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Immer wieder Annie
Von Besuch zu Besuch scheint das große Hoftor sperriger, unnachgiebiger. Seine angerosteten Angeln protestieren mit ärgerlichem Knirschen gegen jegliche Bewegung. Die massiven Holzflügeltüren sind schon lange ohne Schutz durch Firnis oder Farbe. Sie haben sich, vollgesogen mit der Feuchtigkeit ungezählter Regenschauer, so stark gesenkt, dass Klaus all seine Kraft zusammennehmen muss, um sie über die aus dem Naturpflaster herausgewucherte Grasnarbe zu ziehen, ihnen eine ausreichende Durchfahrt abzutrotzen. Er könnte den Cadillac auch problemlos vor dem Grundstück abstellen, aber die Abgeschlossenheit der Umfriedung vermittelt ihm, trotz fehlender Zaunlatten und bröckelnden Mauerwerks, ein Gefühl der Sicherheit.
Hier ist sein Refugium, seine Zufluchtsstätte, fühlt er sich behütet wie in Kinder- und Jugendtagen. Während Klaus das Auto auf den Hof lenkt, kommen die alten Bilder zurück.
Annie, sommersprossig und stupsnasig ... so wohltuend anders, als die Zopfliesen in ihren gerüschten Kleidchen.
Sie lachte ihn nie aus, wenn ihm die Worte holpernd und stotternd über die Lippen purzelten, ein Manko, das Klaus lange nicht in den Griff bekam. Immer schon waren ihm die Gedanken davon galoppiert, schneller als seine Aussprache gewesen. Einfache Gespräche oder auch mündliche Leistungskontrollen gerieten für ihn zu Spießrutenläufen. Alle lauerten auf seine sprachlichen Verfehlungen, darauf dass er sich verhaspelte, eine Lachnummer zum Besten gab, versagte. Bei Annie empfand er diese Furcht als unbegründet. Sie verschwand nicht gleich nach unverständlichen Lautfolgen, konnte warten bis sich seine Angst vor den gesprochenen Worten gelegt hatte.
Annie war für ihn mehr, als eine verständnisvolle Zuhörerin. Sie war schön. Obwohl sie das in ihren abgewetzten Jeans und mit dem stoppeligen blonden Haarschopf wohl selbst nicht so gesehen hätte ...
Das Haus der Großeltern, jetzt seit über zehn Jahren sein Eigentum, wirkt von außen nicht gerade einladend. Blinde Fenster, die von Unkraut überwucherte Eingangstreppe und modrige Dachsparren berichten von Jahren der Vernachlässigung.
Aber wozu soll er sich mit Äußerem aufhalten? Drinnen ist alles halbwegs in Ordnung. Klaus braucht für seine kurzen Besuche kein Zimmer im Ort, bewohnt sein früheres Domizil mit dem schweren Eichenbett und den Karogardinen.
Klaus will Zeit für sich haben, hier und da ein wenig am Haus werkeln, ungestört seinen Erinnerungen nachhängen.
Gesellschaft braucht er nicht, nicht jetzt.
Vielleicht heute Abend.
Ein kurzer Abstecher in die Dorfkneipe.
Eine Runde Karten spielen.
Danach konnte er noch in die Stadt, Kino wäre vielleicht nicht schlecht.
Sinnierend geht er zum Haus, streift flüchtig über den leicht bemoosten Handlauf der Treppe. Die Haustür ist verquollen.
Um sie aufzubekommen, muss er tricksen, zieht die Klinke erst zu sich, dann leicht nach oben.
Im Flur liegt der Sack Zement, den er gestern mitgebracht hat. Klaus schleppt ihn in den Keller. Hier ist er dabei, den Boden neu auszugießen. Sand und Kies liegen bereit, Wasserwaage und Streichbrett lehnen säuberlich an der Wand und die Schalbretter für das nächste Stück Boden sind schon angebracht. Klaus geht etappenweise vor.
