deutlich erotischer war, als ihre Realisierungschancen Erfolg versprechend. Aber der Mensch lebte von seinen Träumen, nicht nur im Privatleben.
Das Prinzip Hoffnung entsprach barer Münze; die Gewissheit wieder länger werdender Tage, einer höher in den Himmel steigenden Sonne, ließen Weith in allen Gliedern ein wohliges Kribbeln künftiger Glückseligkeit erahnen. Er konnte es spüren, riechen, schmecken, klingeln hören: Profit, Rendite, Umsatzwachstum.
Ungeduldig wartete gehortetes Geld und drängte in den sonnigen Süden; Kapital, das kanalisiert, in Solarprojekte investiert und zu diesem Zweck auf Weiths Konten transferiert werden wollte. Ein Eldorado, nicht jenseits eines gefährlichen Wassers gelegen, sondern nah, greifbar ins allgemeine Bewusstsein gerückt, durch ein Zauberwort: Ressourcenknappheit. Wer jetzt nicht die Hand in den Strom der Spekulation ausstreckte, um zu greifen, was er fassen konnte, war geistig minderbemittelt.
Während seine Zukunftspläne strahlende Reflexe unverfehlbaren Reichtums vorausprojizierten, hatte Weith eine schattenbehaftete Realität eingeholt. Sein geliebter Oldtimer war aufgrund der vorweihnachtlichen Kälte in Generalstreik getreten und ließ sich nicht mehr starten. Mit boshafter Ironie des Schicksals bemerkte er diesen Umstand am Abend des geplanten Weihnachtsessens. Um nicht auch noch in ein Taxi investieren zu müssen, waren Weith und seine Assistentin mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Restaurant gefahren, ein seiner Sparsamkeit angemessenes Manöver.
Franka wusste nun, dass roher Fisch so schmeckte, wie er roch. Die Schuld für diese Ernüchterung suchte und fand sie bei sich selbst, hatte doch den Verlauf des Abends ein unbedarftes "Japanisch war ich noch nie essen" provoziert. Auch die Annahme, dass der provinzielle Geiz Weiths und teure Moderestaurants inkompatibel wären, erwies sich als Fehleinschätzung. Weiths Laune war ausgezeichnet gewesen. "Mein Goldstück, Running Sushi wäre doch eine Idee für unser Weihnachtsessen!"
Mit einem zuversichtlichen Lächeln und einer sanften Berührung ihrer Schulter hatte Weith bekräftigt, dass er es auch mit dem Abendprogramm weiterhin ernst meinte. So fand sich Franka bei Meister Koimatsu wieder, wo die Mission des Abends nun in seicht bedeutungsloser Kommunikation bestand.
"Zwei Wochen, und keine Menschenseele bekehrt. Es ist zum Kotzen", murmelte der Messias, als er nach getanem Tagewerk den Heimweg antrat. Er war die Treppen zum Bahnsteig hinuntergestiegen und hatte auf einer gelblich verspritzen, klebrigen Sitzkombination Platz genommen. Im Gleisbett flitzten kleine, graue Felltiere herum, die an Zigarettenstummeln zu knabbern schienen.
"So einen beschissenen Advent hatte ich schon lang nicht mehr. Die Leute regen sich nicht mal auf. Du kannst sie beschimpfen. Du kannst sie anmachen, anbrüllen. Und es passiert einfach nichts. Herr, Gott, was ist los mit deiner Welt?"
Weith konnte sich nicht an ihr sattsehen. Hier aus der frontalen Ansicht und durch die Katalyse einiger Sake und der halbschummerigen Beleuchtung offenbarte sich ihm, was er im Tagesgeschäft bisher erfolgreich verdrängt hatte: Er musste sie haben.
Gedanklich drang er unter Frankas rosafarbenes Oberteil vor. Sie hatte richtig ordentliche Titten. Nicht von der festen, knackigen Art eines Teenagers, sondern eher die massige Substanz einer ausgewachsenen Frau. Material, das im Takt wackeln würde, wenn … vielleicht über den Tisch gelehnt, von hinten, die Stiefel könnte sie ruhig anbehalten dabei … ach ja, wenn. Außer einem angebotenen und angenommenem "Du" konnte er noch keine Erfolge vermelden. Franka schien keinen Sake zu mögen, keinen Pflaumenwein und auch keine andere Form von Alkohol.
