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In der Falle
Dienstag
Ein Mann betritt die Doppelgarage und bleibt wie angewurzelt stehen. Ein Standbild in Weiß-Grau-Beige. „Hallo? Hören Sie mich?" Seine Stimme ist fest, fast befehlend. Keine Reaktion. „Hören Sie mich?!“ Der befehlsgewohnte Ton bricht, wie der Rest des Mannes, in sich zusammen. Er kniet neben dem am Boden liegenden Mann, dunkle Haut, schwarze kurzgeschorene Haare; fühlt Puls und Atem. „Oh nein? Oh mein Gott, nein!“ Sein Blick wandert über die heftig geröteten Hände – das müssen Brandwunden sein. „Ach du Scheiße!“ Die Füße sind nackt, ein Paar noch vom Regen nasse Flipflops liegen achtlos am Boden. Der Mann tätschelt die Wange des reglos Daliegenden, fühlt erneut den Puls. „Scheiße.“ Seine Hände krampfen sich abwechselnd in seinen Nacken und das weiße Haar, als ob sie dort irgendeine Lösung greifen könnten. Aber es gibt keine.
Da sieht er das Handy des anderen aus der Hosentasche ragen. Er greift danach, versucht es freizuschalten, aber es ist natürlich gesperrt. Er drückt wie verrückt darauf herum, aber er bekommt es nicht ausgeschaltet. Seine Finger krallen sich in die Rillen, um es irgendwie zu öffnen. Da greift er einen Hammer von der Werkbank und schlägt auf das Display. Es splittert. Hämmert weiter darauf ein, bis es zischt und Funken schlägt.
Er kehrt alle Teile in einen kleinen Eimer, dann steckt er sich die Flipflops in den Gürtel und greift den reglosen Körper an den Beinen. Keuchend schleift er ihn aus der Garage hinaus. Zentimeter für Zentimeter. Kaum hat er ihn über die Türschwelle des Untergeschosses gezerrt, braucht er eine Verschnaufpause.
Er beißt sich in die Faust, die Knöchel treten weiß hervor. Dann öffnet er die Tür zum Heizungsraum und zerrt den Körper hinein. Doch als der Kopf die kleine Stufe in den Raum nach unten schlägt, entweicht dem Körper ein Stöhnen. Der Stehende hält erschrocken inne. Hat er sich das nur eingebildet? Doch da öffnen sich die Lippen – nur minimal, aber er ist sich sicher – und dann huscht ein Flattern über die Augenlider.
Er lebt!
Sofort beugt sich der Mann zu ihm nieder, streicht sanft seinen Kopf. Viel zärtlicher als zuvor: „Hallo, können Sie mich hören?"
Wieder ein Stöhnen – oder zumindest irgendein wahrnehmbarer Laut. Der Mann springt auf, die Treppe hoch, in die Küche. Ein Glas. Wasser. Zurück in den Keller.
Der andere hat die Augen noch geschlossen, aber die Lider flackern erneut und er verzieht leise den Mund zu einem nun deutlich hörbaren Seufzen. Für eine Sekunde steht der Mann wie erstarrt da. Dann knallt er das Glas auf den Trockner, spurtet, so schnell ihn die alten Knochen tragen, wieder los. „Verflucht noch eins!“ Diesmal holt er Panzertape.
An der Wand neben dem Heizkessel verläuft ein dick isoliertes Warmwasserrohr senkrecht zur Decke. Mit aller Kraft greift er den immer noch reglosen Körper unter den Achseln, zieht ihn, den Schmerz in den Lendenwirbeln ignorierend, hoch und hievt ihn gegen das Rohr. Er verschränkt die Arme des anderen dahinter und umwickelt sie mit Panzertape. Aber nur mit Gewalt und beiden Händen bekommt man die Rolle durch den Spalt zwischen isoliertem Rohr und Wand hindurchgequetscht. Doch sobald er den Körper nicht mehr festhält, rutscht dieser zur Seite und wäre um ein Haar einfach seitlich weggekippt. Nur unter Aufbringung aller verbleibenden Kräfte kann er verhindern, dass sich der Bewusstlose auch noch den schräg hängenden Schädel am Boden aufschlägt. Der Gefesselte stöhnt nun erneut auf. Diesmal lauter.
Den Plan, den gesamten Oberkörper mit dem Panzertape ans Rohr zu binden, muss er als gescheitert betrachten. Zwar sind immerhin die Arme ein halbes Dutzend Mal umwickelt. Doch das Tape hat sich dabei mehrfach heillos verdreht und klebt vor allem an sich selbst. Zwischen Körper und Rohr ist an allen Stellen außer im Schulterbereich, wo er direkt ans Rohr anlehnt, viel zu viel Luft zum Rohr. Doch was ihn am meisten besorgt: Der andere wacht auf.
Seine Augen öffnen sich langsam, verwirrt, unstet, bis sich sein Blick an dem seines Gegenübers festhält. Die Augen des Äteren weichen aus. Schnell greift er das Glas: „Trinken Sie das.“ Er führt ihm das Glas zum Mund. Der Angesprochene trinkt.
Doch dann versucht er, seine Arme zu bewegen. Reißt am Rohr. Schreit – irgendetwas zwischen Verwunderung, Angst und Wut. Starrt ihn erneut an. Versteht. Seine Stimme schwillt an zu einem Schwall fremdländischer Wörter, die ihm entgegenschwappen. Schiebt sich am Rohr hoch, brüllend wie ein Stier. Er kann ihm bis in den Rachen blicken. Er tobt und reißt wie von der Tarantel gestochen. Es ist beängstigend. Der Mann will ihn beruhigen, aber weiß nicht wie. Schafft es ja nicht mal, sich selbst zu beruhigen. Weicht zurück. Flieht. Aus dem fensterlosen Loch, die Treppe hoch ins sommerliche Abendlicht, das über den Parkettboden streicht.