Bei jedem seiner kurzen Besuche bearbeitet er zwei bis vier Quadratmeter seines künftigen Weinkellers. Ganz nach Lust und Laune.
Zufrieden betrachtet er sein bisheriges Werk. Die Hälfte des Raumes, immerhin gut dreißig Quadratmeter, ist schon fast ausgegossen. Morgen früh, vielleicht, wird die Fünfzig-Prozent-Marke geschafft sein.
In der Kneipe begrüßt man Klaus mit lautem Hallo. „Hab' deinen Flitzer schon gesehen und dir einen Platz in der Runde freigehalten!“, ruft ihm Horst, ein Nachbarsjunge aus Kindertagen, vom Stammtisch aus zu.
Die anderen Beiden, die ihm mit „Karl und Jupp“ vorgestellt werden, die kennt Klaus nicht. Zugezogene.
Jedes Jahr ein Stück mehr Fremdheit.
Jupp gibt die Blätter aus. Und mit „achtzehn!“, „zwanzig!“, „zwo!“ geht es in die erste Runde. Klaus hat Schwierigkeiten, bei der Sache zu bleiben. Es macht ihm heute einfach keinen Spaß. Irgendwann, nach einem Grand Ouvert, ist er so unruhig, dass er raus muss. „Bin müde. Gut' Nacht!“
Klaus steigt ins Auto. Neblig- kalte Feuchte hängt in den Sitzen. Er hatte doch einfach vergessen, das Verdeck zu schließen, holt dieses Versäumnis jetzt, leise vor sich hin fluchend, nach und stellt die Heizung an. Zur Trockenlegung der klammen Polster muss er nun wohl doch noch ein paar Meter fahren.
Auf der Strecke eine Tramperin.
Ihre Augen sind vom Fernlicht noch geblendet, als er anhält.
„Wohin des Wegs?“
„Bis zur Stadt, kennen sie dort ein Hotel, das bezahlbar ist?“
„Sicher, hüpf' rein, ist kein Umweg für mich.“
Beim Einsteigen mustert er sie von der Seite. Was die diffuse Innenbeleuchtung preisgibt, gefällt ihm: Kurzes, stoppeliges Haar, aschblond. Ihr langer, schräg geschnittener Pony verdeckt fast die rechte Gesichtshälfte. Unter der Jeansmontur lässt sich ein zierlicher, aber wohlgeformter Körper erahnen.
Stupsnase mit Sommersprossen.
Annie, ganz genau wie Annie ...
„Tina“, stellt sie sich vor. „Ich dachte schon, dass ich die restlichen zwanzig Kilometer auch noch laufen muss. Hat einfach niemand angehalten. Lauter Familienkutschen mit Muttis auf dem Beifahrersitz …“ Während Tina sich anschnallt, lächelt sie ihm dankbar zu und streckt die Doc Martins genüsslich von sich. „Ich war bei einer Freundin. Dass das hier mit dem Trampen so schlecht klappt, hatte ich nicht gedacht, funktioniert auf anderen Strecken immer wie geschmiert.“
Leichtsinniges Studentenvolk!
„Wir haben Samstag, Mädel. Wie viele allein reisende Vertreter sind da wohl unterwegs, was erwartest du? Klaus, übrigens.“
Noch zehn Minuten bis zur Stadt.
Seine Scheinwerfer tasten die Strecke ab, erfassen Seitenstreifen und abgehende Waldwege.
Erste Möglichkeit … vorbei.
Zweite Möglichkeit … Mist! Gegenverkehr, wohl noch nie was von Abblenden gehört?
Jetzt! … Abbiegen!
„Was soll denn das werden?“ Aufgeregt, ungläubig, ängstlich ist sie, kratzt und beißt, versucht aus dem Wagen zu kommen.
Die Türen sind verriegelt und ihre Hektik, mit der sie am Griff zerrt, die hilft ihr nicht.
Er ist stark. Stärker als sie.