"Ich bin ja so froh, dass du dich auf die Anzeige gemeldet hast … Du ahnst ja nicht, wie schwierig es ist … ich meine eine Frau zu finden, mit Ausstrahlung, dem rechten Ton für die Kunden … freundliches Auftreten, zuvorkommend … ich habe dir das viel zu selten gesagt, aber heute … dass du auch noch superattraktiv bist, können sie ja durch das Telefon nicht sehen …"
Franka nahm einen weiteren, kleinen Schluck. Sie fühlte, wie eine Welle angenehmer Wärme sie überrollte, den Hals entlang nach unten lief und schließlich die Mitte ihres Körpers für einen Moment von innen glühen ließ. Ja, natürlich habe es ihr geschmeckt, sie sei nur etwas erkältet und nicht gewohnt, abends so viel zu essen.
Es gab Eigenschaften, die sie an Weith bewundernswert fand: ein perfekt zuvorkommendes Wesen und seine Fähigkeit, mit Menschen auch in kritischen Situationen umzugehen, das Vertrauen aufrecht zu erhalten und sein Talent, sich aus jedem Schlamassel wieder herauswursteln zu können.
Dass die angegrauten Schläfen sein Alter schwer schätzen ließen, er offensichtlich nicht zu Bauchansatz neigte, regelmäßig ins Fitnessstudio ging und sichtlich auf eine gesunde Gesichtsfarbe achtete, machte ihn interessant, ebenso wie sein Feuerwerk von Ideen, abgebrannt an den wenigen Tagen, die er im Büro war.
Meist jedoch war er abwesend, und Franka blieb die Aufgabe, alles am Laufen zu halten, sich je nach klingelndem Telefon mit dem richtigen Firmennamen zu melden und das, was einer Entscheidung bedurfte, freundlich in die Warteschleife zu schieben. "Sorry, Mr. Weith is not in office today … yes, of course … he will call back immediately."
Ob er ihre Arbeitsweise tatsächlich schätzte, blieb ihr unbegreiflich, auch über die drei Monate hinweg, die sie schon für ihn tätig war. Und der vergangene Abend, dass sie ihn nun Thomas nennen durfte, ein Küsschen auf die Backe erhalten hatte und anschließend umarmt worden war, änderte nichts an ihrer Unsicherheit. Sie wurde nicht schlau aus diesem Sunnyboy, dem Meister verheißungsvoller Ankündigungen, dem unberechenbaren, mitunter launischen Chef.
Immer nach einem durchdachten Plan arbeiten. Ein Leitprinzip, das auch noch funktionierte, wenn die Beine weich und die Sprache undeutlich geworden waren. Weith erkannte die Sinnlosigkeit jedes weiteren verbalen Vorspiels. Jeder nun bestellte Sake wäre eine Fehlinvestition. Dieser Frau war mit Reiswein nicht beizukommen, ebenso wenig mit der Art seiner Komplimente, nun waren Taten gefragt. Nun musste er eine Attacke auf den innersten Kern der Festung reiten. Er verlangte die Rechnung und schoss einen letzen Pfeil ab: "Es ist für eine Frau keine gute Zeit zum U-Bahn fahren. Darf ich dich noch nach Hause begleiten?"
Endlich kam der Zug. Der Messias erhob sich schwerfällig, machte zwei glatzköpfigen Jugendlichen Platz, die aus dem Waggon sprangen, stieg ein und ließ sich auf den nächstbesten, freien Sitzplatz fallen. Ihm gegenüber saß ein Herr im Anzug mit Ehering am Finger und eine blonde Frau um die Mitte Dreißig. Seine Schläfen zeigten erste Anflüge von Grau. Der Messias lächelte müde, zwei dezent geschminkte Augen in einem rundlichen Gesicht sahen ihn für einen Moment lang prüfend an. Mit einem Ausdruck des sich Erinnerns wandte sich die Frau wieder ihrem Begleiter zu, der eindringlich gestikulierend auf sie einredete: "Man lernt sich viel zu wenig kennen … den ganzen Tag nur Telefon, Faxe, Mails … der Mensch kommt da viel zu kurz … ich muss gestehen ich weiß gar nicht wer du bist … also wie du so lebst, deine Wohnung eingerichtet hast und so … echt schade ..."
