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In die Wüste
„Sprich mit ihm“, hatte Heike zu Gerhard gesagt. „Sprich mit deinem Bruder.“ Dabei hob sie ihre Brauen und neigte den Kopf, so als würde sie ihren Mann über eine Brille hinweg ansehen. Doch Gerhard hatte für Beschwichtigungsversuche im Moment nichts übrig.
„Prinzipien, Verantwortung!“ Wie ein mechanischer Hammer schlug Gerhards Zeigefinger auf die Holzplatte des Küchentisches ein.
Gerhards Bruder fehlte alles, was diesem Zeigefinger wichtig war. Prinzipien und Verantwortungsbewusstsein waren hier nur der Anfang. Stattdessen grub der Träumer zwischen Zierpflanzen herum, wohl in dem Glauben, das Grünzeug segne ihn, schenke ihm allumfassende Narrenfreiheit.
Gerhard stand auf einer Ebene aus getrocknetem Schlamm. Schlamm, der aufgeplatzt war wie eine angeschlagene Eierschale.
Seit drei Tagen hockte Gerhard der Schmerz auf dem Buckel. Am Morgen des dritten Tages hatte ihm das Ziehen entlang der Wirbelsäule die Besinnung geraubt und ihn hierher verbannt, in diese Ödnis aus Kilometern rissiger Erde.
„Er ist ein guter Gartengestalter. Die Leute wollen ihn.“ Heike hatte ihre Hand auf Gerhards Brust gelegt.
Sie hatte recht, alle Pflanzenliebhaber wollten Gerhards kleinen Bruder, der vermutlich selbst eine Pflanze war. Im Besonderen die Floristinnen liefen Jens hinterher und bewunderten ihn, wie er den ganzen Tag in der Sonne stand und Photosynthese betrieb. Braun gebrannt stemmte er die drahtigen Arme in die Seiten und lächelte ihnen entgegen.
„Neunundfünfzig, verheiratet, zweimal geschieden. Sogar einen Sohn. Er schert sich um nichts, alles kommt auf den Kompost, früher oder später“, hatte Gerhard zu Heike gesagt.
„Sag ihm das“, hatte sie geantwortet und ihre Hand mit Nachdruck von seiner Brust genommen, „Du kannst ihn nicht für den Rest deines Lebens ignorieren.“
Vor zwei Wochen hatte Jens von seiner neuen Liebe erzählt. Sie arbeitete für ein Blumengeschäft im Bahnhof. Die letzte Liebe, eine Gärtnerin aus Schweden, kümmerte sich ihrerzeit um Jens' Sohn. Jens nahm sie zur Frau. Sechs Jahre später warf die Schwedin das Haar zurück, schob die Lippen vor und wurde nie wieder gesehen.
„Implantate unserer Familie“, hatte Gerhard noch gesagt. Er klopfte sich auf seine Wampe und dachte an seine Tage als Zahnarzt. „Als ich diese kühne Sprechstundenhilfe damals kennenlernte, Heike, da wusste ich, dass du echt bist. Kein Plastik, nicht einmal Titan.“ Und er hatte versucht, Heikes Hände zu nehmen, doch diese waren unter ihre Achseln entwischt.
Jetzt befand sich Gerhard dort, wo kein Pflänzchen wuchs. Die Wüstensonne brannte ihm auf die Altersglatze. Er wollte weg von hier. Aufs Geratewohl losgehen. Mit seinem linken Fuß machte er einen ersten Schritt. Der Schmerz in seinem Rücken fuhr ihm bis zu den Ohren hinauf, unter der Schuhsohle knirschte Sand. Einen zweiten Schritt. Einen Dritten.
Er hätte genauso gut auf der Stelle treten können. Der Horizont blieb, wo er war, kein Hügel, nicht einmal ein Kaktus stellte sich Gerhard in den Weg. Er schwitzte und doch war er nicht nass. Alles, auch jeder einzelne seiner Flüche, verlor sich in der Hitze.
