Immer weiter
Immer weiter
I
Ihr überraschender Besuch löste große Freude in ihm aus, daran bestand kein Zweifel. Jedoch beschäftigte ihn die Frage, warum er diese Freude empfand. Während er gerade drohte in dieser komplexen Frage, ebenso wie im Anblick ihrer zauberhaft verträumten und zugleich verletzlichen tiefblauen Augen, zu versinken, erweckte sie ihn aus diesem unkommunikativen Zustand, indem sie ihm einen Joint zwischen seine Finger schob. Nach einigen kräftigen Inhalationen registrierte er ziemlich rasch, dass es ihm nun leider noch schwerer fiel ihren Ausführungen über die deutsche Graffiti-Szene konzentriert zu folgen. Ihre Worte kamen einfach nicht gegen seine Gedankenströme an. Freute er sich darüber, dass sie ihn aus seiner verhassten Einsamkeit riss oder übermannte ihn nur die triebhafte Vorfreude auf den sehr wahrscheinlichen Sex mit ihr? Vielleicht hing aber auch alles mit seiner Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, nach einem warmen Körper, der neben einem liegt, und so Ruhe und Sicherheit gibt, zusammen. Gedanken über Gedanken. Vermutungen über Vermutungen. Mutmaßungen über Mutmaßungen. Eventuell ergötzte er sich ja lediglich daran, begehrt zu werden, um sein lädiertes Selbstwertgefühl etwas aufpolieren zu können. In welche Richtung sich seine Argumente auch bewegten, eines hatten sie gemeinsam. Sie strotzten nur so vor selbstsüchtigem Eigennutz. Aufgrund dieser Feststellung stieg augenblicklich starker Selbsthass, der ihm durchaus nicht fremd war, in ihm auf. Den Hass als Energie akzeptieren, die Energie positiv umwandeln, anstatt sie unproduktiv und selbstzerstörerisch walten lassen. Wie von selbst klinkten sich diese formelhaften Worte, die er sich seit einigen Monaten, wie es jetzt schien mit Erfolg, zu verinnerlichen versucht hatte, in seinen Gedankengang ein. Endlich nahm er, Toranaga, wahr, welch ein bezauberndes Geschöpf ihm gerade gegenübersaß und sein schlechtes Gewissen ließ sein Gesicht vor Scham erröten. Er empfand doch echte, tiefe Zuneigung für sie. Warum dachte er vorhin lediglich an sich und seine Bedürfnisse? Es war höchste Zeit ihr alles zu geben, was er ihr geben konnte. Liebe gehörte leider nicht dazu. Ihren Worten Aufmerksamkeit zu schenken, war jedoch zumindest schon einmal ein Anfang. Toranagas weitere Bemühungen, die übrigens relativ schnell gar keine mehr für ihn darstellten und ihm selbstverständlich vorkamen, da sie ja wahrlich selbstverständlich waren, führten schließlich dazu, dass sich die Lage entspannte und beide einen angenehmen Abend mit Tee, Unterhaltung, Musik, Gras und Kuscheln verlebten. Schritt für Schritt wurden aus dem Kuscheln immer leidenschaftlicher werdende Küsse. Als sie begannen sich gegenseitig auszuziehen, während sie sich wild küssend seinem Bett näherten, musste Toranaga unweigerlich an eine bestimmte Stelle eines Irvine Welsh-Buches denken, mit der er sich in gerade diesem Moment sehr gut identifizieren konnte. Wie die Hauptperson des Romans befand auch er sich unmittelbar vor einem sexuellen Akt und wie die Hauptperson des Romans hatte auch er nur eines im Kopf, nämlich ein nicht enden wollendes, sich ständig wiederholendes Fußballstadion-Mantra. „Jetzt geht’s looos! Jetzt geht’s looos!“, brüllte es in seinem Schädel. Seit er dieses Buch gelesen hatte musste er immer, wirklich immer, kurz bevor es „looos“ ging mit diesem Mantra zurechtkommen. Heute schaffte er es sich das Lachen zu verkneifen.
