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Immer wenn der Nebel kommt
Immer wenn der Nebel kommt
„Was ist, wenn es die Elixburg gar nicht gibt?“, fragte Alexandra ihre große Schwester Clara. Sie hätten Zwillingsschwestern sein können, wenn Alexandra nicht einen Kopf kleiner gewesen wäre. Ihre Gesichter waren schmal, mit großen dunkelblauen Augen unter denen sich tiefblaue Ringe gebildet hatten.
Clara zögerte mit der Antwort.
„Mutter war sich sicher“, begann sie nach einer Weile.
„Wie kann sie sicher sein? Sie war doch immer nur in unserer Höhle.“ Alexandra griff nach den Gurten ihres großen Rucksackes und versuchte zum wiederholten Mal ihre Schultern zu entlasten.
„Ich habe es gespürt. Sie hat die Karte gesehen und daraus die Richtung bestimmt.“
„Wir gehen jetzt seit drei Tagen und haben nichts gefunden. Ich bin zu müde. Ich kann nicht mehr.“ Alexandra blieb stehen.
Clara ging noch ein paar Schritte und blieb dann widerwillig stehen. Sie und nahm ihr Fernglas und suchte sorgfältig den Horizont ab. Nicht die kleinste Erhebung unterbrach die glasig wirkende Oberfläche die aussah, als hätte eine braune Zuckerglasur die vereinzelten Felsbrocken eingehüllt.
„Vielleicht sind wir zu weit nach Westen gegangen.“
Alexandra schlüpfte aus den Tragschlaufen ihres Rucksackes und begann den Schlafsack herauszuzerren.
„Wir werden sie nie finden“, jammerte sie.
„Bist du wahnsinnig? Die Steinernen holen uns hier“, sagte Clara scharf
„Wir haben seit drei Tagen keinen einzigen gesehen. Es gibt überhaupt nichts hier.“
„Nur noch bis zur nächsten Düsternis. Dann kannst du schlafen. Einverstanden?“
Alexandra drehte sich statt einer Antwort einfach um und wickelte sich in ihren Schlafsack.
„Steh sofort wieder auf! Der Nebel kann jederzeit kommen und du weißt, was passiert, wenn sie dich im Schlaf erwischen.“
„Kannst ja Wache halten“, murmelte Alexandra und schloss die Augen.
Clara schlüpfte ebenfalls aus ihrem Rucksack und stapfte zornig zu ihrer Schwester. Sie rüttelte die dünne Gestalt, doch Alexandra schlief tief und fest.
„Alexandra“, rief sie erstickt. Tränen begannen sich zu bilden, doch sie schluckte tapfer. Ihre Arme, lagen schwer auf der Schulter ihrer Schwester und mit einem Mal schienen sie aus Eisen zu bestehen.
„Bitte, wach auf. Ich bin so müde. Ich kann nicht Wache halten.“
Die Atemzüge ihrer Schwester waren ruhig und tief. Das schmale Gesicht sah blass und eingefallen aus. Clara hockte sich neben sie. Tatsächlich hatten sie seit ihrem Aufbruch nur eine steinige Leere gesehen. Nichts deutete darauf hin, das hier irgendwo eine Burg lag.
Schon begannen ihre Augenlieder nach unten zu ziehen und der Schlaf ihrer Schwester griff unausweichlich auch nach ihr.
„Wir können uns nicht wehren, wenn wir schlafen.“
Die Augen brannten und ihr Kopf fiel nach unten. Sie öffnete mit aller Kraft die Augen, doch das Bild verschwamm vor ihr.
„Du wirst sterben, wenn ich einschlafe“, flüsterte sie und zwang den Blick auf ihre Schwester.
Alexandras kindliche Gesicht, umrahmt von den roten Haarsträhnen wurde klar, wie in einem Traum und verschwamm dann wieder.
„Alexandra“, flüsterte sie und bewegte einen Finger. Er schien unendlich weit weg zu sein, und der Rest ihres Körpers war gar nicht mehr vorhanden. Sie visierte den Rucksack an und ganz allmählich kroch ihre Hand vorwärts.
„Wir lassen die Rucksäcke hier.“
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie den Stoff zwischen ihren Fingern spürte. Er war feucht geworden und mit einem Schlag wurde sie wieder wach.
Rasch griff sie mit der anderen Hand nach ihrer Schwester und drückte ihr die Nase zu.
„Der Nebel, wach auf“, sagte sie eindringlich.
Alexandra versuchte zu atmen und schlug schließlich mit einer raschen Armbewegung Claras Hand zur Seite.
