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In dieser Nacht
Sarah blickte stumm aus dem Seitenfenster. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, ihr Atem ging stoßweise.
Sie hatte Angst.
Was war das für ein beschissener Tag gewesen? Erst war sie um sechs geworden und fand nicht mehr in den Schlaf zurück. Dann hatte sie für ihre Mutter einkaufen fahren müssen, im Regen mit dem Rad.
Den restlichen Tag hatte sie vor dem Fernseher verbracht. Sie hatte durch die Programme geschaltet ohne genau hinzusehen. Er hatte nicht angerufen. Nicht um eins und auch nicht um drei. Vielleicht hatte er ihre Nummer verlegt. Oder sie hatte sie versehentlich falsch aufgeschrieben. Gegen sieben hatte sie ihre Freundinnen angerufen, aber alle waren bereits verabredet. Als sie um acht den Müll raus brachte, traf sie draußen Stefan aus dem Nachbarhaus. Sie hatte ihn nie besonders leiden können. Er war arrogant und abgehoben, fummelte die ganze Zeit nur an seinem Auto herum und besonders toll sah er auch nicht aus.
Aber als er sie heute fragte, ob sie Lust hätte, mit ihm auf eine Party zu gehen, sagte sie zu.
Alles war besser, als Samstagabend alleine Zuhause zu verbringen.
Nachdem sie sich einigermaßen gestylt hatte, verabschiedete sie sich von ihren Eltern und fuhr mit Stefan davon. Er quatschte die ganze Zeit von seinem Auto und fuhr wie ein Geisteskranker. Sie war froh, als sie heil auf der Party ankamen.
Allerdings bereute sie schnell ihre Entscheidung, als sie ihn sah. Er stand in einer Ecke mit einigen Freunden. Als er rüberschaute, verdrehte er die Augen und sagte irgendwas zu seinen Kumpels. Die blickten alle zu ihr rüber und lachten. Er wollte sie nicht anrufen, hätte sich nie gemeldet. Diese Erkenntnis raubte ihr den letzten Anflug von guter Laune und sie wünschte sich zurück nach Hause. In ihr Bett.
Dabei konnte sie sich bisher nicht über mangelnde Aufmerksamkeit von der männlichen Fraktion beklagen. Sie war hübsch mit ihrem kurzen, dunkeln Haaren und ihrer weiblichen Figur. Sie selbst fand sich zu dick und ihr Selbstbewusstsein war nicht das Größte.
Sie nahm sich eine Cola und nippte daran.
Stefan stand einige Meter von ihr entfernt und stritt sich lautstark mit einem Mädchen, dass sie nicht kannte. Eigentlich kannte sie kaum jemanden hier. Ein paar Leute warfen ihr ein flüchtiges „Hallo“ zu, aber sie blieb allein.
Sie versuchte nicht zu ihm zu schauen, spürte aber ab und zu Blicke auf sich.
Nach einigen Minuten stieß ihr jemand hart in die Seite.
„Willst du noch hier bleiben, oder fährst du mit? Ich hau ab hier“, raunte Stefan ihr wütend zu.
„Aua. Ja, wie soll ich denn sonst nach Hause kommen?“, antwortete sie und strich sich über die Rippen.
„Ist mir scheißegal. Also kommste jetzt mit, oder was?“. Er wartete gar nicht mehr ihre Antwort ab, sondern drehte sich um und hastete zur Tür. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Hier hielt sie sowieso nicht mehr.
Als sie zu ihm ins Auto stieg, spürte sie, dass er sehr erregt war. Der Streit musste ihn heftig aufgeregt haben. Er startete den Wagen und gab Vollgas, so dass die Reifen auf dem nassen Asphalt durchdrehten. Es regnete immer noch.
Auf der schmalen Landstraße beschleunigte er auf eine Geschwindigkeit, die auf jeden Fall viel zu hoch war für die Wetter und Straßenverhältnisse. Aus den Boxen dröhnte der Bass.