Die Dunkelheit legt sich wie ein Schleier über die Weinberge. Der Himmel färbt sich langsam von einem warmen Orange zu bleiernem Grau. Als es endgültig dunkel geworden ist, erhebt sich eine Gestalt aus dem Ohrensessel, die zuvor reglos mit ihm verschmolzen schien. Leise gleitet sie die Treppe hinunter, bleibt vor der Tür zum Heizungskeller stehen. Lauscht in die Stille – doch nur das Surren der Leuchtstoffröhre im Gang ist zu hören. Langsam öffnet er die Tür. Der Gefangene drinnen wirkt erst, als wäre er eingenickt, schreckt dann aber hoch. Der Mann tritt mit erhobenen Armen ein. Versucht es mit einem Lächeln und sanftem Tonfall: „Ich tue dir nichts. Ich will dir nichts tun, ja. Es tut mir alles furchtbar leid. I’m sorry.“ Skeptische Blicke als einzige Antwort. Seine Schultern spannen sich, wie bei einer Raubkatze: „Verstehst du mich? Do you speak English?“
Kopfschütteln.
Dann: „Water.“
Er füllt das Glas am Wasseranschluss in der Garage, wagt sich dieses Mal einen Schritt näher und reicht ihm das Glas.
Der Gefangene trinkt es gierig leer. Dann murmelt er etwas. Die Worte leise, unverständlich, aber die Melodie der Sprache bleibt in seinen Ohren hängen – eine Bitte. Er versteht nichts, aber er fühlt die Bedeutung. Für einen Moment stellte er sich vor, wie er selbst gefesselt und verzweifelt in einem fremden Land kauert, der Sprache des Landes nicht mächtig. Der Gedanke ist unerträglich.
Schließlich versteht er doch etwas: „My hands.“
„Hör zu. Das lief alles vollkommen schief. Ich hab das so nicht gewollt – das war alles ein Fehler von mir. Ein riesen Fehler – verstehst du? … Vielleicht der größte Fehler meines Lebens – aber jetzt, wir müssen da irgendwie wieder rauskommen. Ich bin schuld, aber wir können das nur für uns beide halbwegs gut lösen, wenn wir einander vertrauen, ja? Ich weiß, das klingt jetzt schwierig – verrückt in deiner Lage, ich kann das verstehen - aber wenn du willst, dass ich dich losbinde – und das willst du ja. Also, dann brauche ich ein paar Garantien.“
„My hands. My hands.“
„Tut mir leid. Deine Hände tun dir weh. Ich verstehe.“ Er rückt seine Brille zurecht und beugt sich etwas vor. „Ich… ich hab bestimmt etwas da. Zinksalbe oder Ringelblumensalbe vielleicht. Die hilft bei allem. Lass mich helfen, ja?“
Doch der Gefangene reagiert nicht auf das Gesäusel. Stattdessen wiederholt er immer lauter: „My hands! My hands!“
„Soll ich mal danach sehen?“ Er greift nach den zerschundenen Händen, der andere zuckt zusammen, dann schießt der Kopf des Gefangenen an seinen Hals. Er fällt um, robbt weg. Hat der andere gerade versucht, ihn zu beißen? Der Hund hat versucht, ihn zu beißen! Wie ein Tier!
Der Gefangene schreit ihn an – beschimpft ihn. So klingt es zumindest. Warum können die auch nie Deutsch? Nicht mal Englisch! Warum lässt man so jemand überhaupt ins Land?
Der Gefangene redet sich in Rage.
Das hat doch alles keinen Sinn. Verdammt! Er hat es wenigstens versucht. Er rappelt sich auf und verlässt den Raum. Beim Hinausgehen löscht er das Licht. Es ist spät, der andere soll schlafen. Der Raum wird jetzt nur noch von der schwachen LED-Anzeige der Heizung beleuchtet. Doch sobald die Dunkelheit den Raum einnimmt, beginnt der Gefesselte zu schreien. Schreit wie ein Irrer. Kämpft sich auf die Beine – so viel kann er beim Verlassen des Raumes noch sehen, dann schlägt der Hausbesitzer die Tür zu, begibt sich wieder nach oben. Als er gerade den ersten Fuß auf die Treppe setzt, kracht und scheppert es ohrenbetäubend. Wie zur Salzsäule erstarrt bleibt er stehen, die Augen panisch aufgerissen, steht er da und starrt zur Tür des Heizungsraums. Sein Herz schlägt bis zum Hals, bis an die Schädeldecke. Hat er das Rohr herausgerissen!? Hat er sich befreit? Was wird er nun tun? Wird er fliehen oder ihn angreifen? Wird er ihn töten? Ihn anfallen mit gefletschten Zähnen?
Aber es passiert nichts. Nach einer Minute oder zehn, er weiß es nicht, wagt er sich zurück zur Tür des Heizungsraums. Lauscht, dann reißt er sie auf und starrt hinein.
Das Licht aus dem Flur erhellt die Szene nur schwach. Der andere sitzt gekrümmt am Boden – genau da, wo er sein soll. Ein Stein fällt ihm vom Herzen. Doch rund um ihn herum hat sich einiges verändert. Schräg neben dem Rohr auf knapp 1,90m Höhe war ein Regalbrett installiert – mit Federballschlägern, Boulekugeln, einer Dose Tennisbälle, einem vollkommen ausgebleichten Planschbecken aus alten Zeiten, Anzuchttöpfen aus Plastik in allen Größen, einem platten Volleyball und mehreren Winterschuhen. Wie hat er es nur geschafft, das Brett herunterzureißen – groß ist er ja nicht eben und nur nach oben springen hätte nichts gebracht, er musste den Kopf herumgeworfen haben wie ein Irrer. Der andere blutet nicht, hat sich aber augenscheinlich ganz schön wehgetan.
