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Im Treppenhaus
Er ist auf den Stufen in die Knie gesunken, die Arme um seinen Körper geschlungen. Das Treppenhaus füllt sich mit seinen gepressten Atemzügen. Der Geruch von Schweiß und Aftershave liegt in der Luft.
Ich stehe nur da und starre. Starre und starre.
Blut sammelt sich in einer schwarzen Pfütze zwischen seinen Knien. Das Haar hängt ihm in wirren Strähnen ins Gesicht.
„Ben?“ Der Name kommt als Flüstern über meine Lippen.
Lauter, fordere ich mich selbst auf. Du musst lauter sprechen. „Ben?“ Es gelingt mir nicht.
Mein Blick fixiert Details. Matschverkrustete Schuhe. Blasse Haut. Blut, dass zwischen verkrampften Fingern hervorquillt.
Er hebt den Kopf.
„Sie sind hier.“ Sein Blick ist erstaunlich klar, aber seine Stimme klingt heiser und auf unangenehme Weise gealtert. „Sie... sie waren plötzlich da. Einfach so. Hinter mir. Anna. Ich glaube...“
Das Licht im Treppenhaus geht aus.
Im Lichtspalt, der durch meine angelehnte Haustür fällt, sehe ich ihn zusammenzucken. Er wendet den Kopf.
„Das Licht.“ Er keucht. „Was ist mit dem Licht? Anna, was ist mit dem Licht?“
Ich taste nach dem Schalter neben der Tür und finde ihn nicht.
„Zeitschaltmechanismus“, sage ich, immer noch eine Spur zu leise. „Nichts weiter.“
„Kannst du es wieder anmachen?“ Ich höre einen Hauch von unterdrückter Panik in seiner Stimme. „Anna?“
Ich ertaste den Schalter. Die Neonröhren an der Decke beginnen summend zu leuchten.
Der Ausdruck in seinen Augen erschreckt mich. Er zittert. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich jemanden vor Angst zittern sehe.
„Du brauchst einen Arzt“, sage ich.
Er blickt an sich hinunter. „Zu spät.“ Er streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Seine Finger hinterlassen rote Streifen auf seiner Stirn. Sein Atem geht stoßweise. „Ich muss... Ich muss mich vor ihnen verstecken. Sie werden mich suchen. Anna. Sie suchen mich. Sie sind hier. Ich glaube.... ich habe sie hergebracht.“
Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht.
„Oder die Polizei.“ Ich will mich umwenden.
„Nicht!“ Ben hebt die Hand. „Bleib hier.“
Ich halte inne.
„Der Ort, von dem ich dir erzählt habe. Der Ort. Erinnerst du dich?“
Ich schüttle den Kopf. „Ben, du blutest. Wir reden später. Erst muss ich-“
Er umschließt mit der Hand mein linkes Bein. „Hör mir erst zu. Okay? Es ist wichtig. Wirklich... wichtig.“ Er hustet.
Ich starre auf die dunkelroten Finger hinunter, die sich in den Stoff meiner Jeans graben. Sein Griff ist erstaunlich fest.
„Der Ort, von dem ich dir erzählt habe. Der... verbotene Ort. Anna. Erinnere dich. Das Gift, die Federn, die Rasierklingen.“
Das Licht geht aus.
Ich lege meine Hand auf den Schalter. Ein metallisches Klicken ertönt. Die Dunkelheit weicht dem dämmrigen Licht der Neonröhren.
„Ben“, sage ich. „Das ist lange her. Ich werde jetzt die Polizei rufen. Mein Telefon ist direkt hier vorne. Ich hole es kurz. Okay?“
„Nein, Anna. Warte. Hör mir zu.“
Sein Griff um mein Bein wird so fest, dass es schmerzt.
„Die Schatten. Erinnerst du dich an die Schatten? Die Fußspuren im Staub? Die verschlossenen Türen? Ich habe an ihnen geklopft, Anna. Ich habe die Schatten geweckt. Sie sind...“ Er hustet wieder. „Da waren Grabsteine. Da war ein Grabstein mit meinem Namen drauf.“
„Du bist verrückt“, sage ich nur.
„Gift. Ich habe es eingeatmet, die ganze Zeit. Es ist so schön da. So unendlich schön. Du hättest es sehen sollen... Ich hätte ihn dir gezeigt. Den Ort.“ Er hebt die Hand zum Mund. Ich bin mir nicht sicher, ob er hustet oder lacht. „Diesen Ort.“
„Die Verletzungen“, frage ich. „Hast du sie dir... selbst zugefügt?“
„Ich war zu lange dort, Anna. Viel zu lange. Sie sind auf mich aufmerksam geworden. Ich bin zu weit hinein gegangen. Ich habe an den verschlossenen Türen geklopft, Anna. Sieh, ich habe noch Staub an den Fingern. Der Staub ist von dort. Von dort.“
Er hält mir die linke Hand hin. Mit der rechten umklammert er weiterhin mein Bein.
Aus der Tiefe des Treppenhauses dringt ein Geräusch.
Ich hebe den Kopf.
