Ink-blotted love
Charlotte saß auf den Backsteinstufen, die zur Veranda hinaufführten, die Augen halb geschlossen, den Kopf in die Höhe gestreckt, wie um die Strahlen der untergehenden Sonne einzuatmen.
Das mit goldenen Lettern verzierte, himmelblaue Notizbuch war auf ihren Schoß gesunken, auf der aufgeschlagenen Seite konnte man den unvollendeten Satz „...die Kutsche sehen, die um die Ecke bog“ lesen.
Charlotte war in Salinas, Kalifornien, sie saß auf den sonnengewärmten Stufen eines Hauses an der Westküste der Vereinigten Staaten, und doch war sie im selben Moment mitten in London.
Der Wandkalender, der hinter ihr in der Brise flatterte, zeigte das Septemberblatt des Jahres 1995 an, was wohl bedeuten musste, dass Charlotte genau hier war, auf einer Veranda in Salinas, Kalifornien, dass sie jetzt existierte, Anfang Herbst 1995, und doch war sie gleichzeitig im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts, nicht in Jeans und weißen Shirt, sondern in Korsett und Reifröcken.
Ob sie wohl das Rätsel um die Rothaarigen hätte lösen können, bei ihm, mit ihm, an seiner Seite?
Leichte Schritte unterbrachen ihre Gedankengänge, und einen Moment ließ sich June fast lautlos an ihrer Seite nieder. Sie trug immer noch ihren Bikini, und um die Hüften hatte sie sich einen bunten, kurzen Sari geknotet.
„Und, viel geschrieben heute?“, fragte sie und stellte ihr Eisteeglas zwischen sich und Charlotte. Die Eiswürfel klirrten.
„Es geht so“, erwiderte Charlotte und zuckte mit den Achseln. Neben ihr flammte ein Feuerzeug auf, und Sekunden später drang ein milder, süßlicher Geruch an Charlottes Nase.
„Ich bin heute irgendwie nicht in Stimmung dafür“, brummte June unwillig und zog an ihrer Zigarette.
Dabei wären die Umstände doch ideal, das Wetter war schön, keiner von ihnen hatte wirklich großartig viel zu tun, Junes Eltern waren wie so oft aus dem Haus und hatten dieses kleine Paradies samt Swimmingpool ihrer Tochter überlassen.
„Irgendwie ist das doch ganz schön bescheuert. Das, was wir hier machen, meine ich.“ June zögerte, nahm noch einen Zug von ihrer Zigarette und stürzte gleich darauf einen Schluck Eistee hinunter.
„Und doch können wir nicht aufhören“, stellte Charlotte fest, mit einem für sie so ganz untypischen bestimmten Tonfall.
June betrachtete ihre Freundin, die einen Punkt in der Ferne fixierte. „Mensch, Charlie, du hast noch alle Möglichkeiten. Ich meine, sicher ist dein Verhalten ungewöhnlich, aber wie gesagt, du hast noch alle Chancen. Von einer Fünfzehnjährigen erwartet man noch nicht zwingend, dass sie einen festen Charakter hat und mit beiden Beinen auf der Erde steht. Von einer Zwanzigjährigen schon.“
„Auch von einer Fünfzehnjährigen erwartet man, dass sie sich in reale Personen verliebt“, erwiderte Charlotte sachlich. Im Hintergrund hörte man das Kratzen von Bonnies Buntstiften auf dem Zeichenblock.
June schwieg, und Charlotte sah nun ihrerseits das Mädchen, oder nein, besser gesagt, die Frau, an. Niemand würde ihr Geheimnis erraten können, ja, niemand würde es glauben, selbst wenn sie es selbst zugeben würde.Nicht June. June war offen. June war beliebt. June studierte Psychologie in Berkeley und fuhr ihren eigenen Wagen. Sie hatte in der Schule Freifächer und Sportkurse belegt, sie hatte Nebenjobs und nette Freunde gehabt auf der Highschool, ein ehrgeiziges, offenbar ganz im Hier und Jetzt lebendes Mädchen.
„Na, wieder einmal gefangen in eurem Negativuniversum?“ Cornelia, die Dritte im Bunde, gesellte sich zu ihnen und warf ihr glattes, aschblondes Haar, das so sehr dem ihrer kleinen Schwester glich, über die Schultern. „Ihr seid aber auch unmöglich.“
„Du hast leicht reden. Du hast ebenfalls noch alle Möglichkeiten.“ June hatte sich heute offenbar in den Kopf gesetzt, sich als einzige für unrettbar verloren zu erklären.