Was ist?“, Sie öffnete die Augen.“
„Wir gehen weiter. Du hast lange genug geschlafen.“
„Alexandra rieb sich die Augen und versuchte dann die heruntergerutschte Decke des Schlafsacks wieder über sich zu ziehen.
„Es ist feucht.“ Mit einem Schlag war auch bei ihr die Müdigkeit aus ihrem Gesicht gewichen.
„Der Nebel kommt.“ Clara richtete sich ruckartig auf, musste sich aber gleich wieder niederknien, weil ihr schwarz vor Augen wurde. Sie hockte sich hin und nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, während sie den Horizont beobachtete. Aus der klaren Linie zwischen Erde und dem rußigen Himmel war ein diffuses graues Band geworden.
„Schnell weiter.“ Clara nahm Alexandra an der Hand und zog sie zu einem kaum meterhohen Felsbrocken.
„Sie werden uns entdecken.“ In Alexandras Stimme lag panische Angst.
„Du musst nur tun, was Mutter uns gesagt hat. Es funktioniert sicher.“
Die ersten Schwaden krochen weit entfernt aus der Erde. Sie sahen aus wie harmlose Zungen, die sich in einer leichten Brise hin und her wogen. Bei genauerer Betrachtung war es allerdings kein Wind, der sie tanzen ließ. Aus Wenigen wurden in immer rascherer Reihenfolge unendlich Viele, die wie ein Lauffeuer auf sie zurasten. Von einem Augenblick zum nächsten tanzte um die Beiden ein Meer aus dicken Rauchfäden wie riesige Grashalme auf einer geisterhaften Wiese. Für einen Moment wogten sie im gleichen Takt, doch dann flossen die Halme auseinander, vereinigten sich zu einem milchigen Band, und im nächsten Moment war der Nebel überall.
„Du bist dir nicht sicher, dass es funktioniert. Du hast es nie ausprobiert, “ klagte Alexandra.
Der Nebel ließ sie kaum einen Meter weit sehen.
„Hier können wir uns nicht verstecken. Wir müssen weg.“ Alexandra versuchte panisch wegzulaufen, doch Clara zog sie nieder in den Schutz des feuchten Felsens.
„Sie werden uns finden!“ Der Nebel war inzwischen so dicht, dass sie den Boden nicht mehr sahen.
„Sei still“, zischte Clara.
„Hast du das gehört?“, Alexandras Hand war schweißnass. Allmählich entglitt sie Claras Griff.
„Nein, konzentrier dich lieber.“ Clara vernahm nun auch ein entferntes Trommeln.
„Wir müssen weg“, flüsterte Alexandra und versuchte sich loszureißen, doch Clara griff auch mit der zweiten Hand nach ihr und drückte zusammen, so fest sie konnte.
„Bleib hier. Du kannst nicht davonlaufen.“
Aus dem Trommeln wurde ein rhythmisches Stampfen. Es kam genau auf sie zu.
„Nein!“, schrie Alexandra und riss sich los.
Clara warf sich ihr nach, doch der Nebel hatte sie augenblicklich verschluckt. Der Drang, ihrer Schwester nachzulaufen, war fast unerträglich, doch das Stampfen war schon viel zu nahe. Mit aller Kraft zwang sie sich zurück zum Felsen.
Das Stampfen kam von überall. Der Rhythmus gleichmäßig wie das Schlagen einer riesigen Uhr.
"Ich bin ein Stein, ich bin ein Stein, ich bin ein Stein."
Tränen rannen aus ihren Augen. Sie wischte die Tropfen mit dem Handrücken ab und verbarg ihren Kopf in der Armbeuge. Ringsum vernahm sie das Knirschen der zersplitternden Felsen.
Aus dem Stampfen wurden unterschiedliche Gehweisen. Einige trippelten mehr, während Andere beständig mit zwei Beinen vorwärts stapften. Dann blieb einer stehen. Ein weiteres Stampfen wurde ebenfalls langsamer, hörte kurz auf und bewegte sich dann bedächtig in ihre Richtung.
"Ich bin ein Stein, ich bin ein Stein, ich bin ein Stein."
Das war alles, was sie denken durfte.
Sie umarmte den Felsbrocken, roch sein feuchtes Moos, dachte sich in das feuchte Moos hinein.
Das Summen war plötzlich da. Ein Steinerner hatte sie entdeckt.
"Ich bin ein Stein, ich bin ein Stein, ich bin Stein."
Sie fühlte seine Präsenz ringsum. Zuerst schwach wie der Nebel, verdichtete es sich zusehends in ihrem Kopf und nun konnte sie es in sich spüren. Er esperte sie.
"Ich bin ein Stein, ich bin ein Stein, ich bin ein Stein."