Schnell schaltet der Mann das Licht an, legt zuerst das Regalbrett wieder an die alte Stelle – nur diesmal 3 cm weiter weg vom Heizungsrohr – und sammelt dann all die Töpfe, Bälle und andere Utensilien eilig wieder zusammen.
Eine der 6 Boulekugeln in der Aufbewahrungsbox kann er auf die Schnelle nicht finden. Vielleicht war sie irgendwo hinter die Heizung, den Trockner oder unter das Regal mit den Malerutensilien gerollt. Aber er hat keinerlei Lust, vor dem anderen auf dem Boden herumzukriechen wie ein Wurm. Außerdem tut sein unterer Rücken jetzt schon höllisch weh. Heute Abend muss er unbedingt CBD nehmen, sonst würde er weder schlafen können noch morgen aus dem Bett kommen.
Ein noch größeres Problem aber ist das Panzertape – ein Teufelszeug – für ihn derzeit ganz oben auf der Liste der beeindruckendsten Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Aber der andere ist jung und stark. Ewig wird es nicht halten. Wenn der Kerl sich erst wieder erholt hat und so weitertobt, ist es nur eine Frage der Zeit. Ihn besser zu fesseln, traut er sich nach der Bissattacke nicht.
Da kommt ihm eine Idee. Er geht hoch, durchwühlt den Arzneischrank – Gott sei Dank hat Christa ihre Schlaftabletten nicht mit nach Bayreuth genommen. Himmel, an Christa darf er gar nicht denken. Übermorgen kommt sie zurück. Bis dorthin muss er das Problem gelöst haben.
Er drückt zwei Schlaftabletten aus der Packung; nimmt ein Glas. Der andere darf es nicht schmecken. Er füllt das Glas mit Cola. Gott mit Cola. Ist er eigentlich total bescheuert? Wie kommt er denn gerade auf Cola? Wer nimmt denn Schlaftabletten mit Cola ein? Und wenn es etwas gibt, bei dem so gut wie jeder auf der ganzen Welt den Geschmack genau kennt, dann ist das ja wohl Coca-Cola. Er leert das Glas in die Spüle, sucht etwas in der Vorratskammer herum und kommt mit einer Flasche roter Multi von Hohes C heraus. Schmeißt die beiden Tabletten in einen Mörser, presst noch eine dritte aus der Packung. Hält inne. Lässt die Packung langsam sinken. Er zerstößt und mörstert die Tabletten akribisch, gibt sie in den Saft und rührt um – sehr lange. Dabei wandert sein Blick immer wieder zu der angebrochenen Tablettenpackung. Er schleudert den Löffel in die Spüle, stopft die Packung in den Arzneischrank, nimmt das Glas und schreitet aus der Küche.
Im Keller angekommen, versucht der andere zwar, ihn mit seinem misstrauischen Blick zu durchbohren, aber er trinkt es problemlos leer. Muss echt durstig sein. Er überlegt, eine offene PET-Wasserflasche neben ihn zu stellen, aber er weiß auch nicht, was das dem anderen nützen soll. Vermutlich wäre es mehr ein Akt der Grausamkeit als des guten Willens. Also lässt er es bleiben.
Dafür lässt er das Licht an, als er geht. „Good night.“ „Good night.“ Er ist verwirrt. Eigentlich war es ihm lieber, als der andere nicht mit ihm kommuniziert hat. Er geht schlafen, doch das CBD hilft in dieser Nacht nicht. Er überlegt, Christas Schlaftabletten zu nehmen. Doch nicht, dass er die noch braucht… für was? Was will er damit tun? Er muss ihn gehen lassen. Alles andere … was wäre die Alternative? Er weigert sich, darüber nachzudenken, und doch werden all seine Gedanken ständig von dieser Frage angezogen, wie von einem schwarzen Loch im Zentrum seines Hirns.
Mittwoch
Als die Sonnenstrahlen unaufhaltsam unter Tür- und Rollladenspalt hindurch ins Schlafzimmer kriechen, richtet er sich mühsam auf. Seine Lendenwirbel machen die Belastung oder den Stress oder was auch immer nicht mit. Wie ein alter Mann quält er sich die Treppe hinunter – verdammt, er ist ein alter Mann. In der Küche angekommen, leert er ein Glas Leitungswasser, wirft eine Ibu 800 ein und spült sie mit einem weiteren Glas hinunter. Anschließend richtet er ein Tablett mit Tellern, einem Glas Saft, einer PET-Flasche mit Wasser, 6 Scheiben Toast, Käse, Wurst, Butter und selbstgemachter Marmelade.
Auch der andere ist schon wach. „Guten Morgen“, begrüßt er ihn. Der andere lächelt schwach, seine Augen verfolgen das Tablett durch die Luft. Seine Zungenspitze huscht einmal über die verklebten Lippen. Er reicht ihm den Saft, aber der andere hält die Lippen verschlossen und nickt ihm zu. Helmut hält inne, dann trinkt er einen Schluck aus dem Glas. Der andere nickt und trinkt ebenfalls. So machen sie es mit allem, dem Wasser, dem Marmeladentoast. Die allermeiste Zeit sitzen sie schweigend zusammen – mindestens eine Stunde geht das, vielleicht zwei. Er hat das Zeitgefühl verloren – zu sehr damit beschäftigt nachzudenken und in sich hineinzufühlen. Die Absurdität dieser Situation könnte ihn fast zum Lachen bringen, wäre es nicht so todernst. Jemand anderen zu füttern ist erstaunlich intim. Es fühlt sich fast so an, als würde er ein krankes Familienmitglied pflegen.
