In Prag - Über Kunst und Logik
In Prag
über Kunst und Logik
über Kunst und Logik
Ich lag im Bett. Alles war Dunkel. Von der Straße kamen ein paar Lichtschimmer in das Zimmer, gerade ausreichend, um die zwei Gemälde zu sichtbar zu machen, die vor mir an der Wand hingen. Meine Freundin schlief neben mir, drehte sich ab und zu um. Ich küsste sie und richtete mich auf.
Meine Zigaretten. Ich suchte in der Hosentasche, sie waren nicht da. In meiner Jacke waren sie auch nicht. Langsam wurde ich unruhig. Ohne Zigaretten, wach, mitten in der Nacht – überhaupt nicht gut.
Ich stand auf und tastete mich zum Tisch, der vor dem Bett stand. Ich wühlte mich unter dem riesigen Haufen Kleidern durch, die ich dort achtlos hingeschmissen hatte. Dann ging ich weiter zum Stuhl, der neben dem Tisch stand. Ein Teller lag auf einem Haufen Zeitschriften und Büchern. Aber keine Zigaretten. Ich richtete mich auf und lies meinen Blick wandern, hoffte, die Kippen irgendwo in einer entfernten Ecke des Zimmers zu sehen. Nichts. Ich wurde noch unruhiger. Meine Erinnerungen sagten, dass ich eine Packung vor ein paar Stunden gekauft hatte. Also musste sie hier irgendwo sein. Oder ich hatte sie auf dem Weg vom Schwarzlichttheater zur Wohnung verloren. Ich schüttelte den Kopf. Ausgeschlossen. Sie waren ganz sicher noch da.
Mein Blick wanderte über die zwei Gemälde im Zimmer. Das eine war von Míro, eine schlechte Reproduktion. Der Rahmen sah alt und kaputt aus, das Glas vor dem Bild war schmutzig. Das andere konnte ich nicht genau zuordnen, irgendwas Surrealistisches. Ich sah die Bilder an und fragte sie nach den Zigaretten. Sie hatten keine Lust mir zu antworten. Aber da war etwas, ganz leise. Im ersten Moment schob ich das Geräusch weit von mir – Einbildung, der Wind, meine Freundin, Ratten.
Als ich still wurde, war es wieder da. Gerade so laut, dass ich es wahrnahm, aber zu leise, um es wirklich zu hören. Ich versuchte, meine Körpergeräusche auf ein Minimum zu bringen. Ich stellte jede Bewegung ein, hörte auf zu atmen, versuchte die Umgebungsgeräusche – die kaum vorhanden waren – auszuschalten. Und hörte es. Es klang wie ein Flüstern. Ich suchte nach der Quelle des Geräusches und stellte fest, dass es von vorne kam. Aus der Wand? Hinter der Wand? Es kam eindeutig aus dem Zimmer, in dem ich war. Ich suchte die Wand nach einem Tier oder etwas Ähnliches ab, das solche Geräusche hätte machen können, aber da war nichts. Nur die zwei Bilder. Sie sahen noch genauso aus wie immer. Sie bewegten sich nicht, wirkten abgenutzt und deplaziert in dem fast leeren Zimmer.
Ich versuchte, das Flüstern zu deuten, einzelne Worte herauszufiltern. Es gelang mir nicht, egal wie sehr ich es wollte. Es war, als versuchte ich in einem Fluss einzelne Tröpfchen auszumachen. Irgendwann gab ich es auf. Mit der Zeit war es mehr als ein Geräusch, es wurde eine Melodie. Ich erkannte einzelne Nuancen, die man, stellte ich später fest, auch als Worte hätte interpretieren können.