Und dann war da ein Tisch, mitten in der Wüste. Als Gerhard den Tisch erkannte, hastete er auf ihn zu. Es war der Schreibtisch seiner Mutter. Benutzt hatte sie ihn nicht, nur Schnittblumen drauf gestellt und Sachen in den Schubladen gelagert. Es war der Schreibtisch der Mutter, des Großvaters und wer weiß von wem noch. Gerhard keuchte, mit zittrigen Händen stützte er sich auf der Schreibtischplatte ab.
„Hast du den Verstand verloren?“ Gerhard hatte seinen Bruder angeschrien. „Mutters Tisch auf den Sperrmüll?“ Das war vor etwa zwanzig Jahren.
„Nimm ihn dir, hol ihn dir zurück.“ Die Antwort kam leise, ein bitterer Zug hatte sich um Jens' Mund gelegt. „Ich, jedenfalls, will ihn nicht.“
Selten war Gerhards Ärger über Jens so groß gewesen. Heike kam der Tisch nicht ins Haus, das wusste sein Bruder doch. Am Ende des Gesprächs war Jens aus dem Raum gegangen und hatte sich im Garten versteckt.
Gerhard strich über das alte Holz. Er genoss den Duft, der ihm in die Nase stieg, sobald er das Möbelstück nur ansah, und das Bild des dunklen Flures, in dem die Schnittblumen nie lange frisch geblieben waren. Gerhard sehnte sich nach der beruhigenden Enge dieses Flures.
„Ich, jedenfalls, will ihn nicht“, hatte Jens gesagt und damit all die Blumentode gerächt, die allsonntäglich auf dem Schreibtisch begonnen hatten, um am Mittwoch hinter dem Haus zu enden.
Schließlich stand Gerhard auf und ließ das Erbstück zurück. Vor ihm lag wieder der gleich bleibende Horizont. Heike, dachte er, was bist du nur ungerecht. Mich in die Wüste zu schicken.
Wenn Heike sich rausgehalten hätte, aus den Streitigkeiten mit seinem Bruder, dann wäre alles erträglich geblieben. Gerhard wäre im Recht geblieben.
Am Morgen des ersten jener letzten drei Tage hatte Gerhard anstelle des Frühstücks einen Zettel auf dem Küchentisch gefunden. Jens anrufen stand darauf. Gerhard schob ihn beiseite und machte sich einen Kaffee.
Man sollte nicht glauben, wie abhängig Gewohnheiten machen. Heikes Frühstück fehlte ihm den ganzen Tag. Die Rückenschmerzen, die sich ankündigten, seit Gerhard beschlossen hatte, kein Wort mehr mit seinem Bruder zu wechseln, krallten sich nun in seinen Nacken und in den Lendenbereich. Die Gymnastikübungen waren wirkungslos. Abends kam Heike wie gewohnt spät von der Arbeit nach Hause. Sie fragte, ob er Jens angerufen hatte. Für den Rest des Abends verschwanden ihre Hände abermals, dieses Mal in Strickarbeiten.
Am zweiten Tag lag der gleiche Zettel auf dem Tisch. Gerhards Rücken verhärtete sich zu einem Brett.
„Du weißt nicht, was du mir antust!“, sagte Gerhard am Abend zu seiner Frau, „Mehr als dreißig Jahre dein Frühstück. Immer, jeden Morgen. Ein Frühstück, das mir sagt, dass die Welt in Ordnung ist.“
„Die Welt ist aber nicht in Ordnung.“ Heikes Nasenflügel weiteten sich. „Klopf mal an, bei deinen Prinzipien, sie werden dir wohl noch erlauben, mit deinem Bruder zu sprechen.“ Gerhard sah in ihren Augen das Spiegelbild eines Feiglings.
„Poch-poch“, sagte Heike und klopfte gegen seinen Bauch. Mit einer steilen Falte auf der Stirn drehte sich Gerhard um und ging zu Bett.
Am dritten Tag weckte ihn ein Reißen auf dem linken Schulterblatt. Es war aufgeplatzt wie eine Bratwurst. Ein nächster Riss begann mit einer Explosion im Nacken und setzte sich in vielen Verästelungen nach unten hin über den ganzen Rücken fort. Gerhard schloss die Augen. Er sah sein Rückgrat, zerfurcht, Fleisch schimmerte hervor, bis das Blut zu fließen begann. Dann wurde es Nacht um ihn.