Als er aufsteht und gehen will, beginnt der andere zu flehen. „No, don’t go! Please, help. Let go. Please let go. Please“. Er muss weg. Schnell steigt er die Stufe hoch zurück in die Wohnung. Erschöpft lehnt er sich gegen den Kühlschrank. Er wird dazu stehen müssen, was er getan hat. Das wird schmerzhaft und peinlich und Christa wird ihn hassen, aber es ist die einzige Möglichkeit. Geschirr und das Wenige, was vom Frühstück übrig ist, verräumt er. Dann nimmt er die Schere. Doch in der Tür bleibt er stehen, zögert. Dreht sich um, nimmt das lange Küchenmesser. Wenn der andere ihn tatsächlich angreifen sollte, sobald er ihn befreit hat, wird er es sich so zweimal überlegen. Er kommt ins Nachdenken. Wird er das? Oder wird er sich durch das Messer erst recht provoziert fühlen? Ein Symbol des Misstrauens, der Machtverhältnisse. Aber diese Machtverhältnisse werden nicht mehr gelten. Man braucht sich nichts vormachen, er hat die Kraft dieses jungen Kerls gesehen. Messer hin oder her, er wäre mit seinen eingerosteten Reflexen viel zu langsam, zu schwach, zu alt. Wenn er kein Messer mitnimmt, kann ihm der andere auch keines entreißen, wenn es hart auf hart kommt. Aber wäre es ist nicht naiv jetzt alle Trümpfe aus der Hand zu geben und gänzlich unterlegen in die Situation zu gehen?
Er entscheidet sich zögerlich für das Messer und steigt die Treppe hinab, wird aber immer unsicherer, je weiter er sich der Tür unten nähert. Es ist das einzig Richtige, versucht er sich einzureden. Sei ein Mann und steh dazu. Zwei Meter vor der Tür bleibt er wie angewurzelt stehen. Die Erkenntnis trifft ihn wie ein Schlag. Die sechste Boule-Kugel. Er greift sich mit der freien Hand an Mund und Hals. Der Gefangene war heute so anders. Hat er gewusst, dass er ihn ruhiggestellt hat? Er muss es bemerkt haben und schien es ihm vollkommen zu verzeihen. Er schien alles verzeihen zu können. Aber er hatte auch das Tier in ihm gesehen. Die Wut und Verzweiflung. Wo war die 6. Kugel? War sie wirklich unter das Regal oder hinter die Heizung gerollt? War das Spiel überhaupt vollständig? Er hatte bestimmt zehn Jahre nicht mehr gespielt, Christa sowieso nicht. Aber nein – das wäre ihm doch aufgefallen, wenn da zehn Jahre lang eine Kugel gefehlt hätte? Oder? Was, wenn …?
Er öffnet langsam die Tür. Ihre Blicke treffen sich. Helmut hebt das Messer, bemüht, es nicht bedrohlich wirken zu lassen, während der andere schwach lächelt – oder es zumindest versucht. Hoffnung und Angst vermischen sich im Gesicht des am Boden Kauernden. Doch Helmut ignoriert ihn, geht zügig an ihm vorbei, und läuft ins Eck unter das wieder angebrachte Regalbrett. Dort liegt nichts. Wie beiläufig versucht er beim Umdrehen mit seinem Blick die Hände des Gefangenen zu streifen. Der andere dreht sich derweil ebenfalls wie zufällig zu ihm hin und lehnt sich so nach vorn, dass er seine Hände und was auch immer sich hinter seinem Rücken befindet, nicht sehen kann. Er versucht erneut einen Blick auf seine Hände zu erhaschen, diesmal unverhohlener. Ihre Blicke treffen sich. Und beide wissen, dass der andere es weiß. Die Maske des Gefangenen bröckelt: Sein hoffnungsvoller Blick verzieht sich zu einer Fratze aus Wut und Enttäuschung. Vermutlich spiegeln seine Gesichtszüge dasselbe wider. Wie hatte er nur so dumm-naiv sein können? Fast hätte es ihn das Leben gekostet.
Was jetzt? Christa kommt in ein paar Stunden nach Hause.
Sein Blick wandert kurz zu dem Messer in seiner Hand. Aber selbst wenn er wollte – er kann es nicht. Es muss eine andere Lösung geben. Er legt das Messer ins Regal, reißt etwas Panzertape ab und tritt entschlossen auf den anderen zu.
Als der versteht, was Helmut vorhat, reißt er den Mund auf, brüllt, windet sich und versucht, nach seinen Händen zu beißen. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Er schafft es, ihm den Mund zu verkleben, bevor ihn ein Tritt einmal quer durch den Raum befördert. Er stolpert und knallt rücklings gegen die Stahltür. Ein Stechen brennt von seinen Lendenwirbeln bis in die Unterschenkel hinunter und sein Blick verschwimmt kurz. Ihm dröhnt der Schädel, aber langsam schafft er es, sich aufzuraffen, während der andere wie ein wildgewordener Stier am Rohr reißt und ihn anbrüllt; beziehungsweise versucht, ihn anzubrüllen. Das Panzertape, einmal quer durchs Gesicht geklebt, scheint zu halten. Er tritt er den Rückzug an und schleppt sich die Treppe hoch. Er wird noch eine Ibu brauchen.
Er ist gerade auf der Suche nach dem nichtexistierenden Schlüssel zum Heizungsraum – Sie leben seit 40 Jahren hier und noch nie hatte ein Schlüssel in dieser Tür gesteckt, aber theoretisch müsste es ihn doch geben! Da hört er den Kies in der Einfahrt knirschen.