Sie blieb ihm eine Antwort schuldig und sah stattdessen zu ihrem Gegenüber auf. Wie zufällig ihr Knie berührend, setzte der grau melierte Herr seinen Vortrag fort:
"Bestimmt ist alles super geschmackvoll eingerichtet. Die Vorhänge Ton in Ton mit der Sitzkombination, Blumen, die jeden Morgen liebevoll gegossen werden …"
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, während er weitersprach: "Und bestimmt gibt es auch so ein Regal mit kleinen Reiseandenken …"
Ein dumpfer Schlag aus dem vorderen Zugteil brachte ihn zum Verstummen, gleichzeitig fiel die Beleuchtung aus und der Zug kam quietschend zum Stehen. Die Frau hatte das unerwartete Ereignis mit einem kurzen Aufschrei quittiert und sich offenbar in der Dunkelheit an ihren Begleiter geklammert, der sie zu beruhigen versuchte: "Keine Panik Franka, bestimmt wieder nur so eine technische Störung. Oder ein Typ, der sich vor den Zug geworfen hat. Hat sich bestimmt gleich erledigt."
Es dauerte, bis sich die Augen des Messias an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nur von vorne, vielleicht von der nächsten Station her, sickerte ein Hauch von Licht den Tunnel entlang, zu wenig, um Augen oder Gesichter zu erkennen. Der Messias ließ die Stille auf sich wirken, stellte sich vor, wie die Frau angstvoll den Oberarm ihres Begleiters umklammert hielt, während er seine Hand auf ihr Knie gelegt hatte, unter den Rock schob und sanft die schwarze Strumpfhose streichelte. Ein Bild, das ihm Brechreiz hochsteigen ließ.
"Wir kennen uns", sprach er schließlich in Richtung des grau melierten Herren.
"Wirklich? Und woher?"
"Bangkok. Beach Bunny Bar.“
„Das kann nicht sein, ich ...“
„Du warst mit diesem blutjungen Ding zu Gange."
Der Messias hörte sprachloses Schnaufen aus der Dunkelheit, dann eine gereizt klingende Antwort: "Sie verwechseln mich. Ich war noch nie in …"
"Doch. Warst du. Um das zu tun, was alle dort tun: Herumhuren."
"Das ist ja wohl … eine Unverschämtheit … was gibt Ihnen das Recht …"
"War die Kleine eigentlich schon zwölf? Schwer zu schätzen bei diesen Asiatinnen … echtes Frischfleisch, das ist es doch, weshalb man dorthin fährt, oder?"
Der Messias hörte etwas rascheln. Offenbar löste sich die Verbindung aus Angst und unverhoffter Zärtlichkeit auf, sein Gegenüber hatte die Hand von seiner Begleiterin genommen und ging in Angriffsstellung.
"Thomas, nein, bleib … lass ihn!"
"Das werden Sie mir … wenn es erst wieder hell ist … ich lasse mich doch nicht von einem Penner …"
"Nein. Du wirst es bereuen. Denn fürchterlich ist der Zorn des Herrn gegen die Ungerechten."
Mit einem Klacken sprang die Lüftung wieder an und die Neonleuchten überschütteten die drei Insassen des Waggons mit einer blendenden Lichtfülle. Der Anzugträger war aufgestanden, hatte wortlos eine Salve hasserfüllter Blicke in Richtung des Messias abgefeuert und war zur übernächsten Türe gegangen. Seine Begleitung folgte ihm untergehakt, sei es, um ihn zu halten oder gehalten zu werden. Der Zug rollte die verbleibenden Meter zum Bahnsteig vor, dann öffneten sich die Türen. Das ungleiche Paar stieg aus, ohne den Messias eines weiteren Blicks gewürdigt zu haben, nur als sich die Türen geschlossen hatten, drehte sich die Frau noch einmal um, zwei fragende Augen, die den Zug absuchten.
Nachdem Franka die Thermoskanne abgeliefert und den Raum verlassen hatte, schenkte Weith seinem Besucher eine Tasse Kaffee ein und lehnte sich entspannt zurück.
"Das ging ja fix! Und, was haben Sie herausgefunden?"
Der untersetzte Mann um die fünfzig griff in die Brusttasche seiner Lederjacke, zog einen Stapel mit Fotos hervor und schob sie langsam über den Schreibtisch zu Weith hinüber.
