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Im Schnee
Langsam rieselte eine Schneeflocke vom Himmel, landete mitten in ihrer ausgestreckten Hand. Verträumt beobachtete sie, wie sie zu schmelzen begann, und in kurzer Zeit als Wasser auf den Boden tropfte. Ihre Lippen formten ein lächeln. Jeder Atemstoß ließ kleine Dunstwolken im Wind vorbeiziehen. Rotes Haar reichte ihr bis an die Schultern und stellte zu ihrem weißen Kleid einen hübschen Kontrast dar. Mit vor Kälte leicht geröteten Wangen schaute sie zu ihrer Rechten.
Neben ihr stand ein ungefähr siebzig Jahre alter Mann, eingepackt in dicke Winterkleidung, in seiner rechten Hand ein Gehstock. Seine Augen trafen die ihren, umgeben von endlosen Falten erkannte sie das unerschütterliche Band, das sie schon so lange zusammenhielt. Sie lächelte verliebt, und nahm seine Hand.
Zusammen gingen sie den See entlang, ohne ein Wort zu wechseln, bis ein schleimiges Husten die romantische Stimmung zerstörte. Besorgt schaute sie ihm in die Augen, und konnte tief in ihnen versteckt einen Funken Angst erkennen.
„Es geht mir gut, kein Grund zur Aufregung.“
Kurz wartete Sie, dann fing sie an vergnügt zu kichern.
„Was ist so komisch?“, fragte er etwas verärgert.
Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ihre Heiterkeit zu unterdrücken. „Entschuldige. Das war wohl sehr unhöflich. Es ist nur … du warst noch nie ein guter Schauspieler, und jedes Mal wenn du dich daran versuchst, ist es urkomisch.“
„Freut mich dass dich meine kleine Vorstellung amüsiert.“ gab er mit weiterhin verärgertem Unterton zurück, doch seine Mundwinkel konnten seine wahre Stimmung nicht verbergen. Wieder musste sie kichern, und jetzt lachte auch er.
Am Doch angekommen, blieben sie stehen und hielten sich in den Armen, ihre Gesichter nun dem See zugewandt. Im Sommer konnte man hier Boote fahren, im Winter machte dies jedoch verständlicherweise wenig Sinn. Sie suchten sich eine Bank und genossen den Augenblick wie er war, während die Sterne ihnen am Himmel fröhlich zuwinkten.
Einige Zeit später unterbrach er die Stille. Er beugte sich nach vorn, und lag seine Ellenbogen auf die Oberschenkel, seine Augen fixierten etwas weit jenseits des Sees. „Weist du eigentlich, dass du mir nie etwas über deine Eltern erzählt hast?“
„Ich wusste nicht, dass sie dich interessieren“ antwortete sie verwirrt. „Du weist, ich konnte sie nie wirklich leiden.“
„Ja… ja ich weis. Doch dieses eine Mal, würde ich gerne mehr über sie erfahren.“
„W-Warum auf einmal?“ Sie wurde nervös, kratzte sich am Nacken. „Das kommt etwas plötzlich.“ Eine unangenehme Wärme stieg in ihr empor.
„Deine Kindheit war nicht einfach. Man kann es in deinen Augen sehen, das konnte man schon immer. Deshalb habe ich gewartet, darauf, dass du zu mir kommst, doch das ist leider nie geschehen. Da habe ich mich gefragt, Warum?“
Nervös rieb sie sich an den Fingern. Wieso musste er gerade jetzt solche Fragen stellen?
Lächelnd fuhr er fort. „Ich habe selbst lange darüber nachgedacht.“ Seine Stimme war langsam und beruhigend. „Die Antwort ist genauso einfach wie auch kompliziert. Weil du mir noch nie davon erzählt hast. Das ist alles.“
Verdutzt schaute sie ihn an. Was meinte er damit?
„Ich habe letztens ein Foto von uns gesehen“ erzählte er weiter. „Kein Aktuelles, eins von früher. Richtig kräftig sah ich damals noch aus. In Kairo sind wir gewesen, haben uns die Pyramiden angesehen.“ Verträumt schaute er auf den See. „Doch weist du was? Obwohl ich mich in all den Jahren so sehr verändert habe, so siehst du noch genauso hübsch aus wie damals. Meine Haare sind grau geworden, mein Rücken krumm, meine Haut trocken, doch dir konnte das Rad der Zeit nichts anhaben. Kannst du mir das erklären?“ Sie schaute ihn weiterhin verwirrt an, hörte seine Worte, doch konnte sie nicht schnell genug verarbeiten. Sie schüttelte den Kopf.