II
Sie lagen noch immer eng umschlungen im Bett, während das Atmen langsam leiser und unaufgeregter wurde und auch Herz- und Pulsschlag sich allmählich beruhigten. Die Nähe und Wärme, die Toranaga noch zuvor nur ersehnen konnte, durfte er in diesen Sekunden in voller Intensität spüren und genießen. Doch anstatt sich in dieser ehrlichen Geborgenheit fallen zu lassen, nahm seine Einsamkeit ungeahnte Dimensionen an. Die dadurch aufkommende Verzweiflung trieb ihm Tränen in die Augen und er begann laut schluchzend zu weinen. Trotz ihrer gutgemeinten Aufmunterungsversuche heulte er weiter. Er musste hier raus, raus, raus. Schnell zog er sich an, entschuldigte sich kurz bei ihr, worauf er sie allein in seiner Wohnung zurückließ.
III
Er lief ziellos in die mittlerweile hereingebrochene Nacht hinaus. Wie von einem inneren Drang geleitet, steuerte er auf ein in einer leichten Niederung gelegenes Maisfeld zu. Am tiefsten Punkt dieser Mulde setzte er sich schließlich inmitten hochgewachsener Maispflanzen zu Boden. Langsam begann er sich von seinem Gefühlschaos zu erholen. Allein die Anwesenheit der Nacht, der Erde und der Pflanzen schafften eine gewisse Beruhigung. Unzählige Male retteten sie ihn schon vor dem Wahnsinn, in den ihn seine Gefühle und Gedanken stets zu treiben beabsichtigten. Er konnte sich nicht entscheiden, welche von beiden ihn mehr quälten. Da gab es zum einen die Gedanken, die immer präsent zu sein schienen. Seine Freunde und Bekannten zogen ihn wegen seiner Theorien, Gehirnkonstrukte und anderen Denkereien sogar schon des öfteren auf. Dabei war es ihm doch selbst seit längerem bewusst, dass bei Gedanken immer ein fader Beigeschmack bleiben musste. Denn egal in welche Richtung man dachte, blieb es einem stets unmöglich jeden Aspekt der jeweiligen Sache zu berücksichtigen. Meist berücksichtigte man sowieso lediglich einen oder ein paar wenige Gesichtspunkte. Man konnte auf der Gedankenebene einer Sache oder Thematik gegenüber also nie gerecht werden. Was blieb war ein Gefühl der Sinnlosigkeit oder zumindest der relativen Unwichtigkeit des Denkens. Warum dachte Toranaga aber trotz dieser Erkenntnis ohne Unterlass über alles und jeden nach. Er kam sich einmal mehr wie ein Sklave seiner Gedanken vor. Und dann gab es zum anderen ja auch noch seine Gefühle, die zweite Macht die ihn unterdrückte. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass der Schlüssel zum Glück darin liegen musste die Machtverhältnisse zu seinen Gunsten zu drehen. Also wie jetzt? Er musste sich seiner Gedanken und Gefühle bemächtigen, um glücklich leben zu können. Wie sollte das funktionieren? Er kam nicht weiter. Dachte er nicht sowieso seine Gedanken, die ihn ja angeblich versklavt hatten und nie alle Aspekte aufzeigten. Er drehte sich im Kreis. Er beziehungsweise seine Gedanken hielten es für das Vernünftigste das Denken zunächst einmal einzustellen. Ein meditativer Zustand würde ihm in seiner derzeitigen Verfassung auf jeden Fall nicht schaden. So glitt er, auf der unebenen, harten Erde sitzend, nach und nach in eine naturnahe, kosmische Befindlichkeit, die ihm mehr und mehr das Gefühl gab ein Teil der Natur, des Universums, des Ganzen, ja sogar selbst das Ganze und Nichts zu sein. So oft er sich in seinem Leben auch bemühte derartige Erlebnisse in Worte zu fassen, so oft musste er sich eingestehen dazu nicht in der Lage zu sein. In solchen Thematiken konnte man immer wieder geradezu perfekt die Defizite unserer Sprache aufzeigen. Nach Beendigung der Meditation war der nach wie vor tranceähnlich benommene Toranaga nicht in der Lage abzuschätzen wie lange er letztendlich auf diese Weise verbracht hatte. Im Endeffekt war es ihm auch reichlich egal. Auf jeden Fall, und nur das war wichtig, rückte die Meditation