In der neunten Woche
In der neunten Woche
Um siebzehn Uhr siebenunddreißig wurde das Baby geboren. 3300 Gramm schwer, 51 Centimeter groß, völlig gesund, mit einem dunklen Flaum auf dem Kopf. Seine Mutter, Sarah, war vor drei Tagen siebzehn geworden.
Ich hatte mir einen dieser neuen Schwangerschaftstests gekauft, bei denen auf einem kleinen Display genau angezeigt wurde, in Wörtenr, ob ich schwanger war oder nicht. Das dort nur ein einziges Wort stand, war keine Überraschung. Meine Tage hatten nie auf sich warten lassen, und nachdem diese nach zwei Wochen noch immer nicht ihren Besuch angekündigt hatten, war ich ziemlich unruhig geworden.
Schwanger
Die Bedeutung dieses Wortes wurde mir erst sehr viel später bewusst.
"Sie sind in der 9 Woche Frau Tillmann. Falls sie abbrechen möchten, hätten sie die Gelegenheit." Wieviele schwangere Sechzehnjährige waren wohl schon in der Praxis von Herrn Fleitmann gewesen? Wieviele hatten seinen Vorschlag mit Freuden angenommen?
"Nein, nein danke. Ich möchte das Baby behalten." Sah ich Mitleid in seinen Augen? Es war mir recht gleichgültig. Ich spürte nichts, ich sah nichts, nichts von dem was jetzt, in diesen Moment in mir geschah. Es war unreal für mich, also kein Störfaktor, kein Punkt, um unruhig zu werden. Dass ich nicht abtreiben wollte, dass kam von dem Aufklärungsunterricht. Kleine Menschen, vollkommen, perfekt, die nur noch Zeit zum wachsen gebracht hätten, lagen tot in Eimern, und warteten darauf, ihr unwürdiges Grab entgegen zu nehmen. Kleine, zerschnittene Wesen, die nichts dafür konnten, enstanden zu sein, wurden ihre Existentserlaubniss verweigert, weil sie nicht in das Lebensbild der Eltern passten. Die Frage, ob Abtreibung Mord war, hatte ich früh für mich entschieden.
Der Arzt war nett, verständnissvoll, klärte mich über Vorsorgeuntersuchungen, Schwangerschaftsgymnastik und Säuglingskurse auf, an denen ich teilnehmen sollte. Ich verließ die Praxis, und klopfte wie automatisch auf meine Brusttasche der Jeansjacke, um nach einer Zigarettenpackung zu suchen. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich dem Krümel schaden würde, wenn ich mir jetzt eine ansteckte. Verantwortung für zwei. Entscheidungen für zwei.
Ich wusste nicht, was ich den ganzen Tag getan hatte. Ich hatte nachgedacht, überlegt. Das Erstaunliche, was mir geschehen war, war zu überwältigend um damit zurecht zu kommen. Ich begann zu weinen, als ich mich auf den Heimweg machte. Keine bitteren Tränen, keine des Selbstmitleids. Sie waren voller Verwirrtheit, voller Hilflosigkeit. Als ich unsere Haustür aufschluß, strömte mir der Geruch nach Abendessen in die Nase. Meine Mutter kochte jeden Abend etwas Warmes.
"Sarah?" Ihr Kopf blitze aus der Küche hervor.
"Setzt dich schonmal, alles fertig." Ich ging schweren Schrittes in unser Esszimmer, vorbereitet auf das, was ich ihnen sagen musste.
"Ich bin schwanger." Drei kleine Worte, dazu ein gedachter Punkt. Alles was ich vorbereitet hatte. Stille kehrte ein. Meine Mutter schaute mir ins Gesicht, mein Vater auf mein linkes Knie.
"Bist du dir sicher?" Ich nickte, Vom Artzbesuch und dem Test sagte ich nichts. Überflüssig. Meine Mutter runzelte die Stirn.
