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In Gedanken bei Emily
In Gedanken bei Emily
"Wissen Sie", setzt Amalie unser Gespräch von letzter Woche fort, als habe sie nie aufgehört, zu erzählen. "Ich freue mich, dass Sie hier sind. Ich erzähle gern von meinem Leben. Wo waren wir stehen geblieben?"
Amalie ist im Frühjahr einundachtzig geworden und man sieht es ihr an. Schon seit neun Jahren lebt sie nun hier im Heim. Wir kennen uns erst seit zwei Wochen. Ich arbeite hier in einem ehrenamtlichen Projekt und betreue drei Menschen im Heim. Wir gehen zu ihnen und unterhalten uns. Manchmal ist es schwer. Mit Herbert zum Beispiel. Er erzählt immer nur vom Krieg und von den Verwundeten. Aber Amalie ist anders. Immer lächelt sie und wenn sie von den schlimmen Jahren erzählt, dann klingt es versöhnlich. Ich nehme mir für sie am meisten Zeit.
"Sie haben mir von ihrer Kindheit erzählt. Vom Bauernhof und wie sie den weiten Weg zur Schule gegangen sind. Auch bei Eis und Schnee." Ich erinnere mich noch lebhaft an die Geschichten von Kutschfahrten und der Arbeit auf dem Feld.
"Ja", sagt sie nachdenklich. "Aber das ist doch schon so lange her. Das kennen sie überhaupt nicht mehr, Sie junges Ding!" Ich schüttele belustigt den Kopf. Ich bin fünfundfünfzig und sie weiß das auch. Trotzdem nennt sie mich Mädchen und junges Ding.
"Haben Sie Kinder?" Ihr Gesicht beginnt zu leuchten.
"Meine Emily", erklärt sie und aus ihrer Stimme klingt Stolz. "Sie ist das beste Mädchen, das sich eine Mutter wünschen kann."
"Kommt sie manchmal zu Besuch?" Ich habe schon gefragt, bevor ich darüber nachdenke, ob das eine gute Frage ist. Wenn sie nein sagen muss, wird es sie schmerzlich daran erinnern.
"Nein", sagt sie, aber zu meiner Überraschung lächelt sie wohlwollend. "Das geht wohl nicht. Nein, sie kommt nicht her."
Wider besseren Wissens frage ich nach. "Warum nicht? Lebt sie nicht hier?"
"Nein, meine Emily lebt in Afrika, müssen Sie wissen. Sie ist Ärztin und sie lebt da unten in einem Dorf und hilft den Kranken. Dort ist sie schon seit zwölf Jahren. Und nach Hause kommt sie nur sehr selten. Es ist so eine beschwerliche Reise und sie wird doch dort gebraucht. Aber sie schreibt mir und das ist gut so. Mein Kind hat einen guten Beruf."
Ich nicke und lächele sie an. Es gibt wenige Menschen hier im Heim, die es ihren Kindern verzeihen, nicht besucht zu werden. Aber Amalie ist außergewöhnlich. Das weiß ich schon von Anfang an. "Wie alt ist Emily? Wie sieht sie aus?"
"Meine Emily ist neunundfünfzig. Bald ist es sechzig Jahre her. Ja, bald." Amalie verstummt mitten im Satz und sieht gedankenverloren aus dem Fenster. Ich habe den Eindruck, ich kann eine Träne in ihrem Augenwinkel sehen, aber als sie sich mir wieder zuwendet, lächelt sie und ihre Augen liegen im Schatten. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. "Und, wie sieht sie aus? Ist sie Ihnen ähnlich?"
"Na ja, sie sieht mir ähnlich, aber sie ist viel größer als ich. Sie hat schöne lange Beine. Und schwarze Haare, die in der Sonne glänzen. Sie ist auch hübscher, als ich es je war." "Das kann ich mir kaum vorstellen!", protestiere ich und weise auf das Bild von Amalie, das in einem silbernen Rahmen auf der Fensterbank steht. Darauf sieht sie aus, wie ein Filmstar mit ihren glatten, schwarzen Haaren und ihren ausdrucksvollen Augen.
"Na, na, Mädchen, das ist nur ein Photo. Nichts weiter. Niemand sieht auf Bildern aus, wie im wahren Leben."
Ich sehe mich im Zimmer um. Aber das Bild auf der Fensterbank ist das einzige, auf dem eine Person abgebildet ist. An der Wand neben dem Bett hängt das Bild eines großen Bauernhofes, schwarz weiß und beinahe völlig vergilbt. Auf diesem Hof ist sie aufgewachsen. "Haben Sie ein Bild von Emily?"