Warum schreist du? Warum schreien sie immer? Warum schreien sie immer alle?
Annie! Aufhören! Nicht schreien! Aufhören!
Sie ist still … gut.
Er nimmt die Hand von ihrem Mund.
„Komm, wir fahren nach hause. Ich bin dir doch gar nicht mehr böse. Obwohl es nicht nett von dir war. Du weißt schon …“
Das Rendezvous. Sein Allererstes. Sein Einziges. Die alte Feldscheune. Rosen, unendlich viele Rosen. In Großmutters Garten hatte es nicht die Spur einer Blüte mehr gegeben. Was er ihr alles sagen wollte ...
Schüchterne Erklärungen, anfangs gestammelt, natürlich.
Annies Blicke. Er glaubte, Aufforderung, Verständnis, ... Wärme zu sehen.
Alles fand sich wie von selbst, nicht nur die Artikulierung.
Dann, irgendwann, herabfallendes Heu und gedämpftes Kichern …
Die ganze Klasse hockte auf dem Heuboden. Wie in einer Theaterloge. Und er selber war der dumme August, wiedermal. Dieses laute, ungestüme Gelächter! Annie bedeckte sich rasch mit seinem Hemd, schien verwirrt, sagte, nein, schrie irgendetwas. Er registrierte es wie durch Watte, hörte ihr aber nicht zu, wollte nichts mehr hören. War nicht alles klar, auch ohne ihr Geschwätz?
Diese Scham, diese Enttäuschung, dieses Verlorensein! Diese Wut!
Acht Uhr, Klaus wirft seine Tasche in den Cadillac. Er muss in vier Stunden zurück sein, zurück in seinem richtigen Leben.
Der Keller hat Fortschritte gemacht. Zwei weitere Quadratmeter sind sauber verfüllt und glattgestrichen.
Dreihundert Kilometer später betritt Klaus das große weiße Gebäude, geht mit raumgreifenden, festen Schritten durch helle Flure. Sein Weg führt ihn in die psychiatrische Abteilung.
Das Zimmer ist lichtdurchflutet, tut den Augen weh.
Klaus stellt die Jalousie so, dass ein beruhigendes, angenehmes Halbdunkel entsteht.
Eine bequeme Couch lädt zum Sitzen ein.
Sitzen.
Zur Ruhe kommen.
Ausruhen.
„Sophia Schirmer“, quäkt es aus der Gegensprechanlage.
Die junge Frau kommt herein. Blass und dünn ist sie. Ihre dunklen Augen irren ruhelos und ängstlich durch den Raum.
„Guten Tag, Sophia!“ Klaus nimmt ihre Hand und hält sie mit sanftem Druck kurz fest. Sophia zögert, setzt sich aber dann auf den angebotenen Stuhl. Sie will nicht reden. Klaus kennt die Schweigerin aus den vorangegangenen Sitzungen und lässt ihr Zeit. Kann sein, dass sie ihn nicht mag, ihm deshalb der Therapieerfolg hier versagt bleiben könnte.
Schon beim letzten Termin, erinnert sich Klaus, wollte er ihr einen Kollegen empfehlen. Davon kann jetzt keine Rede mehr sein. Klaus ertappt sich, wie er immer nur auf ihre neue Frisur starrt. Kurz, fast schon stoppelig. Und blond gefärbt. Abgeschnitten der alte Zopf. Sophias neuer Anfang mit neuem Äußeren. Sie sieht jetzt aus wie Annie ...
Schweigsame Minuten vergehen, die irgendwann von seiner Stimme durchbrochen werden. „Sophia? Wir sollten für unsere Gespräche vielleicht einmal ein anderes Umfeld wählen. Vielleicht ist Ihnen der Therapieraum unangenehm? Was halten Sie von einer kleinen Ausfahrt, einfach mal so? Nein, Sie müssen nicht zusätzlich hierher kommen. Samstag, sagen wir um neun? Ich hole Sie ab.“