Sein Herz setzt mindestens 2 Schläge aus, bevor es versucht, den Aussetzer im Stakkato wieder aufzuholen. Er presst die Hand gegen die Brust. Sie wollte doch frühestens in zwei Stunden hier sein!? Doch er hört es ganz genau:
Die Abrollgeräusche der Reifen in der Einfahrt zerschneidet die Mittagshitze wie zerspringendes Glas.
Christa hat bereits ihren Koffer aus dem Wagen geladen. Er eilt herbei, um sie mit einem Küsschen zu begrüßen und ihr mit dem schweren Koffer zu helfen.
„Christa! Schön, dass du wieder da bist“, lügt er. „Wie war’s in Bayreuth?“
„Herrlich.“ Beide winken dem wegfahrenden Wagen mit Christas Freundin am Steuer hinterher. „Und wie ist es meinem armen Göttergatten fünf Tage ohne mich ergangen? Steht die Küche noch?“
„Ach ja“, versucht er es mit einem lächelnden Achselzucken. „Komm rein.“
„Alles in Ordnung mit dir?“ Eine Sorgenfalte legt sich auf Christas Stirn, als sie sein Gesicht näher betrachtet. „Du siehst ein wenig angeschlagen aus.“
Wie schnell sie ihm das angemerkt hat. Woran eigentlich?
„Hach ja, der Rücken ist wieder schlimm, ich muss dringend bei Christian einen neuen Termin ausmachen.“
„Och Helmut, du Armer. Du solltest besser auf dich aufpassen.“
Dennoch zieht selbstverständlich er den Koffer die Stufen hoch und sie gehen ins Haus.
Donnerstag
Klonk.
Helmut ist sofort hellwach. Vor einer halben Stunde erst, nachdem er zum dritten Mal in dieser schlaflosen Nacht auf dem Klo war, hat er die Fenster und Rollläden geschlossen. Da begann gerade der Morgen zu grauen und nun zwitscherten die Lerchen.
Klonk.
Scheiße. Er hatte Christa den ganzen Tag so gut es ging vom Haus ferngehalten. Nachdem sie sich etwas erholt hatte, waren sie im Golfclub gewesen, hatten den Wocheneinkauf erledigt, waren zusammen essen …
Klonk.
Christas Kopf fährt hoch. „Was ist das, Schatz?“, murmelt sie schlaftrunken.
„Scheint irgendwas mit der Heizung zu sein. Bleib liegen, ich kümmere mich.“
„Aber die Heizung ist doch aus“, hört er sie gerade noch murmeln, als er aus dem Schlafzimmer schlüpft.
Klonk, Klonk, Klonk, Klonk, Klonk.
Er hastet so schnell es geht mit gekrümmtem Rücken die Treppe hinunter. Auf dem Weg durch den Keller greift er sich den größten Schraubenschlüssel, den er finden kann, und reißt die Tür zum Heizungsraum auf.
Der andere ist aufgestanden und tritt, was das Zeug hält, mit einem Bein nach hinten gegen das Heizungsrohr.
„Lass das!“, faucht Helmut. „Stop it!“
Der andere hält inne, hebt den Kopf und schaut ihm direkt in die Augen. Es ist kein Blick der Angst mehr – der Mut der Verzweiflung. Dann tritt er wieder zu, mit aller Kraft.
Klonk! Klonk!
„Gott, er muss sofort aufhören!“ Helmut schlägt ihm mit dem Schraubenschlüssel ins Gesicht. Kein sonderlich heftiger Schlag, eher der Hilflosigkeit als dem Zorn entsprungen. Es soll eine Warnung sein. Tatsächlich hält der andere inne, dann nickt er dem leeren Glas zu, das noch im Regal steht.
„Okay, okay", versucht ihn Helmut zu beschwichtigen. Im Nebenraum steht ein Kasten Mineralwasser. Er will sich gerade nach der Flasche bücken, da ertönt ein neues Klonk und Helmut zuckt so zusammen. Ein Stechen jagt durch den ganzen Rücken. Er greift die Flasche und schleppt sich gebückt zurück.
„Stop it, please.“ Der andere hält inne und schaut ihm erwartungsvoll zu, wie er das Glas füllt.
Helmut löst das Tape am Mund, aber nur so weit, dass es an der rechten Wange noch klebt und er es schnell wieder zukleben kann. Der andere trinkt gierig das Glas leer. Noch während er schluckt, will Helmut direkt wieder das Band vor seinen Mund kleben, doch der andere reißt den Kopf zur Seite. Helmut geht ihm nach und bekommt direkt dessen Stirn auf die Nase geschmettert.
Während Helmut noch zurücktaumelt und sich den schmerzenden Nasenrücken hält, brüllt der andere schon los: „Help! Heeeelp!“ Er schreit sich die Seele aus dem Leib, aber es ist nicht so laut wie befürchtet. Die zur Untätigkeit gezwungene Stimme gleicht noch mehr ein Krächzen.
Helmut hechtet erneut vor. Es kommt zum Gerangel. Der andere schreit, beißt ihn in die Hand. Helmut presst die Lippen zusammen, zieht die Hand weg und schafft es tatsächlich mit links, dessen Mund halbwegs zu verschließen. Der andere schreit weiter, nicht weniger laut, obwohl der Mund halb zugeklebt ist, aber das Band ist nicht unter Spannung. Sofort holt Helmut neues und schafft es diesmal recht gründlich, den Mund zu verschließen.
„Helmut?“, hört er jetzt Christa ängstlich rufen.
"Alles gut, ich komme gleich", ruft er zurück.