Das Summen in ihrem Kopf schien alles zu dämpfen. Allmählich spürte sie in sich den Auslöser des Summens. Die Vorstellung eines Hundekörpers mit eckigem Kopf und einem spitzen Schweif, der senkrecht nach oben stand, drängte sich auf.
Das Espern wurde zu einem Schnüffeln in ihr. Er trat unsicher hin und her, und schien dabei direkt vor ihrem Gesicht zu sein. Clara hielt den Atem an und preßte die Augen zusammen, bis unter ihren Liedern rote Punkte zu tanzen begannen. Es mußte ein Hundsiger sein.
„Wo war Alexandra, war sie ihnen entkommen?“, Zornig konzentrierte sie sich wieder auf ihre Gedanken:
"Ich bin ein Stein, ich bin ein Stein, ich bin ein Stein."
Der Hundsige hatte nichts gehört. Clara versuchte zwei Gedanken gleichzeitig zu denken.
Sie spürte seine stumpfe Denkweise. Fast konnte sie seine Gedanken hören. Sie holte das Summen in ihrem Kopf näher.
Er schnaufte, worauf der Große näher trat. Sofort zog sich Clara zurück. Sie erkannte den Zyklopenen an seinem Espern. Es war tief und verursachte ihr am gesamten Körper eine eisige Gänsehaut.
Zögerlich schnüffelte er. Das dunkle und helle Summen wanderte hin und her. Sie konnte den Hundisgen sprechen sehen, hörte aber nichts.
Claras Gedanken bewegten sich auf das Summen zu. Sie hörte einzelne Fetzen. Wie einen Sender konnte sie das Summen hin und her schieben, bis sie plötzlich ein Flüstern hörte:
„Was ist es dann?“, fragte der Hundsige den Zyklopenen.
Vor Schreck ließ sie sich wieder zurück treiben, doch aus dem Summen war ein fortwährendes Wispern geworden. Sie musste sich nur näher hin denken um es zu hören.
„Gehen wir weiter. Menschen warten“, sagte der Zyklopene. Dann schnaubte er und setzte sich in Bewegung. Schlagartig war das Summen verstummt und sie war wieder alleine.
Ihr Stampfen wurde rasch leiser und verebbte schließlich ganz.
Clara öffnete die Augen. Der Nebel war lichter geworden und ließ sie den Boden erkennen. Zwei Staubbedeckte Ovale kennzeichnete die Stelle, wo der Zyklopene gestanden hatte. Die Spuren des Hundsigen konnte sie hingegen nirgends erkennen.
Nun flossen die Tränen unaufhörlich ihre Wangen hinab. Eine nie gekannte Leere umfasste ihre Brust. Sie war jetzt völlig alleine. Nach ihrer Mutter war auch Alexandra gegangen und niemand konnte sie zurück bringen.
Sie versuchte sich Hoffnung zu machen. Alexandra konnte schnell laufen. Die Steinernen waren langsam. Der Nebel hatte nicht lange gedauert. Doch das Gefühl der Leere blieb. Erst nach geraumer Zeit versiegten die Tränen und so etwas wie Trotz kam in ihr auf. Sie strich ihre nassen Haarsträhnen sorgfältig unter ihre Mütze und packte ihren Rucksack. Alexandras Sachen verstaute sie auf dem Felsen und legte ein weißes Unterleibchen obenauf. Wenn sie hierher zurück kam, sollte sie ihre Sachen leicht finden.
Sie nahm ihr Fernglas und suchte den Horizont ab. Als erstes sah sie eine Gruppe von winzigen Punkten. Die erstarrte Horde der Steinernen. Im Fernglas wanderte die gerade Linie des Horizonts weiter. Alexandra war nirgends zu sehen.
Es gab nur zwei Möglichkeiten, sagte sie sich. Entweder hatten sie die Steinernen erwischt oder sie war entkommen. Wenn sie die Steinernen erwischt hatten, dann war sie bei ihnen. So sehr sie es hasste, in ihre Nähe zu gehen. Sie musste Gewissheit haben, was mit Alexandra passiert war. Sie musste Gewissheit haben, ob es stimmte, was ihre Mutter ihr erzählt hatte. Und wenn sie die Steinernen tatsächlich erwischt hatten, würde sie Alexandra rächen. Entschlossen und mit neuer Kraft stapfte sie in Richtung der Steinernen. Schnell wurden aus den Punkten einzelne Gestalten:
Es gab Hundsige, Zyklopene, die drei Meter aufragten und ab und zu Kriecher, die sich kaum vom Boden abhoben. Ihre Köpfe stierten allesamt nach Norden.