Mein Zimmer veränderte sich, wie in einem Traum. Der mit dunklen Flecken übersäte Boden unter meinen Füßen verwandelte sich in einen rustikalen Holzboden. Ich zuckte zusammen und machte einen Schritt zurück. Das Holz knarrte unter meinem Gewicht. Ich sah zu meiner Freundin. Sie lag immer noch friedlich im Bett, schien nichts von dem Zauber zu bemerken, der gerade passierte. Die Sonne ging auf. Ich konnte sie dabei beobachten, wie in einer Zeitrafferaufnahme. Sie blieb über den Häuserdächern stehen. Eine Mischung aus grellem und diffusem Licht erhellte das Zimmer, das Gesicht meiner Freundin und die beiden Bilder, die – wie ich feststellte – immer noch flüsterten. Ich sah aus dem Fenster. Prag wirkte, als wäre es noch immer Nacht. Ich konnte Autoscheinwerfer sehen, die sich den Weg durch eine weit entfernte Straße bahnten. Ich konnte die Beleuchtung der hohen Gebäude sehen, die vereinzelt aus dem Dächermeer aufragten. Ich sah die Szenerie mit offenem Mund an, versuchte nicht einmal zu erklären, was passierte. Ich war gefangen von dem, was ich sah.
Ich blickte wieder zu meiner Freundin, war gerade im Begriff, zu ihr zu gehen und sie aufzuwecken, als mir das Herz stehen blieb. Ein alter Mann saß auf einem noch älteren Stuhl, direkt neben der Stelle, wo meine Freundin schlief. Vor ihm stand eine Staffelei. Ich konnte die winzigen Unebenheiten des Tuches sehen, auf dem der Alte seine Pinselstriche machte. Seine Hand pendelte in schnellen Bewegungen von der Staffelei zu einem Holzklotz, in dem er wahrscheinlich seine Farben mischte. Das Bild, das er malte, kam mir bekannt vor. Es dauerte eine ganze Weile – in Wahrheit dürften es nur Sekunden gewesen sein – bis ich es in meinem Kopf wieder fand. Es war das surrealistische Bild an der Wand, das ich nicht eindeutig zuordnen konnte. Die Hände des Mannes bewegten sich so schnell, dass ich alles noch weniger glauben konnte, was ich sah. Innerhalb weniger Sekunden war das Bild fertig. Der Alte legte seinen Pinsel langsam neben sich, als könnte er zerbrechen und stand auf.
Ich wartete gespannt darauf, sein Gesicht zu sehen. Mein Mund war trocken, meine Finger rieben aneinander, bis sie schmerzten. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich gar nicht wissen konnte, ob der Mann wirklich alt war. Er drehte sich um. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. An seiner Stelle war nur ein schwarzer Fleck. Der Alte sah nach unten – jedenfalls dachte ich, dass er das tat – und hob einen Zettel vom Boden auf. Er legte ihn auf meine Freundin, nahm eine Feder, tunkte sie in ein kleines Tintenfässchen, das irgendwo vor dem Bett lag und schrieb. Ich sah nicht, was er schrieb, aber ich wusste es: ich habe es gemalt. Dieses und kein anderes. Es erschien mir richtig und nachvollziehbar, es so und nicht anders zu malen.
Der Mann nahm den Zettel und warf ich wieder auf den Boden. Er ging langsam auf das Fenster zu und machte es auf. Fremde Geräusche drangen ins Zimmer. Ich hörte das Wichern von Pferden und das Reiben von Metallrädern auf Steinpflaster. Der Mann stand ein paar Augenblicke still da, schien die Morgenluft begierig aufzusaugen. Dann breitete er die Arme aus – und lies sich fallen. Es ging schneller, als ich es begreifen konnte. Ich stolperte auf das Fenster zu, und gerade, als ich meinen Kopf nach draußen strecken wollte, um zu sehen, ob der Mann noch lebte, knallte ich gegen die Fensterscheibe im Zimmer.
Ich machte kurz die Augen zu, versuchte den Schmerz zu bekämpfen. Als er nachließ und ich meine Augen wieder öffnete, war alles dunkel. Ich wusste, es hatte aufgehört. Ich sah aufs Fensterbrett – und da waren sie. Meine heiß geliebten Zigaretten. Ich öffnete die Packung und nahm mir eine, zündete sie gleich an und öffnete das Fenster. Die Luft draußen war kalt, aber abgestandene, warme Luft drang vom Zimmer nach draußen, so dass ich nicht fror.