Der andere tritt nun wieder wie blöd gegen das Rohr, atmet schwer durch die Nase.
„Helmut?“ Auch Christas Rufe werden lauter und panischer. „Was ist da los?“
„Ich komme schon“, ruft er und versucht dabei locker zu klingen. „Alles gut.“
Er eilt die Treppe hoch. Sie hat schon die erste Stufe hinab in den Keller genommen und weicht nun zurück, als er ihr so schnell er kann entgegenstürmt.
„Oh Gott, Helmut? Was ist passiert? Wer ist da?“
„Alles gut. Die Heizung. Niemand ist da.“
„Aber ich hab doch jemand gehört? Gott, was ist denn mit deiner Hand?“
„Was?“
„Du blutest ja!“
„Ach, das ist nur ein Kratzer.“
„Aber warum Helmut?“, kreischt sie ihn nun an, „Was passiert hier? Wer ist im Keller?“
Da bricht Helmut in sich zusammen und ein ergreifendes Schluchzen entfährt ihm, wie ein Kind. Christa nimmt ihn in die Arme, schaut ihn entgeistert an. Er lässt es zwei lange Sekunden geschehen, dann schiebt er sie weg. Wischt sich eine Träne vom Gesicht, greift sich hektisch an Mund und Nase.
„Christa, es tut mir leid. Ich habe Mist gebaut. Du musst …“
„Wer ist im Keller?“
„Du musst mir zuhören, Christa. Hör zu!“ Er packt sie fest an beiden Armen und sieht ihr in die Augen.
„Im Keller ist ein Einbrecher“
Christas Augen weiten sich vor Entsetzen.
„Nein, keine Sorge. Er ist gefesselt. Im Heizungsraum.“
„Aber …“
„Hör mir zu!“
„Wir müssen die Polizei rufen – warum hast du nicht schon längst ...!“
„Hör mir doch einfach mal zu, Gott verdammt!“, schreit er sie jetzt an und schüttelt sie.
„Ich wollte ja die Polizei rufen!“, stöhnt er verzweifelt. Unbeherrscht: „Natürlich wollte ich das!
Man sieht auch auf der Kamera, wie er zum Haus rennt, ich hab das überprüft."
„Ja, aber … warum hast du es dann nicht getan?“, versucht sie es nun behutsamer, aber nach wie vor verständnislos.
Das ist die Frage, vor der er sich gefürchtet hat. Auf der er ihr keine Antwort geben will. Doch ihm fällt auch keine glaubhafte Lüge ein und früher oder später würde sie dahinterkommen. Lügen würde alles nur schlimmer machen. Aber Gott, konnte es überhaupt noch schlimmer werden?
„Helmut, … rede mit mir! Warum hast du nicht einfach die Polizei gerufen!“, ihre Stimme ein eindringliches Flüstern, der Panik nahe.
„Also …“, er muss sich räuspern, „wir haben ja beide damit gerechnet, dass früher oder später etwas passieren wird, als die Stadt das Dreher-Areal gegenüber in eine Flüchtlingsunterkunft umgewandelt hat. Und wir haben beide gesagt, dass wir was dagegen tun müssen. Also habe ich Vorbereitungen zu unserem Schutz getroffen.
„Die Überwachungskameras?“
„Genau. Die auch.“
Sie blickt ihn weiter vollkommen verunsichert an.
„Genau, also ich hab den Jaguar ans Stromnetz angeschlossen. Also die Karosserie. So als Diebstahlschutz.“
„Du hast was!?“
"Du siehst ja, dass es nötig war.“
„Und wenn ich …"
„Das hab ich natürlich erst gemacht, nachdem du weggefahren warst. Niemand Unschuldiges konnte verletzt werden.“
Ihr Blick verriet, dass sie ihn mit solch halbgaren Beschwichtigungen nicht davonkommen lassen würde. Natürlich nicht.
„Aber ich verstehe nicht… Die Alarmanlage? Wir zahlen doch jeden Monat Geld für diese Direktschaltung?“
„Ich… hab wohl vergessen, das Garagentor zuzumachen.“
„Du hast … Moment. Ich fasse es nicht. Jetzt ergibt alles Sinn. Ich fasse es nicht! Du ‚hast Vorbereitungen‘ getroffen. Installierst die Kamera außen und genau in der Zeit, in der ich nicht da bin, lässt du das Garagentor offen und setzt den Jaguar unter Strom?! Spinnst du eigentlich komplett!?“
„Christa ...“
„Das hast du doch geplant! Du lockst jemanden zu uns in die Garage und jetzt sitzt der seit vorgestern gefesselt in unserem Keller? Ich habe hier geschlafen!“
Seine Stimme kaschiert seine Verzweiflung nicht länger: „Das war doch der einzige Weg, das noch irgendwie aufzuhalten. Dass da gleich am Anfang was passiert. Wenn die mal zwei Jahre hier wohnen, bekommt man die doch nie mehr weg!“
„Aber du kannst doch nicht jemand einsperren! Du rufst jetzt sofort die Polizei oder ich mach’s. Oh Gott, wie hochnotpeinlich. Ich fasse es nicht.“
„Ich kann jetzt nicht mehr so einfach die Polizei rufen – die sperren mich ein!“
„Ist das mein Problem?!“, sie läuft jetzt in der Diele auf und ab. Murmelt: „Ja verdammt."
„Wie gut spricht der Deutsch?“
„Gar nicht.“
„Wem glauben die dann eher? Uns oder so einem? Du sagst einfach, der wäre heute Nacht hier eingebrochen!“
„Der wird doch wahrscheinlich schon längst vermisst, und die Fesselmale, d…
„Ist er verletzt?“
„Na ja. er hat vielleicht ein, zwei Beulen – aber die Brandwunden…“
„Was denn für Brandwunden?“, ihr Blick zeigt jetzt noch mehr Verachtung als bisher.