Sie schüttelt langsam den Kopf, so als müsse sie darüber nachdenken. "Nein, das Mädchen ist so kamerascheu. Ich habe kein Bild von ihr an der Wand hängen. Mein Bild von ihr ist hier drin." Sie deutet mit der fahlen Hand auf ihre Schläfe. "Ein wunderschönes Bild, das können Sie mir glauben."
Ich nicke und verstehe. "Wie ist sie so? Wie war sie als Kind?"
Für einen Augenblick verdüstert sich ihr Gesicht. "Als Kind. Meine Emily war schon immer wunderbar. Sie hat mir nie Sorgen gemacht. Wenn die Mütter auf der Straße jammerten, was ihre Kinder so angestellt haben, dann ging ich immer vorbei und lächelte. Denn meine Emily hat solche Dinge nie gemacht. Wenn sie mal einen Streich spielte, dann war es einer, über den jeder lachen konnte."
"War sie gut in der Schule?" Ich halte die Frage für unverfänglich, denn immerhin ist sie Ärztin geworden. Da muss sie doch gut in der Schule gewesen sein.
"Ja, sicher. Sie hat immer nur die besten Noten nach Hause gebracht und war bei den Lehrern wirklich beliebt. Immer haben sie mich gelobt für meine wunderbare Tochter." Ich blicke für einen Moment zu Boden und frage mich, warum ich nicht so ein Glück haben kann. Meine beiden Jungs haben immer nur Ärger mitgebracht. Briefe vom Direktor, schlechte Noten, blaue Flecke. Dann reiße ich mich zusammen. Ich bin nicht hier um über mein Leben nachzudenken, sondern über ihres. Den ganzen Nachmittag erzählt sie von Emily.
"Sie hat mir immer Freude gemacht. Und sie hat es mir nie vorgeworfen." Amalie hat sehr leise gesprochen, aber ich habe es gehört. Ihre Stimme klingt, als wäre sie in Gedanken weit entfernt. "Was hat sie Ihnen nicht vorgeworfen?", hake ich nach. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie über etwas sprechen möchte, das sie bisher noch nicht erwähnt hat.
"Ich war nicht immer gut zu ihr." Amalie schluckt schwer. "Verstehen Sie mich bitte richtig. Ich habe nur einen einzigen Fehler gemacht. Aber den hätte sie mir immer vorwerfen können. Aber meine Emily ist ein gutes Kind. Sie hat sich nie darüber gegrämt."
"Was war es denn?" Ich frage mit einer Mischung von Neugier und Mitgefühl in der Stimme.
"Lassen Sie uns nicht von solchen Dingen reden", ihre Stimme hat wieder einen festeren Klang und sie richtet sich ein wenig auf.
Ich reiße mich zusammen. Weiter nachfragen darf ich jetzt nicht. Hier geht es um sie und nicht darum, dass ich meine Neugier befriedige.
Eine Weile plaudern wir über die Rosen im Park, die sie so liebt. Darüber, dass sie beinahe verblüht sind und was der Gärtner mit ihnen tun sollte, damit sie im nächsten Frühjahr wieder genauso prächtig aussehen. "Denn ich habe vor, das nächste Frühjahr noch zu erleben, meine Liebe!", verkündet sie geradezu entrüstet. Ich schlucke leise und lächele sie an. Ich weiß, was in der Krankenakte steht. Dass die Ärzte nicht glauben, dass sie Weihnachten noch erleben wird. Aber das weiß sie auch, also wäre es unnütz darauf hinzuweisen. Unsere Blicke treffen sich über dem kleinen runden Tisch mit den Teetassen und wir wissen, dass wir es beide wissen.
"Kommen Sie am Mittwoch vielleicht vorbei?" Sie weiß, dass ich am Montag hier bin. Jeden Montag. Eigentlich habe ich mittwochs andere Dinge zu tun. Ich schüttele den Kopf.
"Machen Sie diesen Mittwoch doch eine Ausnahme. Dann können wir auf meine Emily anstoßen. Am Mittwoch wird sie sechzig. Ein runder Geburtstag sozusagen." Sie lächelt mich freundlich an und ich sage zu.
Am Mittwoch erwartet sie mich mit einer Kanne Tee und den üblichen zwei Tassen. Sie sitzt vor dem Fenster und ihr Gesicht liegt im Schatten. Für einen Moment habe ich das Gefühl, dass etwas sie bedrückt. Aber wir begrüßen uns wie üblich und ich setze mich ihr gegenüber. "Ja, jetzt sind es sechzig Jahre", beginnt sie bedächtig. "Es wird wohl Zeit, dass ich weitererzähle." Es tritt eine stumme Pause ein und sie nippt an ihrem Tee. Nach einer Weile breche ich das Schweigen. "Vermissens Sie Emily?"
