Immer Meer
Marlon sah zu dem Walkadaver hinüber, der am Horizont gerade noch auszumachen war.
Vor ein paar Stunden hätten sie ihn noch erreichen können. Wenn Juri nur den verdammte Riemen nicht kaputt gemacht hätte.
"Das hast du versaut!" sagte er zu dem Mann, der im Heck des Bootes in der Sonne lag.
Er wischte sich über den Mund, die Schwellung war doch nicht so schlimm, wie er erst befürchtet hatte.
"Du könntest dich ruhig mal entschuldigen!"
Juri starrte ihn nur schweigend an. Das war wohl zu viel verlangt.
"Weißt du, wie lange wir nun schon in diesem Boot festsitzen? Zehn Tage? Elf?"
Marlon ließ sich auf die vordere Sitzbank fallen. Juri sah schweigend durch ihn hindurch.
"Mit dem Riesenfisch hätten wir wenigstens was zu Essen gehabt."
Er kratzte sich am Kopf. Die Haut begann schon abzupellen.
"Wenn nur die scheiß Sonne nicht wäre. Ich glaub', die Sonne macht uns beide verrückt", nun kratzte er an am Knie. "Hast ja recht, 'hätte' und 'wäre' helfen uns nicht weiter."
Juri saß da und blickte glasig ins Leere.
"Glotz' mich nicht so an!", zischte Marlon.
Er stand wieder auf und brachte dadurch das Boot zum Schaukeln. Dass er jetzt noch ins Wasser fiele, fehlte gerade noch. Der Idiot würde ihm bestimmt nicht helfen. Nicht nach dem, was passiert war.
"Pass bloß auf!", schnauzte er, "Sonst prügel ich dir dein dummes Gesicht schlau!" Er setzte sich wieder hin. "Du weißt ja, wie das ausgeht."
Er sah auf das Meer hinaus. Von dem Wal war nichts mehr zu sehen.
Außer Sicht getrieben oder von Haien gefressen.
War ja auch egal.
Wenn nur der Hunger nicht wäre. Er sah Juri an, aber der rührte sich nicht.
"Ohne deine dämliche Aktion gestern hätte ich jetzt was zu Essen."
Da kam ihm ein Gedanke.
Hinter seinem Rücken zog er sein Taschenmesser aus der rechten Hosentasche und kletterte ins Heck. Neben seinem Gefährten ging er in einer Wasserlache in die Hocke und legte ihm einen Arm um die Schulter.
"Jetzt tut's dir bestimmt leid, oder?"
Er zeigte mit dem Messer aufs Meer.
"Der Wal ist jetzt weg, und ich habe schrecklichen Hunger."
Seine Finger umkrampften das Messer.
"Pech, dass er weg ist! Glaub' bloß nicht, dass ich das gern tu."
Mit der Linken wischte er sich Schweiß und Tränen aus den Augen.
"Aber Strafe muss sein und das hier brauchst du ja jetzt nicht mehr."
Mit einem Ruck zog er Juri den gesplitterten Riemenstumpf aus der Brust. Der leblose Körper wäre zur Seite gekippt, hätte Marlon ihn nicht an der Schulter gehalten.
"Wenn du nur den verdammte Riemen nicht kaputt gemacht hättest", sagte Marlon und schnitt ihm ein Stück Fleisch aus der Seite.
05.12.2004