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In letzter Sekunde
Es war einer jener Tage im August, die dem Namen Spätsommer alle Ehre machten. Die Sonne schien vom wolkenlos blauen Himmel, Vögel zwitscherten wie ein großer vielstimmiger Chor, leichter Wind spielte mit meinen Haaren und warf sie durcheinander. Wieso ist das Wetter immer dann schön, wenn ich Spätdienst habe?, ging es mir durch den Kopf. Ich war verärgert und das mit Recht, wie ich fand. Die letzten beiden Tage hatte es in Strömen geregnet.
Mit meiner Schwesterntasche in der Hand war ich auf dem Weg in die Sozialstation. Der Spätdienst würde erst in einer Stunde beginnen, und ich war wieder einmal viel zu früh dran. Für einen Montag Nachmittag war es ungewöhnlich ruhig, und ich wünschte mir, dass ich meinen MP3-Player mitgenommen hätte.
Ich lief die Allee - die rechts und links von großen, hellen Häusern und prachtvollen Gärten flankiert wurde – entlang und gab mir große Mühe, meine schlechte Laune zu pflegen. Der Inbegriff der Spießbürgerlichkeit: weiße Gartenzäune, penibel gemähter Zierrasen, blühende Magnolien, säuberlich beschnittene Rhododenren und dieses nervige Vogelgezwitscher.
Ich war ungerecht und wusste es, aber dadurch wurde es nicht besser.
Ich war gerade damit beschäftigt, die Baumkronen und die darin befindlichen Vögel mit Blicken zu durchbohren, als die Stille abrupt unterbrochen wurde. Neugierig ging ich weiter und erkannte den Grund für die ungewöhnliche Ruhestörung.
“Du verdammter Rotzbengel, schimpfte Herr Kneisel wütend, meine preisgekrönten Rosen hast du zertrampelt, wenn ich dich erwische ...“
Ich sah wie ein kleiner Junge über den Zaun auf die Straße kletterte und mit einem triumphierenden Lachen einen großen Apfel in Händen hielt.
“Ich hoffe, du erstickst daran!” Mit zornesrotem Gesicht stampfte der Rosenzüchter durch seinen Garten und begutachtete den Schaden, den der Junge in seinen Beeten angerichtet hatte.
Der Rotzbengel war kein anderer als Lukas Bänder, der Nachbarsjunge, den auch ich mehr als gut kannte, hatte ich ihn doch schon des Öfteren verarzten müssen, wenn einer seiner zahlreichen Streiche wieder einmal nicht ganz so glimpflich verlaufen war. Es gab wohl niemanden in ganz Lindenau, der nicht wusste, wer Lukas war.
Erst vor einigen Wochen hatte er die gesamte Feuerwehr auf Trapp gehalten, als er verbotenerweise auf das Dach der alten Mühle geklettert und hinter ihm die Treppe und ein Teil des Speichers zusammengebrochen war.
Mit einem unverschämten Grinsen begann der Sechsjährige das Diebesgut zu verzehren.
„War das nötig?“, fragte ich scharf. „Du hättest ihn nur fragen müssen, er hätte dir bestimmt einen Apfel gegeben“.
„Ich weiß“, antwortete der Junge feixend, „aber so hat es mehr Spaß gemacht“.
„Vielleicht sollte ich mal mit deinem Vater darüber sprechen“.
„Der glaubt dir sowieso nicht und wenn doch, sag ich einfach, dass du schwindelst, weil du mich nicht leiden kannst“.
„Ich denke das werden wir dann sehen.“, schnappte ich.
„Du bist eine dumme Kuh, alle Krankenschwestern sind dumme Kühe“.
Ich ballte meine Hand zur Faust, so fest, dass die Fingerknöchel weiß wurden. Nur mit äußerster Mühe gelang es mir, die Beherrschung nicht zu verlieren, denn am liebsten hätte ich ihm für diese Bemerkung eine schallende Ohrfeige verpasst.
Zähne knirschend beschloss ich, den letzten Satz zu ignorieren und setzte meinen Weg fort.
Plötzlich begann Lukas heftig zu husten und nach Luft zu schnappen, wie ein Asthmakranker nach einem Hundert-Meter-Sprint. Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, dachte ich schadenfroh und beobachtete das sich mir bietende Bild eine Weile. Doch Lukas Husten wurde immer schlimmer.
Mit einigen Schritten war ich bei ihm und klopfte mehrmals kräftig auf seinen
Rücken, aber ohne Erfolg.
Der Sechsjährige schlug panisch um sich, griff sich an den Hals und stieß würgende, keuchende Laute aus.
Ich packte ihn und stieß ihm mit einem wuchtigen Ruck meine Hände von hinten in die Magengrube. Einmal, zweimal, dreimal; es war sinnlos. Die Bewegungen des Jungen wurden langsam schwächer. Ich beugte ihn vornüber und schlug ihm noch einmal mit voller Kraft auf den Rücken, während ich die andere Hand zur Faust ballte und in den Solarplexus rammte. Es half nichts, der Junge brach wenig später bewusstlos in meinen Armen zusammen.
"Rufen sie einen Notarzt", schrie ich über den Zaun, während ich Lukas schlaffen Körper behutsam auf das warme Straßenpflaster gleiten ließ.
Ich fühlte wie der Puls des Jungen langsamer und schwächer wurde. Seine Hände waren kalt und die blonden Haare klebten inzwischen schweißnass in seinem bleichen Gesicht. Ein Schock, er hat einen Schock. Allmählich wurde mir bewusst, wie ernst die Situation war.