Claras Interesse galt jedoch den Zombigen. Ihre steinernen Gesichtszüge waren verzerrt, als wären sie von Bilder in einem gewölbten Spiegel. Geschlitzte Augen und zerdrückte Münder sahen sie anklagend an.
Sie sah den ersten an. Der Kopf war zu einem vogelähnlichem Etwas verzogen. Das Kinn eine einzige Spitze und die Zunge ragte als dünner Stift aus dem Mundwinkel. Es war ein Mann gewesen. Der nächste Zombige war ein Mädchen. Sie bemerkte Überreste eines Kleides. Das Gesicht war breit, wie ein Frosch. Sie atmete durch. Es war nicht Alexandra. Der Nächste war wieder ein Mann. Er trug eine komische Mütze, mit einer Stirnkappe und darüber eine schräg nach hinten gezogene Erhebung. In seinem zu einem abscheulichen Grinsen verzogenen Mund fehlten die Vorderzähne. Clara wurde übel, doch sie sah weiter in die abscheulichen Gesichter. Endlich hatte sie jeden Zombigen betrachtet und fühlte erste Erleichterung. Das Schlimmste war Alexandra erspart geblieben.
Sie nahm erneut den Kompaß zur Hand, doch ehe sie die Richtung bestimmen konnte, bemerkte sie eine Bewegung. Von Norden kam etwas direkt auf sie zu. Es schien eine Art Wagen zu sein.
Clara kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Sie bemerkte vier große durchsichtige Räder an der Seite, die eine Plattform mit einem winzigen Häuschen trugen. Auf der Plattform saßen Menschen. Einer stand auf und winkte mit beiden Armen. Clara winkte zurück und ging ihnen entgegen.
Der Wagen war größer als sie gedacht hatte. Auf der vorderen Plattform hockten vier junge Burschen in engen Gewändern. Sie trugen entweder Schwerter quer über den Rücken oder lange Dolche in ihren Gürteln. Clara starrte sie fasziniert an. Sie hatte nie gedacht, dass Menschen sich auf diese Weise kleiden konnten. In ihrem Gesicht steckten kleine Speere. Einem Unglücklichen war sogar die Lippe durchbohrt worden. Und in seine Nase hatte jemand einen großen Ring getrieben. Sicher litt er große Schmerzen.
Mit einem Ruck blieb das Gefährt stehen. Die vier sprangen behende von der Plattform und kamen grinsend auf sie zu. Einer trug seine Haare wie ein Igel, der andere trug einen Anhänger in Form eines großen gezackten Rades, das beinahe seine ganze Brust bedeckte, und alle sahen sie ungepflegt aus.
Der mit dem gezackten Rad grölte:
"Uh, kleines Mädchen. So weit draußen und kein Papa, der dich beschützt. Soll ich dein Papa sein?"
"Ich verstehe dich nicht," sagte Clara mit fester Stimme. "Ich habe keinen Papa. Ich bitte euch nur um eine Auskunft. Habt ihr meine Schwester gesehen. Sie ist etwas kleiner als ich und hat nichts bei sich, als ihre Kleider.“
„Ein kleines Schwesterlein. Wie schade, dass ich sie nicht gesehen habe, aber ich könnte die suchen helfen.“ Seine Nase war schief und die Lippen hingen auf der linken Seite nach unten. Clara fand ihn abstoßend.
„Das wäre sehr nett. Ihre Sachen sind dort hinten.“ Sie deutete in Richtung des kaum mehr erkennbaren weißen Fleckens. Wenn ihr so nett währet, dort hin zu fahren. Ich hoffe, sie ist im Nebel den Steinernen entkommen. Sie war so müde, wahrscheinlich ist sie nachher umgefallen und eingeschlafen. Wenn sie dann versucht, mich zu finden, wird sie das Fahrzeug sehen und dort hin kommen.“ Clara war einfach froh, dass es jemand gab, der ihr helfen wollte.
Der Mann sah sie überrascht an.
„Heute ist mein Glückstag, das gibt’s ja nicht. Zuerst dich und dann deine Schwester. Wir werden ne Menge Spaß zusammen haben.“
„Vielleicht ein anderes Mal.“, antwortete sie. Sie fühlte ganz klar, dass er etwas Böses im Schilde führt, doch sie konnte sich einfach nicht vorstellen, was.
„Ihr kommt sicher von der Elixburg. Wir waren ganz verzweifelt, weil wir sie nicht gefunden haben."
Die vier umringten sie und zwinkerten sich gegenseitig zu. Trotzdem wirkten sie verunsichert.
"Das ist doch die Richtung zur Elixburg?“, Fragte Clara und deutete in ihre Marschrichtung.