"Ist er das?", fragte er.
Weith warf einen kurzen Blick auf die oben liegende Aufnahme. Das Gesicht eines älteren Mannes mit grauem Bart und bekleidet mit einer bräunlichen Kutte war zu sehen. Weith nickte. Sein Gegenüber fuhr fort: "Der Schein trügt, er ist kein Obdachloser, allerdings stadtbekannt als irrer Wanderprediger. Spitzname: Messias. Im wirklichen Leben heißt er Eduard Sputski. Die Adresse seiner Sozialwohnung würde ich Ihnen aushändigen, wenn das Honorar vollständig beglichen ist."
Wieder nickte Weith, öffnete seinen Schreibtisch und holte ein Kuvert hervor. Er legte es auf dem Tisch ab, ohne seinen Gast aus den Augen zu lassen. Dieser nahm den Umschlag, warf einen kurzen Blick hinein und schob seinerseits einen Zettel über den Tisch. Weith nickte dankend.
"Sie kennen nicht zufällig jemanden, ich meine … etwas fester zupacken … einige Dinge klarstellen … Sie haben doch in ihrem Beruf … das kommt doch sicherlich öfter …"
Der Gast schüttelte energisch den Kopf:
"Es tut mir Leid, Herr Weith. Berufsethos. Sie haben die gewünschte Information erhalten und mich bezahlt. Hier trennen sich unsere Wege. Alles Weitere ist Ihre Angelegenheit."
„Thomas, wer war das?“
„Von dieser Beratungsfirma ... behauptet, wir könnten massenhaft Steuern einsparen ... die richtigen Graubereiche ausnutzen. Hatte interessante Ideen, muss mir da mal was durch den Kopf gehen lassen.“
Franka nickte. Mittlerweile kannte sie den Tonfall, die muntere Abfolge von zu glatt klingenden Phrasen, um zu wissen, dass Weith bewusst die Unwahrheit gesprochen hatte. Außerdem hatte sie zuvor in seinem Terminkalender geblättert, war über das Wort Privatdetektiv gestolpert, allerdings ohne die Zusammenhänge zu begreifen. Dass Weith nicht nur die Kunden, sondern auch sie belog, hatte eine andere Qualität, war etwas, das Anlass gab, sich Gedanken über die eigene Zukunft zu machen. In Kürze würde sie dieses Thema angehen, sobald Weihnachten vorbei sein würde oder zu Beginn des neuen Jahres. Es musste sich etwas in ihrem Leben ändern.
Schon während sie die Eingangstüre zur Firma aufsperrte, überfiel Franka ihr schlechtes Gewissen. Wie konnte sie nur vergessen, das Schilfgras ausreichend zu wässern? Sie entdeckte das bräunlich vertrocknete Zeugnis ihres Frevels auf der Fensterbank, noch in Mantel und Handschuhen. Franka ärgerte sich. Sicherlich war Weith über die Feiertage im Büro gewesen, aber auf die Idee, die Topfpflanzen zu gießen, war er natürlich nicht gekommen. Pflanzen, Tiere, Menschen, alles das waren Nebensächlichkeiten, die sich nicht in harte Währung umrechnen ließen. Ja, es wäre ihre Aufgabe gewesen, aber er hätte doch auch daran denken können, dass Pflanzen Wasser zum Leben brauchen.
Automatisch machte sie sich an die Arbeit. Die Post sortieren, abgefallene Blätter wegräumen, den Computer hochfahren, Kaffee kochen. Für wen eigentlich?
Das einsame Röcheln der Kaffeemaschine hallte durch das Büro, als Franka feststellte, dass kein handgeschriebenes Schmierblatt mit Anweisungen auf ihrem Platz lag. Keine supereiligen Aufträge, keine "danke, mein Goldstück" Grußzeile. Weiths, nein Thomas' Büro sah aus, wie er es vor Weihnachten verlassen hatte. Seltsam.
Bevor der Kaffee fertig war, läutete es an der Türe. Ein Zusteller? Der Hausmeister, um ein gutes neues Jahr zu wünschen? Franka hatte geöffnet und zwei Herren streckten ihr die Dienstausweise entgegen und erbaten Zutritt zu den Büroräumen. "Kriminalpolizei Köln. Sie arbeiten hier? Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen stellen?"