Gerhard hatte das Bewusstsein verloren. Er wanderte durch seine Halluzination, hielt sich den Lendenwirbelbereich und verdrehte unkontrolliert die Augen, er brauchte Wasser. Und Hunger hatte er.
Ein Geräusch ließ ihn innehalten. Eine Musik. Gerhard hob den Kopf und sah, nur etwa dreihundert Meter vor ihm, ein Häuschen. Ein Saxophon blies seine luftigen Töne bis zu Gerhard heran, dazu die gelegentlichen Klänge eines Klaviers. Gerhard schöpfte Mut. Die Musik wurde mit jedem Schritt lauter, aus der flimmernden Silhouette des Häuschens wurden die festen Umrisse einer Kneipe. Die Tür stand einen Spalt offen.
Gerhard trat ein. Zwei Menschen waren dort. Die Bardame Heike, hinter dem Tresen. Jens, ein Gast, ihr gegenüber an den Tresen gelehnt. Sie sahen Gerhard an.
„Ich brauche Wasser, schnell“, sagte Gerhard zu seiner Frau, ging noch die letzten Schritte, bis er neben Jens stand.
„Hey, Bruder, schön, dass du vorbei schaust.“ Jens breitete die Arme aus.
Gerhard beachtete ihn nicht. Heike drehte das Radio leiser. Jens ließ die Arme sinken.
„Ich weiß, 'Antagonist', nicht wahr?“, sagte Jens, „Du bist der Zahn oben im Kiefer und ich malme von unten immer feste dagegen.“
Das hatte Gerhard gerne vorgetragen, wenn die Familie beisammen saß und Wein trank.
„Die Zähne, die beim Beißen aufeinander treffen, sind Antagonisten.“ Dabei hatte er Jens angesehen. Jens sah nicht zurück. Er schaute in sein Glas, dann immer derselbe Blick zu der Mutter herüber.
Die Mutter gab es nicht mehr, seit zwanzig Jahren. Aber diesen Blick, den gab es noch, und die Erinnerung an das Gesicht der Mutter, wenn sie sagte: „Gerhard, lass deinen Bruder in Ruhe essen, du weißt doch, dass er sonst Magenschmerzen bekommt.“
Früher murmelte Jens dann: „Er hat von dem Zucker genascht.“ Und die Mutter gab ihrem Jüngeren Recht. Irgendwann am Tag, wenn Jens nicht in der Nähe war, beugte sie sich zu Gerhard hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Ich weiß, dass du es nicht warst. Mach dir keine Sorgen, ich hab dich lieb.“
„Wasser, Heike, bitte, und was zu essen.“ Seinen Bruder beachtete Gerhard noch immer nicht.
„Ich glaube, ich werde heute noch einen Abstecher zum Bahnhof machen und meine Liebste überraschen“, sagte Jens und lächelte die Wand an.
„Hast du ihr dein echtes Alter verraten?“ Gerhard richtete sich jetzt soweit auf, wie es mit dem schmerzenden Rücken möglich war.
„Ja, selbstverständlich.“
„Ich weiß, dass du es nicht getan hast.“ Er sah seinen jüngeren Bruder an. „Du Lügner.“
Jens schaute nicht zurück.
Dann dieser routinierte Blick zu Heike herüber.
Wie früher zur Mutter.
Gerhard war schnell. Er packte Jens mit der einen Hand im Nacken und drückte ihm die andere unter das Kinn.
„Ich breche dir dein Orchideenköpfchen vom Stängel.“
Jens versuchte, sich aus dem Griff heraus zu ducken.
„Es ist gut, Schluss jetzt!“, rief Heike.
Gerhard ließ seinen Bruder los.
„Hier“, Heike hielt Gerhard einen gefüllten Teller entgegen.
Es roch nach getoastetem Weißbrot, nach Kaffee und hart gekochtem Ei.
Gerhard öffnete die Augen. Er lag in seinem Bett, neben ihm saß Heike. Sie hatte ihm das Frühstück gebracht.
„Streite mit ihm, wenn du willst, aber sprich mit ihm“, sagte sie und drückte Gerhard das Telefon in die Hand.