so einiges wieder in ein anderes Licht. Sein Bewusstsein begriff nun wieder etwas besser, wie groß und bedeutungsvoll, beziehungsweise wie klein und unbedeutend, das meiste, über das er sich seine Gedanken machte, und seine eigene Person eigentlich wirklich waren. Warum sollte er also diesen ganzen Ismen in seinem und in den Köpfen anderer so viel oder sogar zu viel Bedeutung beimessen? Während er sich nun gemächlich daran machte einen Joint zu drehen, drängte sich Anna, die Frau, die sich gerade allein in seiner Wohnung aufhielt, in seinen Sinn. Diese Augen. Dieser verträumte, sehnsüchtige Ausdruck in ihren Augen. Allein der Gedanke daran zauberte Toranaga ein seliges Lächeln aufs Gesicht. Aber warum konnte er sie nicht lieben, obwohl er doch zugegebenermaßen sehr angetan von ihr war? „Ihre Schönheit, ihre Zartheit, ihre Gutmütigkeit, ihr rebellischer, kritischer Geist, nicht zu vergessen: wir sind beim Sex ein nahezu perfektes Team!“, begann er aufzuzählen. „Ich sollte zufrieden sein. Schlimm wäre es allerdings lediglich, wenn nur einer von uns beiden Liebe für den anderen empfinden würde. Aber so ist es ja Gott sei Dank oder leider nicht. Tja.“ Seufzend bröselte er etwas Gras auf den, auf zusammengeklebten Papers, ausgebreiteten Tabak. Warum sollte er auch nur einen Augenblick lang versuchen die Liebe zu begreifen. Das Thema hatte er doch schon oft genug abgearbeitet. Die Liebe war seiner Meinung nach undurchschaubar und hatte zudem immer Recht, eine Macht also, der man unterworfen war und auf deren Gunst man nur hoffen konnte.
IV
Toranaga war um Ordnung bemüht, bemüht um Ordnung in seinem Kopf. „Es gibt also drei Mächte: Die Gedanken, die Gefühle, die Liebe. Ach, nein es gibt zwei Mächte, weil die Liebe ja nur ein Gefühl ist. So ein Blödsinn! Mächte, Gefühle, Gedanken, was geht mit mir ab?“ Er stand auf und zündete den fertiggestellten Joint an. „Wie es Anna wohl gerade geht? Ich, Arsch, denke die ganze Zeit nur an mich, obwohl ich aufgrund meines Verhaltens eine tolle Frau verletzt habe.“ Am liebsten wäre er auf der Stelle vor Scham im Boden versunken. Mit schlechtem Gewissen bepackt machte er sich langsam wieder auf den Heimweg, zog gedankenverloren am Joint und trottete weiter.
V
In Niederscheyern, seinem Wohnort, angekommen fühlte er sich noch nicht dazu in der Lage in seine Wohnung zurückzukehren, woraufhin er beschloss eine Dorfrunde zu absolvieren. Sein Spaziergang führte ihn durch die leeren Straßen des Ortes, vorbei an gehegten Gärten, an der ihm suspekten Kirche, an modernen Doppelhäusern, an alten Bauernhöfen und an einem Spielplatz. Endlich entdeckte er etwas, das sein Interesse wecken konnte. Es handelte sich um ein Wohnzimmerfenster, das hell beleuchtet und leicht einsehbar im Erdgeschoss eines phantasielosen Mehrfamilienhauses lag. Indem er sich näher an dieses Fenster schlich, gelang es ihm einen Einblick in das Szenario auf der anderen Seite der Scheibe zu gewinnen. Eine etwa fünfzigjährige Frau saß, gemütlich in eine Wolldecke gewickelt, in ihrem Sessel und starrte in ihren Fernseher, der gerade eine alte Folge der Serie „Magnum“ mit dem sensationell schnauzbärtigen Tom Selleck wiederholte. Trotz des unglaublichen Schnauzers sah Toranaga jedoch nur die unendlich einsam und teilnahmslos in die flimmernden Bilder blickenden Augen der Frau im Sessel. Er konnte sich keinen einsameren Blick als diesen vorstellen. Unweigerlich umgab ihn wieder eine Traurigkeit, der er sich nicht entziehen konnte. Erst nach circa fünf Minuten schaffte er es endlich seinen Blick von ihrem zu lösen und so langsam wieder zu sich zu kommen. Diese Kostprobe der Errungenschaften unserer Zivilisation setzten ihm zu sehr zu. Als Konsequenz daraus zog es ihn nunmehr zum zweiten Mal an diesem Abend in die