Im Wald
Stephan breitete die mitgebrachte Decke auf dem Erdboden aus. Er hatte sich eine schöne Stelle ausgesucht, die sich direkt unter einem Baum befand. Es war angenehm kühl hier.
Er stellte die zwei Kühlboxen auf der Decke ab und setzte sich selbst. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baum, öffnete eine Kühlbox und holte sich etwas zu trinken.
Dabei sah er seine Schwester an, die sich kritisch die Umgebung anschaute und schließlich niederkniete. Suchte sie dort etwas?
An einigen Stellen war der Boden mit Gras bewachsen, wider an anderen – wo es frei von Bäumen war – kahl und trocken wie die Wüste selbst.
„Was wird denn das?“ Stephan grinste.
„Lass mich in Ruhe!“, reagierte sie gedankenverloren.
„Oh, Gott!“ Er schaute theatralisch in den Himmel. „Warum machst du solch grausame Scherze, und lässt mich mit meiner Schwester allein?“
Nicole sah ihn gereizt an. „Lass Gott aus dem Spiel!“
„Lass uns vernünftig sein und nicht nach Würmern Ausschau halten!“, er ahmte ihre Stimme nach, was ihm ganz gut gelang.
„Benimmst du dich auch so bescheuert, wenn deine Freundin da ist?“
„Nein, ich benehme mich wie du dich gerade, und sie ist bescheuert!“
„Volltrottel!“
„Okay, okay“, sagte Stephan friedlich, „ich höre auf. Aber erklär mir, was du da die ganze Zeit machst!“
„Riechst du das etwa nicht?“, sagte sie.
„Was meinst du?“
„Na, diesen Gestank!“
„Ich hab meine ungewaschenen Socken an, also…“
„Nein, du Blödmann!“ Sie sah aus, als ob sie ihn gleich erwürgen würde. „Das riecht nach… Verwesung, oder etwas Ähnlichem!“
„Es liegt vermutlich irgendwo ein totes Tier, ähm, Hase zum Beispiel!“
„Ich kann mich auch so nicht mehr entspannen… Und durch deine Hilfe, muss ich noch daran denken wie Würmer und Insekten den Kadaver des armen Hasen auffressen, vielen Dank!“
„Wozu sind denn Brüder da!“
„Um ihren Schwestern auf die Nerven zu gehen!“, beendete sie für ihn.
„Ich dachte an was anderes, aber so ist das auch nicht übel!“ Sein Grinsen wurde breiter.
„Musst du nicht pissen?“
Er dachte ein Moment darüber nach. „Nein, muss ich nicht!“
„Du hast doch ein Handy, ja! Wieso rufst du nicht deine Freundin an und fragst sie, wo sie so lange bleibt, hm!“
„Soll ich nach ihrem Bruder fragen?“
„Ist mir doch egal, verschwinde hier einfach!“, schrie sie ihn entnervt an.
Er sprang von der Decke hoch, sah sie mit einem gespielt ängstlichen Blick an. „Schon gut, schon gut, ich gehe!“
„Und lass dich erst blicken, wenn ich dich rufe!“
„Ich hoffe, das ist kein Ablenkungsmanöver, um an meine Kondome zu kommen!“
Sie warf ein Stein in seine Richtung und er verschwand laut lachend hinter den Büschen.
„Okay, das eine Problem weg, nun das andere Problem.“
Sie schnupperte an der Luft, drehte sich im Kreis, machte ein paar Schritte nach links, dann nach rechts.
Die Sonne schien unerbittlich. Obwohl die meisten Strahlen von den Bäumen abgefangen wurden, krabbelte sie in kürzester Zeit in einem völlig durchnässten Top durch die Gegend.
„Scheiße, woher kommt das nur?“ Sie setzte sich auf die Decke und sich aus der Kühlbox etwas zu trinken.
Ein Schluck kalten Mineralwassers brachte eine Idee.
Sie rollte die Decke zur Seite und kniete sich nieder. Es dauerte nicht und schon entdeckte sie etwas Interessantes – es ragte aus dem Erdboden und verbreitete einen unschönen Geruch. Sie hatte es gefunden! Doch ihr zunächst triumphaler Ausschrei wandelte sich rasch zu einem angsterfüllten Brüllen, als sie kapierte, was es war.