Über ihre Züge huscht ein sichtbarer Schatten. "Ich habe sie immer vermisst. An jedem einzelnen Tag. Seit sechzig Jahren. In wirklich jeder Minute, die sie hätte bei mir sein sollen."
"Aber sie hatten doch wunderschöne Zeiten mit ihr." - "Ja, natürlich. Es war immer wunderschön." Heute ist sie wortkarger als je zuvor.
"Lassen Sie uns auf Emily anstoßen!" Mir fällt gerade ein, warum sie mich heute hergebeten hat. Emilys Geburtstag. Sie hebt ihre Teetasse und prostet mir zu. Dabei hat sie wieder dieses wehmütige Lächeln auf den Lippen. "Auf Emily."
Nach einer Weile kann ich sie ermuntern, doch noch über Emilys Kindheit zu erzählen. Darüber, wie sie laufen gelernt hat und was ihre ersten Worte waren. Immer wieder stockt sie und überbrückt die Pausen mit einem Schluck Tee. Heute vermisst sie ihre Tochter sicherlich besonders. "Entschuldigen Sie, meine Liebe. Ich bin heute keine gute Gesellschaft. Ich hätte Sie nicht herbitten sollen. Nicht am Tag der dunklen Gedanken. Aber ich wollte nicht allein sein, wenigstens dieses eine Mal nicht." Sie nickt mir entschuldigend zu. Eine Weile herrscht wieder Stille und ich denke über ihre Sätze nach. Bestimmt ist sie einsam, seit Emily nicht mehr hier ist und auch noch ihr Mann gestorben ist. Aber noch irgendetwas bedrückt sie.
"Wie war das eigentlich mit Emily und ihrem Vater? Haben sie sich gut verstanden?" Mir ist aufgefallen, dass sie ihren Mann nicht erwähnt, wenn sie von Emily erzählt. Vielleicht haben sie sich nicht verstanden. Vielleicht ist es das, was sie mit den dunklen Gedanken meint.
"Mein Mann?" Sie schnaubt durch die Nase und hebt den Kopf. Beinahe sieht sie jetzt trotzig aus. "Er hat das Kind nicht gewollt. Und das hat sich nie geändert. Wenn er nur einmal gesagt hätte, dass es sich geändert hat." Sie hält wieder inne. "Nein, mit ihr hat er mich allein gelassen. Von Anfang an und bis zu seinem Tod. Ich habe es nie verstehen können, wie man sein eigenes Kind verleugnen kann. Für ihn hat sie einfach nie existiert."
Ich schüttele den Kopf. Solche Dinge lassen mich ungläubig und sprachlos werden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, so nebeneinander herzuleben, obwohl man Teil derselben Familie ist.
"Hat er sich nie um sie gekümmert? Ich meine, nicht mal, als sie klein war?" Mit entschlossener Geste richtet sie sich wieder in ihrem Sessel auf. Ihre Augen wirken gleichzeitig traurig und wach, aber sie sieht mich nicht an.
"Also gut. Mein Mann. Wir waren drei Jahre verheiratet und ich habe ihm gesagt, dass ich schwanger bin. Dass wir ein Kind erwarten. Ich habe es mir so gewünscht und konnte kaum erwarten, es ihm zu erzählen. Aber er hat sich nicht gefreut. Er hat mich bei den Schultern gepackt und mir in die Augen gesehen. ‚Das war nicht geplant', hat er geraunt, nur ganz leise. Ich habe ihm gar nicht zugehört, sondern nur gespürt, wie seine Hände sich in meine Schultern gruben. Ich habe nur Schmerzen gefühlt, sonst nichts. Dann hat er mich losgelassen und ist rausgegangen. Es war schon spät am Abend, aber er war lange weg und ich habe auf ihn gewartet.
Schließlich kam er wieder und brachte diese Frau mit. Da wusste ich, was kommen würde. Ich kannte die Frau, jeder kannte sie und jeder wusste, warum sie kam. Aber was sollte ich tun. Ein Blick in seine Augen genügte, und ich erkannte die Konsequenzen. Er ging wieder weg und ließ uns allein. ‚Es wird nicht weh tun. Es ist einfach besser so, glaub mir.' Ich habe ihr glauben wollen, denn ich hatte keine Wahl. Aber es folgten die schlimmsten Schmerzen meines Lebens. Als sie ging, lag ich blutend im Bad und krümmte mich vor Schmerzen. Weder die Frau noch mein Mann kamen in dieser Nacht zurück.