Natur hinaus. Am Ortsausgang überlegte er kurz, ob er über die Felder zur linken oder zum Gerolsbach zur rechten marschieren sollte. Spontan bog er nach links ab und widmete sich einer Gedankenspielerei, die schon seit einiger Zeit seine Kreativität und Phantasie anregte. „Würde mein Leben komplett anders verlaufen, wenn ich nach rechts gegangen wäre? Vielleicht wäre ich an einer unebenen Stelle unglücklich aufgetreten und hätte mir meinen linken Fuß verstaucht. In der Notaufnahme hätte ich mich sofort in die wundervolle Krankenschwester verliebt. Aufgrund des Samariter-Effekts hätte es auch bei ihr sofort gefunkt. Oh nein, wie billig, wie einfallslos! Billige Männerphantasie, Krankenschwester und so. Ich sollte mich mehr bemühen. Ah ja. Es könnte doch sein, dass ich nur glaube mich für eine Richtung entschieden zu haben. In Wirklichkeit bin ich aber ebenso nach rechts abgebogen. Eine weitere Realität, eine Parallelrealität sozusagen, die ich nur nicht bewusst wahrnehme, da der Mensch lediglich dazu imstande ist eine einzige Realität, einen einzigen Lebensweg, in seinem Bewusstsein zu begreifen, läuft nebenher ab. Es gibt jedoch unendlich viele Lebenswege, da sich ja jeder Weg immer weiter verzweigt. Dadurch gibt es mich und auch jeden anderen unendlich oft in unendlich vielen parallelen Wirklichkeiten. Ich bin bestimmt auch schon unendlich oft gestorben. Mein Charakter hat sich auf den anderen Wegen ganz verschieden entwickelt. Ob wohl irgendeines meiner Ichs schon das Glück gefunden hat? Manchmal ist es sogar möglich einen Einblick in das Leben eines anderen Ichs zu bekommen. Leider ist aber nur den allerwenigsten klar, was sie gerade erleben dürfen, wenn dies geschieht. Es handelt sich dabei nämlich um die sogenannten „realistischen“ Träume. Man sieht darin also kurze Ausschnitte aus dem Leben eines anderen Ichs und das sogar aus dessen Perspektive. Manche Ichs, beispielsweise die selbstbewussten Aufreissertoranagas, die die tollen Frauen, in die ich nur heimlich verliebt war, in ihrem Leben wirklich gekriegt haben, beneide ich sehr. Andererseits habe ich aber auch schon durch die Augen von Toranagas gesehen, mit denen ich keinesfalls tauschen möchte.“ Toranaga fand diese zugegebenermaßen haarsträubende Theorie zwar nicht hundertprozentig schlüssig, aber aufgrund ihrer verwirrenden Komplexität war er einigermaßen belustigt und fest entschlossen dieses Phantasiegebilde demnächst weiter zu vergrößern und mit Details auszuschmücken.
VI
Zurück in seiner Wirklichkeit, bemerkte Toranaga, dass er schon seit geraumer Zeit geradewegs auf einen Baum zusteuerte, der nun noch mindestens einen Kilometer entfernt stand. Es gehörte zu seinen Vorlieben sich in der Natur nicht an irgendwelche Wege zu halten, sondern einfach schnurstracks auf ein Ziel zuzusteuern oder sich irgendwo hintreiben zu lassen. Diese Vorgehensweise verlieh ihm ein Gefühl von Freiheit. Während er weiter über die harte Erde stapfte, steigerte sich sein Wohlbefinden, da er mehr und mehr in den Zauber der Nacht eintauchte. In der Nacht fühlte er sich sicher und nur in dieser friedlichen Atmosphäre der umfassenden Dunkelheit in der Natur, fern der selbst zu diesen Stunden hell erleuchteten Dörfer und Städte, konnte er zur Ruhe kommen. Dazu kam der Sternenhimmel, der durch seine Weite zumindest einen kleinen Einblick in die Größe des Ganzen bot und ihm dadurch überdeutlich und eindrucksvoll aufzeigte, welche Bedeutung er und seine alltäglichen Probleme tatsächlich besaßen. Doch damit noch nicht genug. Die gerade beschriebene Größe, sowie das Geheimnisvolle und Mystische, das diesen Stunden eigen war, ließen bei Toranaga des öfteren Gedanken, Ideen und Erkenntnisse zu, an die er in der grellen, lauten Helligkeit des Tages nie zu denken gewagt