„Sie hat noch alle Möglichkeiten“, korrigierte Cornelia und deutete mit dem Kopf auf ihre malende Schwester, die völlig konzentriert dasaß und gerade mit rotem Buntstift etwas ausschraffierte.
Charlotte sah Bonnie an und konnte nicht umhin, sie ein bisschen zu beneiden. Bonnie war gerade mal neun, ein Kind also. Sie war jeden Tag oder zumindest jede Woche in jemand anderen verliebt, einmal war es Peter Pan, dann Tom Sawyer, und dann wieder ein Protagonist aus ihren Comicheftchen. Die durfte das, sie war ein Kind, sie war noch frei. Würde sie ihren Eltern ihre leidenschaftliche Schwärmerei für eines dieser ganz und gar nichtexistierenden Wesen, deren Aussehen, deren Charakterzüge und Eigenschaften allesamt aus der Feder eines begnadeten Schreibers geflossen waren, beichten, so würden diese vermutlich liebevoll lachen, es vielleicht mit demselben liebevollen Lachen Nachbarn oder Freunden erzählen und mit großer Wahrscheinlichkeit ihre mit Buntstift gemalten Kunstwerke auch noch an den Kühlschrank hängen.
Was sie selbst, Conny und June betraf, so saßen sie, obwohl June genau das Gegenteil darzulegen versuchte, alle im selben Boot.
Niemand von ihnen brauchte sich Hoffnung darauf machen, dass man eine Zwanzig- oder Sechzehnjährige, ja nichtmal eine Fünfzehnjährige als normal ansehen würde, nicht wenn ihre sorgfältig gehüteten Tagträume bekannt werden würden, nicht, wenn irgendjemand ihre gut versteckten Bücher finden würde.
„Gut, dann sehen wir doch am besten gleich ein, dass wir alle nicht ganz normal sind.“ June hatte ihre Diskussion mit Conny wieder aufgenommen. „Zufrieden?“
June hatte Recht. Sie als Psychologiestudentin musste es am besten wissen. Es ist ein Grundzug des Menschen, darauf hinzuarbeiten, dass seine Wünsche und Bedürfnisse erfüllt werden.
An etwas festzuhalten, was immer ganz und gar unerfüllbar bleiben würde, war schlicht und einfach sinnlos. Es war wie mit diesen verdammten Funktionsgleichungen, diese unsinnigen Dinger, die so konzipiert waren, dass sie sich der Null immer weiter und weiter annäherten, so unendlich nahe, und doch würden sie sie nie berühren.Ja, man konnte eine Annäherung erzielen. Man konnte sich selbst auf Papier bannen, mitsamt all seinen Eigenschaften und Äußerlichkeiten, und dort, auf der weißen linierten Oberfläche alle geheim gehaltenen Träume wahr werden lassen.
Und manchmal, ganz selten, war es möglich, für wenige Sekunden das Gefühl zu haben, all das würde wahr werden, in diesen verrückten Momenten, wenn man vom Zehnmeterbrett ins eiskalte Wasser sprang und der kurze freie Fall einem den Eindruck gab, nichts auf der Welt wäre unmöglich.
Und doch blieb immer dieser bittere Geschmack zurück, wenn man wieder auftauchte, aus dem Wasser stieg und wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Dann nämlich musste ihnen allen klar werden, dass nicht einmal etwas so Undurchführbares wie eine Zeitmaschine sie je zu ihren Zielen bringen würde. Charlotte könnte monatelang das viktorianische London durchstreifen, June würde in den depressionsgeplagten 30er Jahren sämtliche Farmen absuchen, Conny würde Ewigkeiten in den Hochmooren von Yorkshire herumstreifen können, und doch würde keine von ihnen ihn jemals finden. Auch Bonnie würde nie mit Peter Pan fliegen können, auch wenn ihr das aller Voraussicht nach in spätestens fünf Jahren egal sein würde. Hoffentlich? Leider?
Nachdem einige Zeit Stille zwischen den drei auf den Stufen sitzenden Freundinnen geherrscht hatte, fing Conny plötzlich an: „Warum? Warum ist uns sowas überhaupt passiert? Wie kann so etwas überhaupt passieren?“
June lachte ihr spöttisches Lachen, genau jenes Lachen, mit dem sie immer zu kaschieren versuchte, dass ihr etwas näher ging, als sie zugeben wollte, und antwortete: „Wisst ihr was, ich glaube, da waren Pheromone in der Druckertinte. Ich kanns mir nicht anders erklären.“ Sie drückte ihre Zigarette an der immer noch warmen Stufe aus.
Die Sonne ging unter.