„Kannst du bitte langsamer fahren?“, schrie sie zu ihm hinüber, um die Musik zu übertönen.
„Halt die Klappe, ich weiß schon wie ich zu fahren habe“, brüllte er zurück. Sarah blickte stumm aus dem Seitenfenster. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, ihr Atem ging stoßweise.
Sie hatte Angst.
Der Regen klatschte gegen die Frontscheibe und sie konnte kaum noch etwas draußen erkennen, hier gab es keine Straßenbeleuchtung.
Plötzlich erschienen vor ihnen Scheinwerfer, die schnell näher kamen. Sie befanden sich gerade in einer Kurve, er war zu schnell. Viel zu schnell.
Stefan bremste scharf, der Wagen brach auf der nassen Straße links aus.
„Verdammt“, fluchte Stefan und versuchte verzweifelt das Auto wieder unter Kontrolle zu bekommen und riss das Lenkrad scharf nach rechts. Als Folge dessen kam der Pkw ins Schleudern und kam von der Fahrbahn ab und steuerte direkt auf eine Gruppe Hochgewachsener Eichen zu. Sarah klammerte sich am Türgriff fest und schrie. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Und dann war plötzlich alles still.
Sie merkte gar nicht, dass sie die Augen geschlossen hatte bis sie sie wieder öffnete.
Gleißendes Licht empfing sie, so dass sie die Lider zunächst wieder zusammenkniff.
Erschrocken, ängstlich tastete sie um sich. Soweit sie nun langsam erkennen konnte und fühlte, befand sie sich nach wie vor im Auto.
Sie schaute auf ihre Hände und drehte sie ungläubig vor ihren Augen.
„Bin ich Tod? War es das?“, fragte sie laut. Einige Tränen tropften von ihrem Kinn auf ihre Hose. Sie atmete heftig.
„Nein“, ertönte eine Stimme in ihrem Kopf.
Hastig drehte sie sich um, aber sie konnte nichts erkennen, das Licht war zu grell.
„Wer ist da? Wer spricht da?“ schluchzte sie und breitete ihre Arme aus um zu ertasten ob da jemand war, aber sie griff ins Nichts. Außerdem hatte sie die Stimme nicht wirklich gehört, sie war nur in ihrem Kopf erklungen.
„Fürchte dich nicht. Du bist nicht tot, lediglich in einem Ruhezustand. Ich bin der, der dich begleitet vom Anfang bis zum Ende“, ertönte die Stimme erneut in ihrem Kopf.
Sie gab es auf zu versuchen etwas zu erkennen.
Dann muss ich im Koma sein, oder so was, überlegte sie fieberhaft, aber sie konnte sich nicht an den Unfall erinnern.
„Nein, es ist noch kein Unfall passiert. Wie gesagt, ein Ruhezustand, in dem du dich befindest um mir eine Frage zu beantworten“.
„Noch nicht passiert? Heißt das, er wird noch passieren? Ich sitze immer noch in diesem Auto und es wird gleich passieren?“, winselte sie ängstlich und versuchte wild rudernd einen Weg aus dem Auto zu finden.
„Habe keine Angst, es passiert nichts, was du nicht willst. Du musst mir nur eine Frage beantworten“, sprach die Stimme.
„Was soll das? Bitte, ich will nach Hause. Was für eine Frage?“, weinte sie.
„Willst du sterben?“, antwortete die Stimme in ihrem Kopf.
„Was heißt sie werden schwächer? Können sie nicht irgendwas tun? Sie sind doch hier der Arzt, machen sie doch was!“, schrie Robert den Oberarzt an. Er war nervlich am Ende.
„Beruhigen sie sich, wir haben alles unter Kontrolle. Die Herztöne werden schwächer, das kann durchaus vorkommen, wenn die Geburt so lange dauert. Das Kind ist geschwächt.
Wir müssen abwarten, wie es sich weiter entwickelt. Bleiben sie ganz ruhig“, versuchte der Arzt Robert zu besänftigen.