Am nächsten Tag war er wieder da und das Leben lief, wie es immer gelaufen war. Das Bad war wieder frisch geputzt und ich lächelte. Ein wenig zumindest. Aber in mir war nichts mehr, wie früher. Für mich hatte ein neuer Teil des Lebens angefangen. Innerlich hohl und gebrochen. Er hat es nie erwähnt. Und ich auch nicht. Bis zu seinem Tod vor fünfzehn Jahren haben wir nicht mit einem Wort darüber gesprochen. Dabei wollte ich nichts weiter als eine Entschuldigung. Ein Wort darüber. Wahrscheinlich wäre schon das genug gewesen." Ihre Stimme wird bei den letzten Sätzen leiser und leiser. Bis sie ganz versiegt.
Meine Gedanken schlagen Purzelbäume während ich versuche, Sinn in all das zu bringen. "So gerne hätte ich dieses Kind einmal im Arm gehalten. Wenigstens ein Mal." Sie spricht wie zu sich selbst. "Und Emily?", versuche ich sie zu trösten.
"Ja, ich hatte Emily. Immer Emily." Ein Lächeln huscht für Bruchteile eines Moments über ihr Gesicht. Dann lächelt sie mich entschuldigend an. "Sie müssen mich für schwach halten. Und für eine grausame Frau. Weil ich es zugelassen habe, weil ich nicht gekämpft habe. Aber Sie kennen die Zeiten nicht. Sehen Sie", sie zuckt hilflos die Schultern. "Ich hätte es nicht geschafft, ohne ihn. Nicht mit einem Kind. Nicht allein. Es waren einfach andere Zeiten."
Sie holt tief Luft und fährt fort. "Ich habe ihn gehasst. Dafür, dass er mir das angetan hat. Dafür, dass er meine Träume mit Füßen getreten hat. Und dafür, was diese Frau mir angetan hat. Sie war nicht gut in dem, was sie tat. Tagelang hatte ich Schmerzen davon und danach konnte ich einfach keine Kinder mehr bekommen. Aber vielleicht hat er das gewollt. Deshalb habe ich mich an Emily geklammert. Das einzige Kind, das ich je haben würde. Deshalb ist Emily mein Engel." Sie schweigt und sieht auf ihre Hände herab, die sich ineinander verkrampft haben. "Das ist heute genau sechzig Jahre her. Kein Grund, zu feiern. Aber ein Grund, nicht allein zu sein. Das bin ich Emily schuldig. Ich kann nicht gehen, ohne von ihr zu sprechen. Wenigstens einmal in meinem Leben von ihr zu erzählen und ihr Leben ins Licht zu rücken."
Vor meinem inneren Auge sehe ich eine Ärztin in Afrika, die ein Krankenhaus leitet und allen Schwierigkeiten trotzt. Nach und nach schiebt sich das Bild von Amalie darüber, die in einer Blutlache auf dem Badezimmerfußboden liegt. In meinem Magen revoltiert es. Für eine Weile sind wir beide still und sehen einander nicht an.
"Warum", taste ich mich langsam in den Satz hinein, "haben Sie ihn nie verlassen, nachdem er Ihnen das angetan hat?"
Aus ihren Augen spricht Überraschung, als sie aufsieht. "Aber das ging doch nicht. Er war mein Mann. Und er hat mich geliebt." Nach einem tiefen Atemzug fährt sie fort. "Und er war Emilys Vater. Vor allem war er Emilys Vater. Auch, wenn er sie nicht wollte. Er war ihr Vater." Sie seufzt. "Entschuldigen Sie, dass ich Sie damit belaste. Dunkle Gedanken soll man nicht teilen und das hat einen Grund. Aber ich durfte sie nicht verlassen, ohne jemandem von ihr erzählt zu haben. Denken Sie an Emily, bitte, tun Sie mir den Gefallen."
Das war das letzte Mal, das Amalie von Emily gesprochen hat. Oder von ihrem Mann. Ich besuche sie weiter jede Woche, auch wenn sie nicht mehr im Heim ist. Sie liegt jetzt in den städtischen Kliniken und die Ärzte sagen, es handelt sich nur noch um Wochen und jedes Mal weiß ich nicht, ob ich sie wiedersehen werde. Sie erzählt immer noch von ihrem Leben. Wie sie als Kind hinter dem Hühnerstall gespielt hat und geholfen hat, die Kühe von der Wiese hereinzuholen. Amalie hatte eine schöne Kindheit. Genau wie Emily.