„Das sind sie“, sagt Ben. „Sie sind schon hier. Sie folgen meinen Fußspuren, so wie ich ihren gefolgt bin. Sie riechen das Gift. Oh Anna, ich hoffe, sie werden dir nichts tun.“ Er wendet sich um.
„Das ist Schwachsinn“, sage ich. „Lass mein Bein los.“
Er reagiert nicht.
„Sie kommen die Treppe herauf. Sie kommen. Kannst du sie hören?“
Das einzige, was ich hören kann, sind seine rasselnden Atemzüge.
„Sie sind gleich da.“
Das Licht geht aus.
„Sie wollen mich bestrafen.“
Ich starre einen Augenblick lang in die Dunkelheit, dann taste ich wieder nach dem Lichtschalter.
„Der Ort ist verboten. Ich weiß. Oh, ich weiß. Ich hätte dort nicht hingehen sollen. Aber Anna, du hättest es sehen sollen. Es ist so schön da. So wunderschön. Der Schnee. Du hättest den Schnee sehen sollen. So weiß. So unendlich weiß.“
Ich drücke den Lichtschalter. Wieder ertönt ein metallisches Klicken.
Das Licht bleibt aus.
„Du solltest jetzt lieber reingehen, Anna. Sie sind schon ganz nah.“
Der Griff um mein Bein lockert sich, dann zieht er die Hand ganz zurück.
Ich betätige den Schalter erneut.
Nichts.
„Geh rein, Anna.“
Da ist etwas. Da ist jemand auf der Treppe. Ich höre... Geräusche. Schritte?
Ich presse die Hand auf den Lichtschalter.
Nichts.
„Hallo?“, rufe ich in die Dunkelheit hinein. Ich nehme einen Hauch von Staub in der Luft wahr. Keine Antwort.
Da sind definitiv Schritte auf der Treppe. Ich kann sie hören. Da kommt jemand.
„Sie sind gleich da. Kannst du sie fühlen?“
Der Geruch von Staub wird intensiver. Ben hustet.
Auf der Treppe. Ganz sicher. Da ist jemand.
„Hallo?“, frage ich nochmal.
„Geh jetzt rein, Anna.“
Ich spüre einen Luftzug. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch durch den Türspalt hinter mir kein Licht mehr fällt. Die Wohnung liegt in kompletter Dunkelheit.
Ich blicke zur Treppe hinüber, die Augen weit geöffnet und doch so gut wie blind. Der Geruch von Staub, von Alter und Fäule umfängt mich. Meine Atemzüge werden flacher. Ich starre in die Dunkelheit. Da ist etwas. Da ist etwas auf der Treppe. Ich kann seinen Schatten an der Wand sehen. Es kommt zu uns.
„Du solltest jetzt wirklich reingehen, Anna. Ich kann sie atmen hören. Sie sind hier. Sie sind hier, weil ich sie hergebracht habe.“ Jetzt bin ich mir sicher, dass er nicht hustet, sondern heiser kichert. „Ich habe sie hergebracht. Sie kommen zu mir. Sie wollen mich nicht mehr gehen lassen, verstehst du? Sie wollen mich nicht mehr gehen lassen.“
Ich weiche einen Schritt zurück, spüre das kühle Holz der Wohnungstür an meinem Rücken.
Da kommt etwas. Näher. Ich kann seine Umrisse sehen.
Ben lacht immer noch.
Die Tür hinter mir gibt nach. Mit einem Fuß stehe ich in meiner Wohnung.
„Du musst jetzt reingehen, Anna. Du musst jetzt reingehen. Sonst siehst du sie und dann sehen sie dich auch.“
Er lacht jetzt aus vollem Hals.
„Mach die Tür zu, Anna! Geh rein und mach die Tür zu! Du darfst sie nicht ansehen!“
Aber ich kann nicht. Ich stehe einfach nur da und starre in die Dunkelheit. Ich kann Umrisse sehen. Ich atme Staub. Meine Augen brennen.
Da ist etwas. Nur noch wenige Meter vor mir. Die Linien werden schärfer. Der Schatten nimmt Konturen an, kommt näher, immer näher.
Der Geruch, mein Gott, der Geruch. Ich atme nicht mehr. Gleich kann ich ihn erkennen. Gleich kann ich ihn sehen. Die Dunkelheit gewinnt Form. Es geschieht. Ich kann es hören. Direkt vor mir. Der Schatten hat Augen. Mir wird heiß. Ich kann den Blick nicht abwenden. Ich muss es sehen. Ich will es sehen.
„ANNA, MACH DIE AUGEN ZU! SCHAU ES NICHT AN! DU DARFST-“
Der Satz reißt ab. Ich höre ein Geräusch, als ob eine Wasserbombe auf Beton zerplatzt, dann trifft mich ein Schwall warmer Flüssigkeit ins Gesicht. Der Bann bricht. Ich schließe die Augen, spüre den Geschmack fremden Blutes auf meinen Lippen. Mit dem Rücken pralle ich gegen die halb geöffnete Haustür. Ich stolpere einen Schritt zur Seite. Strecke den Arm aus. Taste nach Halt. Erwische den Lichtschalter.
Ein metallisches Klicken ertönt.
Die Neonröhren beginnen zu summen.
Ich spüre heißen Atem auf meiner Haut.
Es sieht mich.