"Es gibt keine Elixburg mehr. Die Steinernen haben sie schon vor 50 Jahren geschliffen. Es gibt nur noch Camelot. Sie belagern uns, aber sie werden die Mauern nie überwinden."
Hinter dem Wagen kamen zwei weitere junge Männer hervor. Sie waren nicht so häßlich, wie die vier um sie Stehenden, doch ihre Kleidung wirkte genauso zerrissen und schmutzig wie die der Anderen. Einer war groß mit struppigen schwarzen Haaren. Der zweite wirkte plump und sein blonden Haare waren zu langen Zotten geflochten, die von einer Schmutzschicht überzogen schienen.
"Ich bin Jan und wir sind die Stonecutters." Sagte der Größere. Darauf hin klopften sich alle sechs mit der Faust auf die Brust und schrien.
"Ajheaaa!"
Der mit dem gezackten Rad trat vor die Beiden und musterte Clara mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte. "Legen wir sie doch flach. Ist noch taufrisch."
"Was ist "flach legen“? Wollt ihr mir nicht helfen zuerst meine Schwester zu suchen.“
"Gig, du schreckst vor nichts zurück," sagte Jan streng. "Laß die Kleine in Frieden. Frag sie lieber, wie sie es geschafft hat, hier zu überleben."
Erleichtert atmete Clara aus. „Flach legen“ war also nichts Gutes und um ein Haar hätte sie zugestimmt.
Jan schob Gig fast beiläufig zur Seite und sah sie von oben herab an. Seine Beine steckten in schwarzen Lederhosen und seine Brust wurde von mehreren Gürteln mit metallenem Krimskrams bedeckt. Clara musterte die Gegenstände. Einige hatte sie schon gesehen, andere waren ihr unbekannt. Da waren Messer, kleine Projektile so wie die in den Gesichtern der Burschen, verzierte Goldscheiben und daneben silberne.
„Wie heißt du, Kleine?“, Fragte er freundlich.
„Clara.“
Der Blonde hatte sich zuerst hinter ihm gehalten, kam jetzt jedoch mit unverhohlener Neugierde hervor und musterte ihr Gesicht.
"Das ist Mad. Er ist mein Bruder. Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben." Mad's Gesicht war über und über von kleinen Narben verunstaltet.
Mad ging einen Schritt vor und betrachtete sie von der Seite.
"Mad, was ist?“, Fragte Jan.
Mad hatte seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepreßt. Clara versuchte zurückzuweichen, doch der Kreis um sie war geschlossen.
Mit einer raschen Bewegung riß ihr Mad die Mütze vom Kopf.
"Sie ist eine Hexe!" Schrie er.
Die Stoncutters wichen zurück und griffen nach ihren Schwertern.
„Gib mir meine Mütze wieder!“, Rief Clara verzweifelt, doch Mad sprang zurück und zog seinen Dolch.
„Seid ihr alle verrückt. Ich bin keine Hexe.“
Die Stoncutters wichen ängstlich zurück. Einige flüsterten:
„Tatsächlich, eine Hexe.“
„Sie kann nicht alle von uns auf einmal umbringen. Auf sie!“, schrie Mad, doch keiner wollte ihm folgen.
Tränen rannen von selbst Claras Wangen hinunter.
„Warum helft ihr mir nicht. Meine Schwester ist irgendwo da draußen, und ich falle gleich um, weil ich seit drei Tagen nicht geschlafen habe.“
Die restlichen Stoncutter sahen unentschlossen zu Jan. Clara sah Angst in seinem Gesicht.
„Warum glaubt ihr, ich sei eine Hexe. Ich habe keinem etwas getan. Ihr habt doch nicht Angst vor mir?“
„Nein“, sagte Jan, „aber du hast rote Haare. Alle Hexen haben rote Haare.“
„Wie könnt ihr behaupten, dass alle Hexen rote Haare haben? Ihr könnt nicht alle Hexen kennen, die es gibt. Sicherlich haben manche schwarze Haare und andere blonde. Und überhaupt. Jede Hexe würde ihre Haare färben.“
„Du hast versucht deine Haare unter der Mütze zu verstecken“, knurrte Mad.
„Es ist kalt. Bitte gib sie mir wieder. Ich habe sonst keine.“
„Hexe, verschwinde“, zischte er.
Clara wischte die Tränen ab.
„Gib mir die Mütze und ich gehe weiter. Aber vorher sagt mir bitte wo eure Burg ist. Wenn ich meine Schwester gefunden habe, brauchen wir einen Platz zum schlafen.“
Eisiges Schweigen schlug ihr entgegen. Jan sah betroffen zu Boden.