"Passiert ist passiert. Wir behalten das Baby." Ich nickte wieder. Tränen füllten meine Augen. Das Wir in ihrem Satz machte mich so glücklich. Ich stand ungelenk auf, und verließ das Zimmer. In dieser Nacht schlief keiner der Familie Tillmann.
Der Anfang verlief zu reibungslos, zu erfolgreich. Mir war klar, dass nicht alles so glatt laufen konnte.
"Wir können das Kind nicht behalten. Denk doch mal nach Sarah!" Mit weit aufgerissen Augen sah ich ihn an.
"Das ist keine Frage Stefan. Ich werde es behalten, ob du es willst oder nicht." Er sackte auf das Sofa zurück. Mein Stefan... Wir gingen seit fast einem Jahr miteinander, und hatten auch seit einigen Monaten miteinander Sex. Verhütet hatten wir immer mit Kondomen, da ich die Pille nicht vertrage. Er war mein "Lieblingsmensch", wie ich ihn immer nannte, nachdem ich einmal ein Lied im Radio mit gleichem Text gehört hatte. Er ist mein erster, und bis jetzt einziger Freund gewesen. Ich hatte geglaubt, ich würde ihn gut genug kennen, um mit Sicherheit sagen zu können, dass er das Kind genauso wollte wie ich. Das es ihn nicht glücklich machte, war mir selbst klar. Mich machte es das auch nicht, aber wie meine Mutter sagte "Passiert ist passiert."
"Und jetzt?" Er riss mich aus meinen Gedanken.
"Ich werde nach der Zehnten von der Schule abgehen, es ist bereits Juni. Das erste Oberstufenjahr zu beginnen wäre sinnlos. Meine Mutter räumt ihr Arbeitszimmer aus, und richtet für mich ein Kinderzimmer ein. Es gibt Förderprogramme für jugendliche Mütter, die gerne eine Weiterbildung machen möchten. Schulabschlüsse oder sowas. Ich werde mich darüber informieren. Du hast nur noch ein Jahr Ausbildung vor dir. Falls du eine Anstellung bekommst könnte wir zusammen ziehen." Er runzelte die Brauen, und rieb sich mit den Daumen über die Schläfen, als hätte er Kopfschmerzen.
"Wie lange weißt du es schon?"
"Seit drei Tagen." Er schwieg, ich schwieg.
Ein langes Schweigen. Nur unterbrochen von seinem Fuß, der unruhig auf das Laminat klopfte.
Die Zeit verging schneller, als ich gedacht hatte. Nachdem ich drei Wochen nichts von Stefan gehört hatte, stand er auf einmal vor meiner Tür. Ohne einen Gruß nahm er mich in den Arm. Er drückte nur sacht, als sei ich von jetzt an aus Zucker.
"Herrgott Sarah, ich liebe dich. Und das Baby werde ich auch lieben." Mehr war gar nicht nötig.
Als die Wehen einsetzten, war ich in der 37. Woche.
Das Kinderzimmer war in gelb gestrichen, meine Mutter hatte eine wunderschöne Wiege besorgt, mit passenden Baldachim, und eine alte Komode als Wickeltisch hergerichtet. Ein Kinderwagen wurde mir von meiner Tante geschenkt, deren kleiner Sohn ihn nicht mehr brauchte. Sozialleistungen waren beantragt, Alles war vorbereitet, Außer ich.
Aber die Geburt ging schnell voran. Meine Mutter und Stefan waren bei mir, hielten meine Hand. Mein Vater, der sich letztendlich damit angefunden hatte, und sich sogar auf den Familienzuwachs freute, tigerte auf dem Gang umher.
Nach zwei Stunden, wenigen Presswehnen, und dem Aufschrei meiner Mutter, als die Hebamme verkündete das sie den Kopf sehen konnte, wurde um siebzehn Uhr siebenunddreißig mein Baby geboren. Mir blauen Augen, einen Flaum voll dunklem Haar und einen kraftvollem Schrei betrat mein kleines Mädchen diese Welt.