Im Schleudergang
Mary Ann sitzt im Schneidersitz in ihrem ausgeräumten Wohnzimmer. Sie hat einen großen Karton vor sich stehen und ist dabei die letzten Kleinigkeiten zu packen: Kerzenständer, Nippes und die restlichen Bücher. Eines hält sie etwas länger in ihren Händen und streicht zärtlich über den Einband, ihr Lieblingsbuch „Wie ein einziger Tag“ von Niclas Sparks. Das erste Buch, bei dem sie während des Lesens weinen musste. Sie hat das alte Ehepaar vor Augen, das sich im Teenie-Alter unsterblich ineinander verliebt hat und sich mit 80 Jahren immer noch Liebesbriefe schreibt. Während sie das Buch in die Kiste zu den anderen legt, rinnt Mary Ann eine Träne langsam die Wange herab. Seit sie denken kann hofft sie, dass es ihr auch einmal so geht wie Allie und Noah. Sie fängt an zu grübeln, warum sie schon wieder umzieht, warum sie nicht zur Ruhe kommt…
Aus diesen Gedanken wird sie von der Türklingel aufgeschreckt. Vor der Tür stehen die Umzugshelfer, die ihre Möbel abholen wollen. Während Mary Ann die Treppen hinunter läuft, um ihnen die Tür zu öffnen, schießen ihr 1000 Gedanken durch den Kopf. Sie möchte das alles nicht. Sie weiß gar nicht mehr genau, wie oft sie mittlerweile schon umgezogen ist. Waren es zehn, elf oder zwölf Male? Alles dreht sich vor ihren Augen: Viele Umzüge, diverse Beziehungen, wie eine Waschmaschine im Schleudergang. Als sie wieder geradeaus schauen kann, liegt sie am Fuß der Treppe. Sie muss wohl die letzte Stufe nicht erwischt haben. So kann es doch nicht weitergehen. Wer zeiht in zehn Jahren schon zwölf Mal um? Natürlich Mary Ann und ihre treue Waschmaschine! Die hat sie nicht allein gelassen. Ihr blieb auch nichts anderes übrig. Rein in den Umzugswagen, raus aus dem Umzugswagen.
Die Möbelpacker haben all ihre Sachen verstaut. Das Einzige, was noch fehlt ist die Waschmaschine. Die steht auf dem Gehweg, bereit für eine weitere Reise. „Ich kann das nicht, nicht schon wieder“, schreit es in Mary Ann. Sie bittet die Möbelpacker ihre Möbel zur nächsten Arbeiterwohlfahrt zu bringen. Die zwei schauen sie zwar entgeistert an, gegen ein kolossales Trinkgeld haben sie schließlich nichts einzuwenden und machen sich mit den Möbeln auf etwas Gutes zu tun.
Da steht Mary Ann nun, neben sich ihre treue Begleiterin. Schnell rennt sie zurück in den Hauseingang, klingelt bei Georg, ihrem ehemaligen Nachbarn, der Steinmetz ist und borgt sich seinen größten Hammer. Sie läuft zurück auf die Strasse und holt aus. Der erste Schlag trifft in die linke Seite, eine riesige Beule. Der zweite Schlag auf den Deckel lässt Plastik splittern. „Du musst nie wieder umziehen“, flüstert Mary Ann strahlend ihrer Waschmaschine zu. Mit jedem Schlag fühlt sie sich erlöst und befreiter. Und da es Dinge gibt, die man nicht halbherzig tun sollte, schlägt sie solange zu, bis die Waschmaschine schrottreif ist. Zum Glück kommt morgen der Schrotthändler. Sie gibt ihrer alten, verbeulten Freundin einen letzten freundschaftlichen Schlag mit dem Hammer, springt in ihr vollbepacktes Auto und düst los.
Auch Mary Ann wird nicht mehr umziehen. Seit einigen Jahren ist sie auf der Suche, zieht von einem Ort zum nächsten und hat erst jetzt wieder wahrgenommen, dass ihr Herz vor neun Jahren sein zu Hause gefunden hat. Mary Ann lacht laut dieses perlende, ansteckende Lachen, das so gut tut, gibt Gas und fährt auf die Autobahn Richtung Frankfurt a. M. Dorthin, wo alles begann und wo alles enden wird. Dort, wo auch noch mit 80 Jahren die Liebe ihres Lebens sein wird.