„Warum helft ihr mir nicht, ihr seht doch, dass ich nicht hexen kann.“
„Hexen sind nicht gerne gesehen bei uns.“
„Wir würden nicht lange bleiben. Wir brauchen doch nur einen Platz zum schlafen.“
„Wenn wir eine Hexe finden, dann verbrennen wir sie“, antwortete Gig, der sie geradezu ängstlich ansah.
„Ich glaube nicht, dass sie wirklich eine Hexe ist“, sagte Jan unsicher.
„Natürlich nicht, weil sonst müsste ich euch nicht bitten, mir bei der Suche nach meiner Schwester zu helfen. Und den Weg würde ich auch alleine finden!“
„Aber sie hatte keine Angst vor mir“, gab Gig zu bedenken. Mike mit dem Igelkopf nickte.
„Sie hat keine Angst vor uns.“
„Warum sollte ich das haben? Ich kenne euch doch nicht.“
„Wie hast du inmitten der Steinernen überlebt?“, fragte Jan.
„Ja, das frage ich mich auch. Bist du so mächtig, dass dir die Steinernen nichts anhaben können?“, setzte Mad hinzu.
„Es gibt einen Trick, aber das hat nichts mit Hexerei zu tun. Sie sind dumm. Man kann sie leicht täuschen.“
„Wie?“, fragte Mad.
„Ich sage ihnen, ich sei ein Stein, und sie glauben es.“
Alle sahen sie ängstlich an.
Mad nickte. „Eine Hexe, ich habe es doch gesagt.“
„Heißt dass, du weißt wie man sie täuscht?“, fragte Jan.
Clara nickte.
„Sie sieht nicht sehr gefährlich aus,“ murmelte Gig.
„Sie könnte uns helfen. Wenn sie wirklich so mächtig ist.“ Sagte ein anderer.
Mad starrte sie zornig an.
„Ihr seid die Stonecutters. Ihr müsst vor niemand Angst haben“, sagte Clara laut.
Jan nickte. Er sah ihr in die Augen. Seine waren grün. Ein intensives, funkelndes Grün. Clara hielt seinem Blich stand.
"Ajheaaa!", Rief er und klopfte sich auf die Brust.
Die anderen wiederholten seinen Ruf und entspannten sich.
„Wir haben keine Angst vor Hexen, bekräftigte Jan noch einmal. Du kannst mit uns zurückfahren. Und jetzt beeilt euch. Wir haben nicht ewig Zeit.“
„Was wollt ihr tun? Helft ihr mit jetzt beim Suchen?“
„Suchen? Nein, das hat keinen Sinn. Niemand kann den Steinernen entkommen. Wir werden sie rächen. Wir sind die Stonecutters? Wir töten Steinerne.“
„Niemand kann Steinerne töten. Sie beherrschen die ganze Welt.“
„Nicht, solange wir leben. Wir haben die Säge.“ Das letzte Wort sprach er besonders langsam aus und hielt die Schnur mit den zwei Ringen hoch.
„Mit dem wollt ihr die Steinernen umbringen? Kann ich zusehen? Es sieht nicht sehr gefährlich aus.“
„Mann, dass ist die Diamantene Säge. Sie schneidet selbst durch die Steinernen.“
„Meine Mutter hat mir erzählt, dass sich die Steinernen wieder zusammensetzen, wenn man sie auseinanderschneidet.“
„Das sind Märchen. Wir haben schon Hunderte von ihnen umgebracht. Komm mit und sieh dir an, was mir mit ihnen machen.“
Sie warfen die Säge um einen Zyklopenen und begannen hastig hin und her zu ziehen. Langsam fraß sich die Schnur in den Stein und teilte die Gestalt in zwei Hälften. Dumpf prallte der Oberteil neben dem Rumpf auf die Oberfläche. Die Arbeit war schwer und die Stonecutters wechselten sich ab.
Mit jedem auseinandergesägten Steinernen hellten sich ihre Minen auf.
„Wenn sie eine echte Hexe ist, dann kann sie uns vor den Steinernen beschützen,“ sagte Jan, zu Mad. „Niemand kann uns dann aufhalten. Wir rotten diese elendigen Steinernen ein für allemal aus!“
Mad verzog nur sein Gesicht, doch die anderen maßen Clara mit freundlich abschätzenden Blicken.
Clara wusste nicht, was sie erwidern sollte. Sie wollte auf die Suche nach Alexandra gehen, doch dann wäre sie wieder alleine gewesen. Langsam setzte sie sich nieder und ließ sich von der Müdigkeit übermannen. Das Kratzen der Säge zog sie sofort in den Schlaf.
Jan weckte sie unsanft.