Wenige Sekunden später bemerkte ich, dass sein Brustkorb sich nicht mehr bewegte und als ich am Rippenbogen entlang tastete, wurde es zur Gewissheit; Lukas atmete nicht mehr.
Ich reagierte rein instinktiv, überstreckte seinen Kopf in den Nacken, verschloss mit Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand seine Nase und schob mit der Rechten seinen Kiefer nach unten um ihn zu beatmen. Ich holte tief Luft und presste meine Lippen auf seine; sie waren eiskalt. Erst vorsichtig und dann mit mehr Druck, versuchte ich Luft in Lukas Lungen zu pusten.
Es blieb bei dem Versuch. Das verschluckte Apfelstück verlegte seine Luftröhre wie ein Korken, der in einem zu engen Flaschenhals steckt. So hätte ich auch gleich versuchen können, einen Autoreifen aufzublasen.
Meine Gedanken überschlugen sich, ich würde ihn verlieren, er würde ersticken, vor meinen Augen, und es gab nichts, was ich noch tun konnte. Der Notarzt würde zu spät kommen!
Die Wut, die schlechte Laune, die ich noch vor ein paar Minuten gehabt hatte, das alles war unwichtig geworden. „Hilfe, wieso hilft mir denn niemand“? Ich war verzweifelt.
Meine Hände zitterten, Schweiß erschien in einem Netz feiner Perlen auf meiner Stirn, lief in Strömen meinen Rücken hinunter, für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen und mein Herz schien einige Takte auszusetzen, um dann in doppeltem Tempo weiter zu hämmern. Die einzige Rettung, die es für Lukas noch gab, traf mich wie ein Schwall eiskaltes Wasser.
Ich durfte keine Zeit verlieren.
Wie in Trance öffnete ich die Tasche mit den Instrumenten, die ich im Dienst immer bei mir hatte. Meine Hände zitterten mittlerweile so stark, dass ich mehrere Versuche benötigte, bevor ich die Schnappverschlüsse endlich auf bekam.
Ich machte mir nicht erst die Mühe das Desinfektionsmittel auf einen Tupfer zu geben, sondern goss es direkt auf den Hals des Jungen.
Mit fahrigen Bewegungen nahm ich das Skalpell aus der sterilen Verpackung, aber es rutschte mir aus der Hand. Ich wischte die schweißnassen Hände an meiner Hose ab und nahm ein neues OP-Messer aus der Folie.
Das Bild unseres Rettungsarztes tauchte vor meinem inneren Auge auf und referierte über Durchtrennung von großen Blutgefäßen und schwere Verletzungen von Kehlkopf und Stimmbändern. Meine Brust schien zu eng für meinen hämmernden Herzschlag zu werden, ich bekam kaum noch Luft, mir wurde übel und ich hatte das Gefühl, tausend Spinnen würden über meinen gesamten Körper kriechen.
Nur einige Millimeter daneben und es wäre sein sicherer Tod. Ich Zwang mich den Gedanken nicht zu Ende zu denken.
Nein!!! Das würde nicht passieren, nicht hier, nicht jetzt, ich musste ihn retten.
Ich atmete mehrmals übertrieben tief, ein und aus und presste dabei die Augenlider für einen kurzen Augenblick so fest aufeinander, dass ich bunte Kreise sah. Es half.
Ich setzte das Skalpell auf und brachte einen drei Zentimeter langen Schnitt unterhalb des Kehlkopfes, in der Drosselgrube an. Ich wagte es nicht zu atmen und jeder Muskel in meinem Körper, war so angespannt, dass er fast sofort zu schmerzen begann.
Blut sickerte aus der Wunde, lief rote Rinnsaale bildend über seinen Hals und tropfte auf den grauen Asphalt. Ich nahm ein Ansaugröhrchen schnitt es auf die passende Größe zu und schob es vorsichtig in die künstlich geschaffene Öffnung, die ich mit meinen Fingern auseinander hielt.
Mit einem zischenden Laut drang Luft in Lukas Lungen ein, und sein Brustkorb begann sich langsam und rhythmisch auf und ab zu bewegen.
Sein Puls wurde kräftiger und auch etwas Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. Ich fixierte das Röhrchen mit einem Schlitzpflaster und wischte meine blutigen Hände an einem Taschentuch ab.
In der Ferne hörte ich das Martinshorn des sich nähernden Krankenwagens.
Tränen der Erleichterung liefen mir über die Wangen, als ich auf den Jungen blickte, der noch immer bewusstlos war. Seine Atmung war, dank der improvisierten Trachealkanüle, ruhig und gleichmäßig.
Erst jetzt bemerkte ich, dass Herr Kneisel neben mir stand. Seine Augen waren starr vor Entsetzen, seine Haut hatte den Farbton einer Krankenhauswand angenommen und seine Stimme klang wie das Brechen von trockenem Brot. „So hab ich das doch nicht gemeint, ich wollte nicht …, es …, es tut mir leid.“
„Ich weiß! Machen Sie sich keine Sorgen, es war nicht Ihre Schuld.“
„Wird er ... wieder gesund?“
„Ja!“, sagte ich mit einer Überzeugung, die keinen Widerspruch zuließ.
Ich versuchte zu lächeln aber es geriet wohl eher zur Grimasse. Die zurückliegenden Minuten hatten meine ganze Kraft gekostet; ich war mir nicht einmal sicher, dass ich noch die Energie hatte, aufzustehen.
Behutsam strich ich Lukas über die Stirn. Er war noch immer im Schockzustand und das hieß: er war noch nicht außer Gefahr. Aber ich ließ diesen Gedanken nicht zu und schob ihn beiseite, weil ich es anders nicht hätte ertragen können.