„Ich wollte das doch alles gar nicht! Ich wollte ihm nur den Schreck seines Lebens einjagen und ihm eine Lektion erteilen. Mit den Aufnahmen, wie er bei uns über die Einfahrt zum Haus läuft, hätte ich dann der Polizei etwas vorzeigen können und wir hätten unseren Skandal gehabt. Damit hätten wir ordentlich Rummel machen können.
Aber dann hat der Kerl einfach bei Regen seine Flipflops ausgezogen!“
„Und? Die Patschen ja auch so beim Rennen oder vielleicht einfach, weil er ohne schneller ist?“
„Mag ja sein, aber sonst hätte ihm der Stromschlag ja nicht viel gemacht?“
„Das sind 230 Volt! Daran kann man sterben!“
„Ach Quatsch. Du hast doch keine Ahnung von Strom! Ein kleines Kind vielleicht oder wenn man in der Wanne liegt. Ich hab auch schon mal 230 Volt abbekommen. Das rummst einmal, man bekommt einen gewaltigen Schreck und das wars. Der Senior vom Elektro Gruber hat einfach einmal mit dem Finger schnell drübergewischt, wenn er wissen wollte, ob Strom auf der Leitung ist. Der hat bestimmt schon 100 Schläge abbekommen und lebt immer noch. Aber ausgerechnet ich muss so ein Pech haben! Wer konnte denn ahnen, dass jemand mit nassen Händen und Füßen und auch noch barfuß die Karosserie anfasst?! Allein die Gummisohlen hätten schon so viel wegisoliert. Ich mein, damit kann doch kein Mensch rechnen – das ist sowas von Un…“
„Du bist komplett krank. Dein Selbstmitleid kannst du behalten, das steht dir nicht.“
„Aber was soll ich denn jetzt machen?“
„Das ist mir vollkommen egal, aber ich will mit der Sache nichts zu tun haben. Du hast es zu verantworten, du schaffst es aus der Welt.“
„Aber wie denn?“ Seine Stimme brach fast, als er die Frage stellte, da er wusste, dass eine Antwort schrecklicher war als die andere.
„Ich weiß nicht, wie!“, schrie sie zurück. „Aber eins weiß ich: Wenn das hier rauskommt, sind wir fertig. Komplett!“
Helmut schwieg – soviel hatte er in den Jahrzehnten seiner Ehe gelernt.
„Oh mein Gott. Die werden uns zerfetzen. Uns beide. Nicht nur hier in der Stadt – das werden die Medien ausschlachten. Das kommt bundesweit in den Nachrichten. Im Internet werden sie uns erst recht steinigen. Wir müssen hier wegziehen. Gott, mit uns wird niemand mehr auch nur gesehen werden wollen.“ Ihr versagt die Stimme und sie bricht in Tränen aus.
„Aber nein, Schatz.“, versucht er sie zu trösten, aber sie schiebt ihn weg.
„Doch genau so wird es kommen. Genauso. Das wird nicht nur irgendwie peinlich – das wird unser gesellschaftlicher Untergang. Gott, vermutlich werfen sie uns sogar aus dem Club. Und selbst wenn nicht, könnte ich mich da ohnehin nie mehr…“
Helmut versucht, sie zu beruhigen. „Ich kümmere mich darum, Christa. Ich schwöre es.“
„Du musst“, schluchzt sie. „Ich verkrafte das sonst nicht.
Es ist mir ganz egal, wie du das machst, aber erledige es einfach.“ In ihrer Stimme liegt eine Kälte, die er bisher nicht gekannt hat. Seine Christa. Helmut nickt stumm, sein Blick bleibt auf den Boden geheftet. Die Schwere ihrer Worte lastet auf ihm wie eine eiserne Kette.
Er lässt sie stehen und geht ins Wohnzimmer. Hört sie die Treppe hochsteigen und die Schlafzimmertür schließen. Er reißt die Terrassentür auf, er braucht frische Luft. Draußen zwitschern die Vögel und die Kühle legt sich auf sein Gesicht. Dann lässt er sich in den Sessel fallen. Er muss nachdenken. Als ob er die letzten Tage irgendetwas anderes gemacht hätte. Aber jetzt hat er eine Entscheidung getroffen – oder hat Christa sie getroffen? Vollkommen egal. Für sie würde er alles tun.
Nach etwa fünf Minuten ertönt wieder permanent ein Klonk aus den Heizkörpern und kurz darauf macht ihm ein herzzerreißendes Schluchzen und Wimmern aus dem Schlafzimmer jegliches Nachdenken unmöglich. Er würde gerne hochgehen und sie in den Arm nehmen, doch das würde sie nicht zulassen. Er weiß einfach nicht weiter, also bleibt er hier sitzen und sieht dem Himmel zu, wie er sich blau färbt, ohne dabei irgendein Gefühl für dieses sanfte Schauspiel zu entwickeln. Ihn beginnt zu frösteln, aber er schafft es nicht aufzustehen oder sich überhaupt irgendwie zu bewegen. Ist vollkommen paralysiert.
Da hört er auf einmal leise Schritte auf der Treppe. Er zuckt zusammen und springt auf. Es ist Christa.
„Ich will ihn sehen.“
„Ich glaube nicht…“
"Du hast mich verstanden, ich will ihn sehen. Ich will ihm in die Augen sehen, um wenigstens in Ansätzen zu verstehen, wer das ist.“
„Christa, ich …“
„Wenn du nicht mitkommst, gehe ich allein.“
Er bewegt sich nicht.