„Schnell, der Nebel kommt! Wir müssen sofort zurück“
Clara war sofort hellwach. Die Hälfte der Steinernen lag zerschnitten vor ihr.
„Wir müssen zurück. Der Nebel wird bald wieder kommen. Clara sprang auf das Gefährt, dessen Räder sich langsam in Bewegung setzten.
„Wie funktioniert das?“
„Kurbeln“, erwiderte Jan und zeigte ihr das Innere des Hauses auf der Plattform. Dort saßen zwei Stoncutters und traten in auf zwei großen Scheiben angebrachte Pedale. In deren Mitte befand sich ein Hebel, mit dem sie lenkten.
„Verdammt, warum kommt er dieses Mal so schnell. Wir werden es nicht schaffen. Clara sah auf den Horizont, der langsam verschwamm. Dann griff sie an ihre Haare. Die Tautropfen waren immer das sicherste Vorzeichen.
Ihr Finger glitt über eine Haarsträhne und war sofort nass.
„Wir haben zu lange gewartet. Sie werde gleich da sein.“
Angst zeichnete sich in den Gesichtern der Stonecutter ab.
„Jetzt musst du zeigen, was du kannst. Wenn nicht, sind wir alle verloren.“
Mad sagte den Satz beiläufig, doch in seinen Augen lag ein stilles Flehen.
„Es ist ganz einfach. Ihr dürft an nichts denken. Denkt immer nur, dass ihr ein Stein seid. Stellt euch als Steine vor und denkt an nichts anderes. Dann glauben sie es auch.
„Wie soll das gehen. Ich kann doch nicht aufhören zu denken“, erwiderte Jan.
„Du musst es dir immer wieder vorsagen. Es darf keine Pause sein.“
Neben ihnen schrie Gig auf.
Ringsum erhoben sich jetzt die Nebelfahnen und im nächsten Moment sahen sie nur mehr eine weiße Wand.
„Fahrt weiter, so schnell es geht“, knurrte Jan. Clara sah seinen Kopf als dunklen Schatten neben sich. Automatisch wanderte ihre Hand zu seiner. Es dauerte nicht lange und sie hörten das Stampfen.
„Ich habe mir geschworen, dass ich eines Tages die Sonne sehe,“ sagte Jan. „Das heißt, wir werden dass heute überleben.“
„Ich habe eine Zeichnung gesehen. Sie ist ein gleißender Ball, und sie sendet goldene Strahlen aus. Wenn die Beter im schwarzen Turm erwachen, werden sie die Sonne zurückrufen und damit endet die Herrschaft der Steinernen. Das Sonnenlicht tötet die Steinernen.“
Jan drückte ihre Hand. „Dann ist es also wahr. Du warst nie in Camelot und du kennst die Legende vom schwarzen Turm. Wir werden den Eingang finden und die Beter aufwecken und sie werden die Sonne zurückrufen.“
Das Stampfen war beängstigend laut geworden.
„Halt und runter mit euch“, flüsterte Jan. Augenblicklich stoppte der Wagen und die Stonecutters sprangen alle runter. Jan hielt mit einer Hand Clara und mit der anderen Mad.
„Denkt immer nur, ihr seid ein Stein, lasst euch keine Angst einjagen, wenn sie euch espern, sie sind dumm wie Stroh“, flüsterte Clara ein letztes Mal, dann wurde sie von Jan weg vom Wagen gezerrt.
Die Drei warfen sich flach auf den nassen Boden. Clara konnte die Angst der beiden fühlen. Schon war das Stampfen so nahe, dass sie die verschiedenen Arten unterscheiden konnte. Dieses Mal war Clara mutiger und suchte sofort nach ihrem Espern. Die Steinernen waren wütend.
Sie waren sich bewusst, dass man sie auseinandergeschnitten hatte, und suchten sich jetzt zu rächen. Clara schien es, dass ihr Stolz darunter gelitten hatte, ansonsten schienen sie aber völlig widerhergestellt zu sein. Ein Hundsiger entdeckte den Wagen und wies die anderen darauf hin. Ein der Stoncutter warf die Nerven weg und rannte davon. Ein Steinerner galoppierte ihm nach und dann hörten sie einen entsetzlichen Schrei.
Neben den Stimmen der Steinernen konnte Clara jetzt auch Mads und Jans Murmeln vernehmen.
„Leise, wollte sie ihnen sagen, doch da wurde ihr klar, dass die beiden neben ihr die Lippen zusammengepresst hatten. Jan schien davon nichts zu bemerken, doch Mad sagte klar und deutlich, Hexe zu ihr.