Julia schrie auf. Eine erneute, heftige Wehe überrollte ihren Körper. Sie wand sich vor Schmerzen auf dem Kreissaalbett und drückte Roberts Hand fest zusammen.
Sie war schon lange kaum mehr ansprechbar. Ihr Körper konzentrierte sich ganz auf die Geburt und hatte alle anderen Funktionen auf „Notstrom“ gestellt. Robert strich ihr mit der freien Hand ein kühles Tuch über die Stirn.
„Alles wird gut werden Schatz, bald hast du es geschafft“.
„Herr Doktor?“, sagte die Hebamme, die am Ende des Bettes stand und deutete dem Arzt mit den Augen auf das CTG Gerät, welches die Herztöne des Kindes verzeichnete.
„Sechzig. Wir müssen einen Notkaiserschnitt machen. Sofort.“, antwortete der Doktor und griff nach dem Telefon, das an der Wand hing.
„Das Kind befindet sich bereits im Geburtskanal“, antwortete die Hebamme.
„Dann die Zange“, rief der Arzt und hängte das Telefon wieder ein.
„Was passiert hier?“, schrie Robert verzweifelt.
Der Arzt streifte sich Handschuhe über, während die Hebamme Julia höher auf das Bett schob und ihre Beine in die Schalen legte. Eine Schwester reichte dem Doktor Skalpell und Geburtszange, die Hebamme legte einen großen Stapel Tücher bereit.
„Es tut mir leid, sie müssen jetzt draußen warten“, sagte die Hebamme zu Robert und schob ihn schnell aus dem Kreissaal.
„Aber…aber mein Kind, meine Frau“, versuchte er einzuwenden, aber da schloss sich bereits die Tür hinter ihm.
Julia schrie.
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„Was?“, fragte Sarah entsetzt. „Nein, ich will nicht sterben. Natürlich nicht“.
„Ich muss dir diese Frage stellen. Du allein entscheidest wann du gehst“, sagte die Stimme ruhig „Überlege es dir gut“.
„Was gibt es da zu überlegen?“, heulte sie, „Wer möchte schon freiwillig sterben?“
„Jeder Mensch, der stirbt, geht freiwillig“, hörte sie es in ihren Gedanken.
„Das glaube ich nicht. Niemals. Mein Onkel hatte einen Herzinfarkt. Den hatte er doch nicht freiwillig“, schluchzte sie verwirrt.
„Er ist freiwillig gegangen. Ich war bei ihm und habe ihm die Frage gestellt. Jeder bekommt diese Frage gestellt.“, sagte die Stimme erklärend.
„Und was wäre passiert, wenn er nein gesagt hätte?“. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Dann hätte er den Infarkt überlebt. Und irgendwann hätte ich ihm die Frage erneut gestellt.“
„Das heißt, dass jeder selbst entscheidet wann er stirbt?“, fragte sie nun ungläubig.
„Genau so ist es“, sagte die Stimme zustimmend.
„Aber wenn es so wäre, dann würde die Welt doch platzen. Wer will schon sterben, wenn er mitten im Leben steht?“, fragte sie nun.
„Nein, Leben und Tod liegen dicht beieinander. Nur wenn etwas stirbt, kann etwas Neues geboren werden.“, sprach die Stimme. „Zwanzig Kilometer von hier liegt eine Frau in den Wehen. Wenn du dich für dein Leben entscheidest, wird das Kind tot geboren werden.
Wenn du dich dagegen entscheidest, dann lebt das Kind.“
„Was? Ich muss über Leben und tot entscheiden? Das kann ich nicht, das geht nicht, das kann niemand von mir verlangen klagte sie.
„So ist es vorgesehen. So war es, ist es und wird es immer sein“, antwortete die Stimme vehement.
„Bist du Gott?“, fragte Sarah etwas ehrfürchtig.
„Nein. Was ich bin, würde zu lange dauern es dir zu erklären. Du musst bald eine Entscheidung treffen.“.
„Ich verstehe das nicht“, sagte Sarah, „ die Menschen werden doch immer mehr. Wie kann das dann funktionieren, wenn immer jemand sterben muss, damit ein neuer Mensch geboren werden kann?