hätte. Auch befand er sich nächtens stets an einem Ort fern der Hektik, fern der ach so wichtigen Dinge, auf die es anscheinend ankommen soll. Was bitte, fragte er sich, hatten Geld, Macht, Ansehen und so weiter wichtiges an sich. Waren dies nicht vielmehr lediglich von Menschen erdachte und produzierte Werte, die uns vom eigentlichen Leben auf der Welt ablenken und entfremden, und uns eine bequeme, mehr oder weniger funktionierende Scheinwelt bieten sollten? Für viele, ja die meisten, schien diese Scheinwelt jedoch schlüssig und in Ordnung zu sein. Für Toranaga war sie das nicht und er begann daher sogar langsam an seinem eigenen Geisteszustand zu zweifeln. „Denke nur ich so? Bin ich vielleicht der Weltfremde oder bin ich mit meiner Meinung lediglich in der Unterzahl? Werde ich langsam wahnsinnig oder muss ich mir treu bleiben und meinen ganz eigenen Weg gehen, selbst wenn er mich nach Indien oder sonst wo hin führt? Ach, keine Ahnung. Vielleicht sollte ich mich einmal mit einem Psychologen darüber unterhalten. Jetzt habe ich mich ja sowieso erst einmal für zwei Jahre Berufsoberschule entschieden. In zwei Jahren kann vieles passieren. Vielleicht werde ich zum Streber und finde danach in einem Germanistikstudium meine Erfüllung oder ich drehe durch und werde eingeliefert. Möglicherweise komme ich dort auch mit meiner großen Liebe, wer auch immer das sein mag, zusammen und genieße mit ihr das süße Leben oder ich schaffe es tatsächlich mich endlich von allem hier zu lösen und meinen Weg zu gehen. Alles ist möglich. Mal abwarten.“
VII
Obwohl der angepeilte Baum gerade noch etwa hundert Meter entfernt stand, kehrte Toranaga plötzlich um. Denn erst jetzt wurde ihm schlagartig bewusst wie ausgelaugt, erschöpft, müde und bekifft sein Körper war. Seine Kehle lechzte nach Wasser. Während des gesamten Heimwegs konnte er außer „Wasser!“, „Wie weit denn noch?“ und „Bett!“ keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nach einer halben Ewigkeit erreichte er überglücklich das lang ersehnte Ziel. Erst im Treppenhaus fiel ihm Anna ein. Ob sie noch da war? Ängstlich und unsicher betrat er seine hell erleuchtete Wohnung. Sofort entdeckte er auf dem Boden einen von ihr beschriebenen Zettel. Rasch hob er ihn auf und las ihn aufmerksam. „Gott sei Dank! Sie scheint mir die Eskapade nicht übel genommen zu haben. Sie hat mir sogar ihre Hilfe, wann immer ich sie benötigen sollte, angeboten. Verdammt! Sie ist so gut zu mir. Leider kann sie mir aber beim besten Willen nicht behilflich sein. Ich weiß doch selber nicht, wo mein Problem überhaupt liegt. Ich will doch nur ein guter Mensch sein.“ Müde schleppte sich der völlig erschöpfte Toranaga, nachdem er seinen Durst mit Leitungswasser stillen konnte, nun endlich in sein Bett. Unter der wärmenden Decke liegend, stellte sich im noch kurz die Frage, wie er diesen Abend eigentlich überhaupt bewerten sollte. Schon halb in die Welt der Träume versunken, kamen ihm noch einige Gedanken. „Der Abend war wie mein gesamtes Leben. Es ging einfach immer weiter. Ich habe die ganze Zeit mein Bestes gegeben. Ob es gut war, weiß ich nicht. Meine Verwirrung und Unwissenheit erlauben mir kein klares Urteil über meine Handlungen. Es ging schon immer einfach weiter. Bin ich gut oder schlecht? Ich versuche auf jeden Fall mein Bestes. Mehr kann ich nicht tun. Wird mich der lange Weg, der vor mir liegt Schritt für Schritt ins Paradies führen? Woher soll ich das wissen? Ich scheine einfach nur dahin zu treiben. Vielleicht gehe ich auch ständig nur im Kreis. Sei es, wie es ist. Ich werde einfach weiter gehen, weil es auch morgen einfach wieder weitergehen wird und da muss ich mit, ob ich will oder nicht“. Gute Nacht, Toranaga. Ruhe dich gut aus; denn morgen wird es wieder weiter gehen.