Ich dachte darüber nach, was der Alte geschrieben hatte. Ich habe es gemalt. Das hatte er, ich sah es mit eigenen Augen. Aber der Ausspruch an sich war seltsam. Ich habe es gemalt. Es schien ihm wichtig zu sein, es jemandem mitzuteilen, auch wenn das Bild gut sichtbar für jeden im Zimmer stand. Vielleicht hatte er lange gebraucht, um es malen zu können, um die Idee zu verwirklichen oder auch nur, um den Mut aufzubringen, es einfach zu tun. Ich kannte das von mir. Wenn ich nicht von mir überzeugt war, dann kam nur dummes Zeug dabei raus, wenn ich schrieb. Möglicherweise ging es dem Alten genauso. Und dann hatte er es fertig gebracht und wollte, mehr sich selber als jemand anderem, es mitteilen.
Dieses und kein anderes. Das war eindeutig der rätselhafteste Ausspruch. Dieses und kein anderes bezog sich eindeutig aufs Bild. Vielleicht, dachte ich mir, wollte er auf den Satz vorher anspielen. Ich habe dieses und kein anderes Bild gemalt. Aber ich glaubte das nicht. Ich glaubte eher, dass dieser Ausspruch mehr mit dem Satz, der danach kam, zu tun hatte. Es erschien mir richtig und nachvollziehbar, es so und nicht anders zu malen – dieses und kein anderes. Eher in der Art.
Aber was wollte er damit sagen? Mich erinnerte „richtig und nachvollziehbar“ an einen Mathematiker. Für einen Mathematiker, auch wenn er Fehler machte, war sein Weg immer richtig und nachvollziehbar.
Meine Gedanken stockten. Wie war ich von einem Künstler, der Selbstmord begann, zu einem Mathematiker gekommen? Ich rauchte weiter und sah mir Prag an. Die Bäume wiegten sich in einem leichten Wind, irgendwo fuhr gerade die Straßenbahn vorbei, ein Hund bellte. Und mir ging der Mathematiker nicht mehr aus dem Kopf. Hatte er etwas mit Kunst zu tun? So gegensätzliche Dinge schlossen sich doch größtenteils aus. Aber es gab eine Verbindung, dessen war ich mir sicher, auch wenn ich nicht sagen konnte, wieso ich mir so sicher sein konnte oder welcher Art die Verbindung war. Ich wusste nur, es gab sie.
Ich überlegte weiter. Der Alte hatte ein Bild gemalt. Wieso dieses und kein anderes? Doch wohl, weil es für ihn richtig war, es so und nicht anders zu machen. Es entsprach also gewissermaßen einer Logik, wie er es gemalt hatte. Seiner eigenen, inneren Logik. Und plötzlich hatte ich es. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Wenn ein Künstler seine Kunst aus einer inneren, persönlichen, keinem anderen Menschen anhaftenden Logik heraus schaffte, was war dann die Mathematik? Es war die Schnittmenge aller einzelnen, der Individuen angehörenden Logiken. Es war, konnte man sagen, die allgemeingültige Logik, die sich über alle anderen Logiken definierte. Jetzt machte der letzte Ausspruch des Alten Sinn: es erschien mir richtig und nachvollziehbar, es so und nicht anders zu malen. Dieser unbekannte Mensch, von dem ich nicht einmal sicher wra, ob es ihn jemals gab, hatte mir die Augen geöffnet. Ich konnte Kunst auf eine ganz andere Art und Weise sehen. Ich beschloss, am nächsten Tag alles aufzuschreiben.
Ich liebte den Anblick von Prag in der Nacht. Alles leuchtete. Die Stadt war auch jetzt, irgendwann kurz nach Mitternacht, noch lebendig. Ich schnipste die Zigarette nach draußen und legte mich wieder ins Bett.