Stephan kam herbeigeeilt und sah Nicole sich übergeben. Sie würgte das wenige, was sie beim Frühstück zu sich genommen hatte.
„Ist was passiert, von dem ich lieber nichts wissen sollte?“
Sie zeigte mit dem Finger auf die Stelle, wo einst die Decke lag.
Stephan näherte sich dem Übelkeit erregenden Platz und sah sich dort um.
Nicole war gerade damit fertig geworden die Erde auf eine ungewöhnliche Art zu begießen und setzte sich erschöpft hin.
„Ich sehe nichts“, sagte Stephan nach einer kurzen Suche.
„Bück dich, du Arsch!“
„Das war aber nicht gerade nett!“
„Da ist ein menschlicher Finger!“, schrie sie ihm entgegen.
Er verzog sein Gesicht. „Obwohl du soweit sitzt, kann ich immer noch den Belag riechen, den die Kotze in deinem Mund hinterlassen hat, also bitte, halt dich etwas zurück, ja!“
„Halt doch die Fresse!“ Sie fiel müde auf den Rücken und schloss ihre Augen.
Stephan durchsuchte den Boden gründlicher und entdeckte den Finger, der aus der Erde rausschaute. Es musste ein Zeigefinger sein.
„Gehört vielleicht einer Puppe!“, sagte er.
Nicole reagierte nicht drauf. Sie war eingeschlafen.
* * *
Stephan näherte sich seiner Schwester und trat sie in die Rippen. „Aufwachen!“
Sie machte ihre Augen widerwillig auf und musste sie wegen des grellen Sonnenlichts zukneifen. „Bin ich eingeschlafen?“
„Bist du, ja! Aber jetzt musst du aufstehen, es gibt nämlich eine Überraschung!“ Er sah sie merkwürdig an.
In dem Moment, erklang eine Stimme: „Hi!“
Diese schrille Frau erfreute Nicole überhaupt nicht. Es war Stephanie, die Freundin ihres Bruders.
Schon diese Tatsache, dass ihr Bruder und sie gleiche Namen hatten, hasste Nicole. Wahrscheinlich deswegen weigerte sie das Mädchen beim Namen zu nennen, das erst vorgestern 18 geworden war – Nicole wurde nicht eingeladen.
„Hi, Freundin meines Bruders!“, sagte Nicole und sah sie missmutig an. „Bist doch noch gekommen, wie schön!“
„Ist das nicht wunderbar“, rief Stephanie laut, „und rate noch was!“
Nicole sah Stephan mit einem vorwurfsvollen Blick an.
„Mein Bruder ist auch da!“, beendete das Mädchen ihren Satz.
„Endlich was Gutes… Und wo ist er?“ Nicole schaute sich um.
Stephan rannte sogleich zu der Decke, die wieder ausgebreitet da lag, und warf sie zur Seite. Darunter verbarg sich ein Erdloch, so groß wie ein Grab.
„Tata!“, er machte eine präsentierende Geste mit den Armen.
Mit einer Ahnung, dass sie dort nichts Gutes auffinden wird, näherte sich Nicole dem ausgehobenen Loch und schaute runter. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken runter.
Sie betrachtete die Leiche im Grab wortlos. In ihrem Blick spiegelten sich gemischte Gefühle: Ekel, Angst, Wut, Unfassbarkeit. Es war so surreal, so unnatürlich. In ihrem Kopf brach ein totales Chaos aus.
„Das… das… das…“, sie versuchte etwas zu sagen.
Ihr Bruder und seine Freundin warteten gespannt auf die ersten Worte. Ja, sie folgten buchstäblich jeder Bewegung ihrer zitternden Lippen.
„Nein… Nein… Das kann nicht sein!“
Enttäuscht wechselten Stephan und Stephanie die Blicke.
„Ist das alles, was du zu sagen hast, Schwesterherz?“ Stephan schüttelte unzufrieden mit dem Kopf.
