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Immer noch Grit Gerharts

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20.05.2006
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Immer noch Grit Gerharts

Da steht also diese eingebildete Miss Neunmalschlau. Mit den funkelnden Perlenohrringen, die genauso strahlen, wie ihr aufgesetztes, schmieriges Lächeln. Mit jedem auf der Party muss sie posieren und für ein Foto herhalten. Dabei schaffte Miss Neunmalschlau doch nur den Sprung auf die Harvard-Universität. Was ist denn da schon Großes dabei? Als ob ich das nicht gepackt hätte. In die Bibliothek stelzen, hinter einen Stapel von wichtig aussehenden Büchern verkriechen und auf das Klingelzeichen warten. Zur Entspannung einen Gameboy in der Tasche, um keinen Nervenzusammenbruch durch das ganze „In die Bücher starren“ zu bekommen. Das menschliche Gehirn nimmt nämlich nur eine begrenzte Anzahl von Daten auf, bevor es an seine Grenzen stößt. Der Einzige, der wirklich allwissend ist, ist Gott. Na ja, und Miss Neunmalschlau. Obwohl ich nicht glaube, dass sie die Farbe meiner Boxershorts von vorgestern kennt. Oder was Herr Michael Wessler heute zum Mittag aß? Nein, das weiß Miss Neunmalschlau nicht. Da kann sie sich noch so sehr durch ihre schulterlange, rotblonde Dauerwelle streichen, um für die Horde von Dummdödeln und lackierten Anzugsaffen interessant zu wirken. An mir würde dieses gestellte Gehabe heute vollkommen abprallen. Verpuffen, wie ein laues Lüftchen, nachdem man zuviel Zwiebeln verspeiste. Und wie das erst aussieht, wenn Miss Neunmalschlau versucht zu tanzen. Sie und der Tanzpartner gleiten über den Parkettboden, wie eine langhalsige Giraffe und ihr Nilpferd im Schleudersitz des Raumfahrtprogramms. Ganz zu schweigen von ihrem Outfit. In welchem Geschäft würde man denn für so ein Kleid noch Geld hinlegen? Also bitte, schwarz als Farbe? Ich würde mich fühlen, als käme ich gerade von einer Beerdigung. „Amen“, sage ich da nur. Oder: „Gott bewahre.“ Dann diese freizügige Rückenansicht, wo jeder beim Anblick der knochigen Schulterblättchen denkt, Miss Neunmalschlau käme direkt aus Somalia. Und so hauteng, wie das beinlange Kleid am Körper anliegt, könnte man sie glatt mit einem überdimensionalen Bindestrich vergleichen, wären da nicht diese zwei Erhebungen, die zusammengeklebt einen Handball ergeben. Und haben sie Miss Neunmalschlaues Schuhwerk betrachtet? Woher kommt das eigentlich? Aus dem Container für das Deutsche Rote Kreuz? Wahrscheinlich sieht deshalb der Tanzstil mehr wie eine Polonaise beim Kindergeburtstag aus. Jedenfalls scheint der Tanzpartner dasselbe über die Schuhe zu denken, sonst würde er Miss Neunmalschlau nicht so oft auf die Füße treten. Nach dem Ende des Liedes entschuldigt er sich galant mit einer Verbeugung bei ihr und ein angedeuteter Handkuss lässt Miss Neunmalschlau dazu erweichen, in ihren heutigen Abendrhythmus zurück zu kehren: umarmen, lächeln, für Fotos posieren, lächeln, tanzen, wieder lächeln. Dann von vorne, eine endlose Spirale der aufgesetzten Fröhlichkeit. Nicht das Lächeln vergessen! Ich bitte Sie!
Noch zwei Songs bis Mitternacht, ich stehe allein auf dem Balkon, ein Gläschen Sekt in der Hand und der eisige Atem der Welt, der um meine Nasenspitze säuselt. Miss Neunmalschlau posiert gerade mit angeklebtem Dauerlächeln für ein Foto, lässt sich von einem versnobten Lackaffen umarmen und zum Tanz entführen. Bei diesen Leuten funktioniert der einstudierte Wimpernaufschlag, aber ich deute ihr die kalte Schulter des Desinteresses. Erste Raketen erhellen das Sternenzelt über uns, bringen totgesagte Schnappschüsse zurück in die Erinnerung: das Feuerwerk am letzten Abiturtag, ein Mondscheintanz mit meiner großen Liebe Grit Gerharts. Grit heiratete kurz danach diesen verbitterten Mann, obwohl er eigentlich erst nach dem schrecklichen Autounfall so frustriert wurde. Sie besuchte dann die Universität und jetzt, über ein Jahr später, posiert sie für nichts sagende Erinnerungsfotos dahergelaufener Exabiturienten. Die letzten zehn Sekunden des Songs folgen, Raketen steigen in den Silvesterhimmel. Feuerwerke erzeugen wundersame Farbmischungen, es knallt und zischt in jeder Ecke. Konfetti rieselt durch die erste Luft des neuen Jahres und Miss Neunmalschlau stößt hier an, klimpert dort gegen, prostet in die Ferne, umarmt in der Nähe. Dann blickt sie in meine Richtung und setzt sich in Bewegung. Wie sie schon auf mich zustolziert mit ihrem lüsternen Gesichtsausdruck, der jedem Erotikfilm Konkurrenz macht. Dann dieser heuchlerische Versuch Interesse vorzugaukeln, als sie vor mir stehend fragt: „Alles in Ordnung, Schatz?“ und mich anschließend auf die Wange küsst. Aber ich zeige mich unbeeindruckt, brumme nur mürrisch abweisend. „Warum wolltest du eigentlich den ganzen Abend lang nicht mit mir tanzen“, versucht sie weiter mir einen Dialog aufzuhalsen, aber da ich schon zu müde bin, um lange zu diskutieren, antworte ich nur: „Wer hätte denn mit jemanden getanzt, der im Rollstuhl sitzt, Frau Wessler?“ Aber anstatt einfach zu verschwinden, mich verbitterten Kerl stehen zu lassen, nimmt sie meine Hand, lächelt: „Also ich hätte mir keinen besseren Tanzpartner vorstellen können, Michael.“ Und während wir beide uns Richtung Fahrstuhl bewegen, sagt sie ganz beiläufig: „Weißt du, was mich am meisten an dieser Party gestört hat? Alle Leute nannten mich, obwohl wir zwei verheiratet sind, immer noch Grit Gerharts.“

 

Hallo thedarkzero,

und erstmal herzlich Willkommen hier.

Ich weiß nicht, ob ich die Geschichte richtig verstanden habe. Die Dame, die er so oft als Miss Neunmalschlau bezeichnet, ist seine Frau, der Erzähler also ihr Mann? Ich bin mir da deshalb nicht so sicher, weil du mal andeutest, er säße im Rollstuhl, dann wieder lässt du ihn auf dem Balkon stehen.

Ich finde so Pointen im letzten Teil der Geschichte immer sehr unglücklich, vor allen Dingen wenn der Leser vorher nicht in die entsprechende Richtung geführt wird. Das hat so etwas von einem Knalleffekt.

Ansonsten hätte ich mir noch mehr Hintergrund über den Erzähler, die Situation gewünscht. So ist es ein einziges Lamentieren über diese Frau, es wird ziemlich schnell deutlich, wie toll er sie findet und sich einfach nur wünscht, sie würde ihre Aufmerksamkeit auch auf ihn richten. Das "Miss Neunmalschlau" hast du für mein Gefühl etwas zu häufig verwendet.

Liebe Grüße,
Juschi

 

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