„Also gut.“
Als sie ihren Fuß auf die Kellertreppe setzt, ist er bei ihr.
Schweigend läuft er voraus. Dann öffnet er die Tür.
Ihre Augen treten über und ihre flache Hand zuckt zu ihrem offenstehenden Mund. Christa starrte auf den Jungen. Sein Gesicht war eingefallen, die Wangenknochen kantig, die Augen dunkel und tief traurig. Trotz des spärlichen Lichts, das durch die Tür fällt, bemerkt sie die Rötungen rund um das Klebeband. Der Blick leer, wie der eines Tieres in der Falle, das längst aufgegeben hatte.
„Der ist ja noch ein Kind“, flüstert sie völlig entgeistert. „Also, der ist ja wohl kaum ein Kind!“, erwidert Helmut wütend.
„Aber erwachsen wohl auch nicht. Der ist doch nicht mal achtzehn!“
"Das kannst du doch gar nicht wissen.“
„Aber du doch auch nicht!“, kreischt sie ihn jetzt an.
„So genau weiß doch niemand, wie alt die sind. Die geben einfach an, ...“
Klatsch!
Die Ohrfeige kommt ohne Vorwarnung. Ein klares, sauberes Geräusch, das zwischen ihnen in der Luft hängen bleibt. Es ist nicht die Wucht, die Helmut erschüttert, sondern dass sie von ihr kommt.
Donnertagabend
Er klappt die Blende herunter und kneift die Augen zusammen, als er auf die Schnellstraße auffährt. Die Sonne verabschiedet sich pittoresk hinter einem der Weinberge. Der Wetterbericht hat schon verkündet, dass es ein Abschied für längere Zeit sein wird. Die Wolken im Süden türmen sich bereits zu gewaltigen Bollwerken auf und man kann ihnen förmlich beim Wachsen zusehen. Eine Explosion in Zeitlupe, die unaufhaltsam auf ihn zurollt. Eigentlich rollt er auf sie zu, überlegt er, aber er fühlt sich derzeit nicht wie der Protagonist in seinem Leben. Egal was er tut, es fühlt sich so an, als ob es einfach mit ihm geschieht.
In ein paar Stunden wird er über den Brenner sein. Die Schweiz lässt er sicherheitshalber aus.
Die verzweifelte Lage des Jungen im Kofferraum hätte fast sein Mitleid geweckt. Aber er hatte keines mehr – alles war für ihn selbst und Christa aufgebraucht.
Würde sie ihm je verzeihen können? Als er losgefahren war, hatte sie ihm ermutigend zugelächelt. Aber er kannte dieses Lächeln nicht. Es wirkte, als hätte man es einer Holzpuppe mit der Klinge ins Gesicht geritzt. Wie konnte man nur so dumm sein!
Aber das jetzt. Das konnte doch funktionieren?
Kurz nach Mitternacht sollte er bereits in Italien sein, wenn alles glatt läuft. Gott, er war doch schon Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, nicht mehr kontrolliert worden. Andererseits hat er ja eben erst gelernt: Alles, was schiefgehen konnte, ging schief.
Hat er Gott erzürnt? Er hat schon lange nicht mehr an Gott gedacht – so lange keine Beerdigung anstand und er gesund war, spielte Gott keine Rolle in seinem Alltag.
Es hatte sich grausam falsch angefühlt – obwohl er keine Gewalt hatte anwenden müssen. Er hatte ihm das Glas mit rotem Saft hingehalten und der andere ihn mit solch einer Verachtung im Blick angesehen. Er hatte gezögert, aber nicht lange. Vielleicht eine Minute. Dann leerte er es in einem Zug – wie einen dargebotenen Kelch mit Gift. Diesmal waren es 5 Schlaftabletten, aber das überlebt man doch als junger Kerl, oder? Die Tochter seiner Schwester hatte mal eine halbe Schachtel geschluckt und überlebt. Was hat er auch für eine Wahl gehabt? Also er selbst. Der im Kofferraum natürlich genauso wenig.
Wenn er erst in Italien ist, würde er ihn irgendwo in einem Wald, Feld oder sonst wo aussetzen. Er könnte ihm ein paar Scheine zustecken, die er noch im Geldbeutel hat.
Der wird schon irgendwie durchkommen. Bloß nicht zu weit. Aber ohne Ausweis ließen die den doch nicht wieder über die Grenze. Oder doch? Wie kamen die denn sonst immer zu uns?
Aber würde er überhaupt zurückwollen? Italien ist doch schön. Was hielt ihn denn bei uns? Seine Familie vielleicht – aber vielleicht auch nicht. War ja auch scheißegal – solange er es nicht wieder bis nach Deutschland schaffte. Und falls doch, würde ihm dann in ein paar Wochen sicher niemand mehr Glauben schenken, hoffentlich.
Oder würden irgendwelche Sozialarbeiter die Geschichte hören und die Polizei einschalten?
Er tastet seine Jacke noch mal ab. Ja, er hat sein Handy zu Hause gelassen. Aber an den Grenzübergängen gibt es sicher Kameras. Es glaubt nicht, dass die Polizei… aber bei seinem Pech.
Als die Lichter des Grenzübergangs am schwarzen Horizont vor ihm auftauchen, schreckt Helmut aus seinen Gedanken auf. Er ist müde und zunehmend unkonzentriert. Die angeschriebene Abfahrt in einem Kilometer ist vielleicht die letzte vor der Grenze. Helmut geht vom Gas. Christa muss es nie erfahren – er würde es mit sich ausmachen müssen. Und vielleicht mit Gott? Aber so jemand war er doch nicht. Er war doch kein schlechter Mensch – eigentlich.