„Es muss nicht unbedingt ein Mensch sein, der stirbt. Das gilt für alle Lebewesen. Viele Arten sind ausgestorben, damit der Mensch in dieser Größenordung existieren kann.“, wurde ihr erklärt.
„Meine Eltern. Meine Freunde. Sie würden bestimmt sehr traurig sein.“
„Sie haben ihre Erinnerungen an dich, in ihren Herzen wirst du nie sterben.“
„Werde ich sie jemals wieder sehen? Was passiert wenn ich tot bin, was ist dann? Gibt es überhaupt etwas nach dem Tot?“, wollte sie wissen.
„Sehen, wirst du sie in jedem Fall, aber was nach deinem Tod passieren wird, darf ich dir nicht beantworten, da dies deine Entscheidung beeinflussen könnte“, hallte die Stimme in ihrem Kopf.
„Würde es sehr schmerzhaft werden?“, fragte sie ängstlich.
„Du wirst kein Leid erfahren. Es wird Zeit. Bitte treffe deine Entscheidung. Willst du sterben?“.
Robert ging den Flur auf und ab. Die Minuten kamen ihm wie Stunden vor, seit die Hebamme ihn aus dem Kreissaal geschoben hatte.
Natürlich hatte Julia Angst vor der Geburt gehabt, aber keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass es wirklich Komplikationen geben könnte.
Jetzt lag sie da. Allein. Und dabei hatte er ihr doch versprochen immer bei ihr zu bleiben.
Ihr beizustehen, sie zu halten wenn sie in den Wehen lag, die Nabenschnur zu durchtrennen.
Er wischte sich mit der Handfläche die Tränen aus den Augen.
Er fühlte sich so unsagbar hilflos.
Als er am Aufenthaltsraum vorbeikam hörte er einige Leute lachen.
Wut stieg in ihm auf. Wie konnten sich diese Leute amüsieren während seine Frau und sein Kind wahrscheinlich gerade um ihr Leben kämpften?
Gerade wollte hineingehen und den Schwestern die Meinung sagen, als die Tür des Kreissaals geöffnet wurde, in der sich seine Frau befand.
Er rannte so schnell er konnte.
Die Hebamme kam heraus und blickte ihn an.
„Was ist, was ist los? Geht es meiner Frau gut, was ist mit dem Kind?“, sprudelte es aus ihm heraus.
„Kommen sie“, sagte die Hebamme und führte ihn in den Kreissaal.
„Da lag seine Frau, auf dem großen Bett. Tränen standen in ihren Augen. In ihren Armen hielt sie ein kleines, regloses Bündel in Handtücher gewickelt. Er blieb wie versteinert stehen. Sein Herz schien auszusetzen.
Kein Babygeschrei. Sein Kind war tot.
„Komm her“, sagte seine Frau.
Er wollte nicht, aber musste stark sein, für Julia. Er näherte sich dem Bett und blickte auf das regungslose Wesen in ihren Armen.
Blaue Augen blickten ihn ruhig an.
„Sag hallo zu deiner Tochter“, schmunzelte Julia.
Ein leises „ha“ der Erleichterung entfuhr Robert als er dem Kind über die schwarzen Babyhaare strich. Er küsste seine Frau auf die Stirn und betrachtete das kleine Wesen.
Es war so warm, so lebendig. Ein Wunder.
Das Baby war müde, die Geburt war anstrengend gewesen. Als es an seinen Lippen die Brustwarze spürte, folgte es seinem Instinkt und begann zu saugen. Warme Flüssigkeit füllte seinen Mund. Die Haut, die Person die es im Arm hielt, roch bekannt. Auf einmal hörte es ein Geräusch in seinem Kopf.
„Du hast die richtige Entscheidung getroffen“.
Das Baby verstand die Worte nicht und konnte damit nichts anfangen, aber die Stimme kam ihm vertraut vor. Und so schlief es erschöpft und vertrauensvoll ein.