Nicole sah die beiden an. Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Ihr Monster…“
„Ich glaube, mehr kriegen wir nicht!“, meinte Stephan zu seiner Freundin gewandt, seine Schwester dabei völlig überhörend. „Tut mir leid, dass meine Schwester nicht so theatralisch veranlagt ist, wie es dein Bruder war.“
Nicole traute ihren Ohren nicht. „Was redest du da, du Arschloch!“
„O, warten wir noch ein Moment. Vielleicht wird da gerade ein neuer Star geboren.“
„Du, Bastard!“ Ein Gefühl von grenzenloser Wut erfasste Nicoles Wesen. So etwas hatte sie noch nie gespürt. Auf einmal war ihr scheißegal wer vor ihr stand, ob es ihr Bruder war oder ein Unbekannter. Nur ein Gedanke hielt sich in ihrem Hirn fest: die beiden waren Mörder, sie waren Sünder der schlimmsten Sorte.
* * *
Ohne viel zu überlegen sprang Nicole unerwartet auf ihren Bruder und trat ihn gegen das Knie.
Vor Überraschung und dem plötzlichen Schmerz, stolperte Stephan rückwärts zum Loch und fiel runter. Sein Hinterkopf schlug gegen das Gesicht der Leiche, was ihm für einen kurzen Moment die Orientierung nahm. Benommen versuchte er daraus zu klettern, brachte es aber nicht fertig sich am Rand des Grabes festzuhalten.
Nicole drehte sich zur Stephanie um, die wie angewurzelt da stand und sie grinsend anstarrte. In ihre Augen nur Kälte und Mordlust.
Nicole ging stumm auf sie zu. Ihre Nerven waren zum zerreißen gespannt. Ihre Hände, zu Fäusten geballt und bereit zu schlagen, bereit zu zerstören, fühlte sie nicht einmal.
Stephanie zog einen Revolver aus ihrer Handtasche und zielte damit auf seine Gegenspielerin.
„Schieß doch, du verrückte Schlampe!“, schrie Nicole wütend und rannte geradewegs auf sie zu.
Stephanie betätigte mehrmals den Abzug.
Endlich erwischte er den Rand des Erdlochs und zog sich nach oben. Die Erdkrümel rollten unter seinen Fingern weg und fielen auf sein Gesicht. Sie trafen seine Augen und zwangen ihn sie zuzumachen.
Plötzlich hörte er Schüsse. Es konnte nur Stephanie sein.
„Ich will ihren Tod sehen, ich will ihren Tod sehen!“, rief er ungeduldig.
Er zog sich auf die Füße und richtete sich endlich auf.
Das Loch war nicht sehr tief, sodass seine Schulter und sein Kopf gut zu sehen waren. Er konnte gerade noch beobachten wie seine Schwester auf seine Freundin wie eine Puma sprang, als ihn etwas Hartes ins Auge traf und er nichts mehr sehen konnte außer der ewigen Dunkelheit.
Die zwei Frauen landeten auf dem trockenen Erdboden.
Stephanie versuchte die Feuerwaffe auf Nicole zu richten. Nicole dagegen wollte den Revolver aus der Hand der Verrückten schlagen. „Laß endlich los“, zischte Nicole wütend.
Sie saß auf ihr drauf und lenkte die Arme der mordlustigen Schlampe zur Seite. Stephanie war ungewöhnlich stark, sodass Nicole Mühe hatte sie zu überwältigen.
Sie rammte dem Mädchen ihr Knie in die Seite.
„Scheiße!“, schrie Stephanie vor Wut und Schmerz.
Nicole schlug sie noch einmal und der Griff löste sich. Der Revolver fiel auf den Erdboden und wirbelte etwas Staub auf.
Sofort holte Nicole mit der Faust aus und traf ihre Gegnerin direkt auf die Nase. Ein widerliches Geräusch hallte in ihren Ohren und das Blut aus der gebrochenen Nase bespritzte ihre schmerzende Hand.
Stephanie schrie auf und verlor das Bewusstsein.
Stark schwitzend und schwer atmend, stieg Nicole zögernd von ihr runter und nahm den Revolver in die Hand. Sie zielte damit auf Stephanie, die sich nicht mehr bewegte.
Nicole näherte sich dem Grab und sah Stephan tot dort unten liegen. Statt seines rechten Auges, war ein blutendes Loch zu sehen.
Kraftlos und am ganzen Körper zitternd sank sie zu Boden und gab sich der Schwäche hin. Tränen liefen von selbst aus ihren Augen. Sie versuchte nicht sich zu beruhigen, weinte hemmungslos weiter.