Vollkommen überrascht bat Franka die unerwarteten Besucher herein. Zumindest würde sie ihren Kaffee nicht alleine trinken müssen.
Sie hatte das Büro abgesperrt und war gegangen. Immer, wenn sie innerlich aufgewühlt war, verspürte Franka den Drang, sich zu bewegen. Gehen bedeutete nachdenken, mit sich selbst ins Reine kommen. Den Schnellimbiss an der Ecke ließ sie links liegen, lief einfach weiter, ohne Ziel, nur mit der Absicht, vorwärts zu kommen. Ein Geldautomat am Wegrand schenkte ihr einen Kontoauszug, das Dezembergehalt war eingegangen. Ob der Dauerauftrag einfach weiterlaufen würde?
Normalerweise verschwanden die Fragezeichen nach einigen Kilometern, nicht so heute. Es waren zu viele Wenn und Aber, ein undurchdringlicher Sumpf von Eventualitäten. Auf jeden Fall hatte sich nun die Frage geklärt, wo sie in Zukunft ihr Geld verdienen würde. Woanders, für einen Chef, der sie nicht mehr anlügen würde, ihr nicht mehr oder weniger offensichtlich an die Wäsche wollte. Thomas war aus dem Rhein gezogen worden, fünfizig Kilometer stromabwärts. Sie würde sich eine Stelle suchen, ein nettes Büro mit Kollegen, auf jeden Fall keine Isolationszelle mit Telefonzentrale.
Indizien sprachen für einen Kampf. Von der Pistole in der Brusttasche seines Mantels wisse sie nichts. Eine Patrone fehlte. Nein, sie habe keine Erklärung. Feinde? Nicht dass sie wüsste, ja natürlich, da wären Geschäftspartner, manches sei nicht immer ganz reibungslos verlaufen, aber wegen Zahlungsverzögerungen jemanden umbringen? Es wäre doch nur um Geld gegangen, sie könnten sich gerne die Akten ansehen, aber für die Buchhaltung sei jemand anderer zuständig, ein freiberuflicher Steuerberater.
Was würde mit einer Firma passieren, deren Inhaber verstorben war? Wie auch immer die rechtliche Seite aussehen mochte, sie würde sich auf die Suche machen müssen. Ab wann können sie bei uns anfangen? Morgen schon. Referenzen? Bedauere, Tote schreiben keine Zeugnisse.
Nach unschätzbar langer Zeit begann sie die Kälte zu spüren, eisige Finger krochen unter ihren Wollmantel. Eigentlich konnte sie nun nach Hause fahren, in der Stadt gab es nichts mehr zu tun für sie. Und morgen? Ein Ausflug nach Luxemburg vielleicht? Eine Welt voller Optionen lag ihr zu Füßen.
In nachmittäglichem Automatismus nahm sie die Treppen zur U-Bahn hinunter. Aus der Tiefe hallte eine Stimme empor, die sie kannte. Wortfetzen, die sie zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Am unteren Ende des Treppenaufgangs stand er: braune Kutte, zotteliger Bart, der fast bis zur Hüfte herunterhing.
"Und ich sage Euch, es wird Heulen und Zähneknirschen sein, denn Ihr habt euch versündigt an dem Propheten eures Herrn und Hand angelegt an ihn. Doch Gottes Rache wird fürchterlich sein!"
Franka beschleunigte ihre Schritte, während sie an ihm vorbeiging. Ob er sie erkannt hatte? Auf der Suche nach der Antwort in seinem Gesicht sah Franka das blaue Auge. Der linke Arm war bandagiert und wurde nur durch ein schwarzes Dreieckstuch in seiner Stellung fixiert.
"Halt, Mädel warte, ich muss mit dir reden … nicht weglaufen!"
Die Türen schlossen sich und tief atmend starrte Franka auf den Bahnsteig. Er war ihr nicht hinterhergekommen, hatte den Zug verpasst. Die Welt vor den Fenstern setzte sich in Bewegung. Das letzte was Franka erkannte, war das Werbeplakat eines Reisebüros: "2 Wochen Thailand, all inklusive: 730 Euro" Den morgigen Tag würde sie definitiv in Luxemburg verbringen, sich vielleicht in einer netten Pension einquartieren, jedenfalls nicht mit der U-Bahn ins Büro fahren.