Wieder lächelte er. „Zuerst dachte ich: Du bildest dir das alles nur ein, das ergibt doch keinen Sinn. Doch nach und nach kam die Erkenntnis, versteckt in vielen kleinen Details, die mir vorher nie aufgefallen waren.“
Sie fand ihre Stimme wieder. „W-Was für Details?“
„Oh, ganz einfache, kleine Dinge. Jetzt zum Beispiel. Schau mich an, unter meiner dicken Winterjacke trage ich noch zusätzlich einen Pullover, und in meinen Schuhen befinden sich gleich zwei Paar Socken, doch immer noch ist mir kalt. Ganz im Gegenteil zu dir, lediglich ein schlichtes Kleid und darunter ein Unterhemd reichen, um dich ausreichend vor der Kälte zu schützen. Kannst du mir das erklären?“
Diese Frage versetzte ihr einen leichten Schock. Er hatte Recht, warum war ihr nicht kalt? Was war Kälte überhaupt? Sie fasste sich an den Kopf, ihr wurde schwindelig.
„Die Wahrheit ist diese.“ Er atmete kurz durch. „Du bist tot, und das schon seit vielen Jahren.“
Das Blut gefror ihr in den Adern, ihre Atmung geriet ins Stocken. Tot? Wie konnte sie tot sein? Geschockt setzte ihr Denkvermögen für kurze Zeit aus. Sie hörte das leise Pfeifen des Windes, spürte wie ihre Kleidung von ihm verweht wurde. Ihr Blick wurde glasig, sie schüttelte sich kurz und kniff ihre Augen zusammen. Sie war unmöglich tot, soviel war sicher, man konnte nicht sterben ohne es selbst zu merken, doch was meinte ihr Mann dann damit? Er hatte Recht, sie verspürte keine Kälte, doch dafür musste es doch eine plausible Erklärung geben, und das mit dem Foto hatte er sich bestimmt nur eingebildet, er war immerhin nicht mehr der Jüngste.
Ihre Füße fingen an zu kribbeln. Sie schaute an sich herab, langsam schienen sie durchsichtig zu werden. Panik stieg in ihr auf. Sofort schnellten ihre Hände nach unten, doch konnten nichts ertasten, erschreckt zog sie sie wieder zurück Unfähig die Situation zu begreifen schaute sie umher, als ob es in naher Umgebung etwas geben würde, was ihr helfen könnte.
„Es tut mir leid, ich kann dir nicht helfen, wo ich es bin, der dieses Schicksal über dich gebracht hat.“
Sie wollte schreien, doch fand ihre Stimme nicht mehr, als wären ihre Stimmbänder verschwunden. Mit zitternden Händen versuchte sie sich an die Kehle zu greifen, und musste einen Würgereiz unterdrücken.
„Doch eines verspreche ich dir“ sagte er mit rauer Stimme. „Wir werden uns wieder sehen, und das schon sehr bald.“
Ihre Füße und Hände waren nun vollends verschwunden, ihr ganzer Körper, oder das was von ihm übrig war, schien wie taub. Sie wollte aufstehen, doch ihre Angst hielt sie zurück, hilflos, mir wässrigen Augen, sah sie zur Seite, direkt ins Gesicht ihres Mannes. Tränen rannen seine Wangen hinab, während er sie anblickte. Ein letztes Mal versuchte sie ihn zu umarmen, und griff doch ins Leere. Die Dunkelheit nahm von ihr besitz.
Ein stechender Schmerz wütete in seiner Brust, während er zusah, wie sich seine Frau langsam in Luft auflöste.
Ehe er sich versah, war sie verschwunden, lautlos, und er saß alleine auf der hölzernen Parkbank. Ein paar Minuten saß er einfach nur da, still, und lauschte dem Wind. Schneeflocken rieselten vom Himmel. Sie hatte den Schnee immer gemocht… genau wie er.
Behutsam, um seinen kaputten Rücken zu schonen, stand er auf, und machte sich auf den Nachhauseweg. Sein Gehstock verursachte mit jedem Schritt ein dumpfes Geräusch auf dem Asphalt. Der Park war Menschenleer, und ihm wurde bewusst, dass dies schon den gesamten Abend so gewesen war. Er fühlte sich einsam, ein Gefühl an das er sich nun gewöhnen musste. Immer noch erinnerte er sich nicht an ihren Todestag, und er wusste, dass diese Erinnerung wohl niemals zu ihm zurückkehren würde. Ein eigenartiges Gefühl.