„Du esperst meine Gedanken.“
„Du auch, du Hexe.“
„Sei still, sonst hören sie uns.“
„Nur wenn du mich nicht verrätst.“
„Ja.“
„Schwöre es.“
Unzählige Stimmen der Steinernen rauschten über sie hinweg. Sie waren am Wagen angelangt und zerfetzten ihn.
„Still“, versuchte Clara zu flüstern.
„Schwöre es bei den Geistern unserer Ahnen.“
„Bei den Geistern der Ahnen. Ich bin ein Stein, ich bin ein Stein, ich bin ein Stein.“
Einer der Zyklopenen war auf sie aufmerksam geworden.
„Drei Steine“, esperte er.
Clara übertönte Jans Gedanken. Alle Zuversicht war wie weggeblasen. Jan konnte seine Gedanken nicht verbergen.
„Einer ist kein Stein“, stellte der Zyklopene fest.
Clara konnte Jan wimmern hören. „Lass es vorbei gehen, lass es vorbei gehen.“
Sie versuchte ihm so nahe wie möglich zu kommen und seine Gedanken zu übertönen.
„Ich bin ein Stein, ich bin ein Stein, ich bin ein Stein.“
Schon kamen Hundsige näher und schnüffelten.
„Um ihn waren einige andere, doch Clara verstand ihre Stimmen nicht.“
„Da ist einer!“
Gig schrie gellend auf. Etwas zerrte ihn hoch, er schlug mit einem Schwert klirrend zu und dann brach krachend sein Arm. Etwas packte ihn, während seine Füße über den Stein streiften und er anscheinend verzweifelt versuchte dem eisernen Griff zu entkommen. Erneut krachte etwas und Gigs Schrei war so gellend, dass sie am liebsten sofort davongelaufen waren. Immer wieder hörten sie das Brechen seiner Knochen und er wurde nicht leiser. Schon stimmte der nächste Stoncutter ein. Die Steinernen zerdrückten und zerfetzten sie ohne Gnade.
Claras Gedanken wanderten zu Jan, der schreckliche Angst hatte. Sie stimmte in sein Espern ein und langsam schaffte sie es ihren Rhythmus einzuprägen.
"Ich bin ein Stein, ich bin ein Stein, ich bin Stein."
Die anderen Stonecutters waren zu weit weg. Einer nach den anderem wurde auseinandergerissen. Clara verdrängte die grellen Steine. Sie musste Jan übertönen. Das Espern suchte hin und her und kreiste um sie wie eine Wolfsmeute.
"Ich bin ein Stein, ich bin ein Stein, ich bin Stein."
Mad tarnte seine Gedanken perfekt. Er war direkt neben ihr und sie konnte noch immer seine Abneigung spüren, auch wenn ein Hauch von Bewunderung darin lag.
„Wir tricksen sie aus.“
Clara antwortete nicht. Sein Hochmut ärgerte ihn.
Die Steinernen suchten. Sie wanderten hin und her und esperten jeden Stein. Immer wieder kam einer zu den dreien und immer wieder stellte er erstaunt fest, dass hier nur drei Steine lagen.
Sie waren hartnäckig und Clara dachte schon, sie würden nie aufhören, als sie plötzlich ihre Suche aufgaben. Alle blieben stehen und schienen auf etwas zu warten. Clara atmete erleichtert auf. Gleich musste der Nebel wieder zurückgehen. Mad neben ihr grinste schadenfroh.
Dann hörten sie leise Schritte näher kommen.
Ein weiterer Steinerner kam. Zuerst wusste Clara nicht, was das war. Dieser eine Steinerne war anders.
Dann erkannte sie das Espern.
Es war die Stimme ihrer Schwester. Grässlich verzerrt drang Alexandras Stimme in Claras Geist.
„Du verdammte Hure! Habe ich dich gefunden. Du hast mich draußen krepieren lassen, und jetzt willst du dich davonstehlen, du billiges Flittchen.“
„Alexandra? Was ist passiert?“
„Was passiert ist? Du fragst, was passiert ist?“, kreischte sie. „Du weißt doch genau, was passiert, wenn sie dich im Schlaf erwischen. Mach deine Augen auf.“
Das Espern war jetzt direkt vor ihr. Clara konnte sich nicht bewegen, Jan geriet völlig in Panik und wenn Mad nicht gewesen wäre, hätte er sie einfach verraten.
"Ich bin ein Stein, ich bin ein Stein, ich bin Stein."
„Du bist kein Stein. Du bist meine Schwester Clara und neben dir sind noch zwei Hurensöhne. Mach deine Augen auf!“
Eine steinerne Hand fuhr in Claras Gesicht und riss ihr die Augen auf.
Die steinerne Fratze ihrer Schwester war das Letzte was sie sah.