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Intime Bekenntnisse eines Kauzes mit schiefer Nase

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20.03.2005
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Intime Bekenntnisse eines Kauzes mit schiefer Nase

"Mahlzeit". Wir hatten den älteren Mann im Vorbeigehen nicht bemerkt und drehten uns verblüfft um. "Mahlzeit". Fast trotzig wiederholte er seinen Gruß nachdem wir nicht geantwortet hatten. Der Kauz saß auf der Bank wie eine dieser Bronzefiguren, die man gelegentlich auf Bänken in Fußgängerzonen aus den 80er Jahren findet. Er war vielleicht 60 und wirkte in der gutbürgerlichen Umgebung der Uferpromenade von Scharbeutz etwas verwahrlost. Dabei war er nicht wirklich ungepflegt gekleidet. Allenfalls etwas verzottelt, wenn Sie sich darunter etwas vorstellen können. Vielleicht lag es an seiner schiefen Nase, seiner wirren Frisur oder seinem ausgeprägten Schielen. Vielleicht hatten wir ihn einen Augenblick zu lange gemustert. Sein drittes "Mahlzeit" klang schon recht fordernd.

Ich antwortete "Mahlzeit", obwohl dieser Gruß nicht zu meinem üblichen Wortschatz gehört und der Tageszeit, es war nachmittags gegen drei, auch nicht entsprach. Ich erinnere mich, in meinem Leben erst einmal so gegrüßt zu haben. Das war auf den Gleisen des Koblenzer Hauptbahnhofes. Dort gab es damals noch keinen Tunnel zur westlichen Bahnhofsseite und man mußte einen riesigen Umweg gehen, um dorthin zu gelangen. Oder man ging über die Gleise, was natürlich streng verboten war. Ein Bekannter gab mir den Tip, es passiere nichts, wenn man Bahnangestellte, denen man begegnet, mit "Mahlzeit" grüßt. Ich habe das dann einmal probiert und es funktionierte wirklich. Ich glaube, mit dem Gruß "Mahlzeit" könnte man sich auch Zutritt zu einem Atomkraftwerk verschaffen. Entschuldigung, ich bin vom Thema abgekommen.

Meine Freundin sah mich irritiert an. Sie wäre wohl weitergegangen und hätte jede Konversation vermieden. Ich muß Ihnen, auch wenn sie in dem folgenden Gespräch keine aktive Rolle spielte, meine damalige Begleitung kurz vorstellen. Ich habe gerade "Freundin" gesagt, bin mir aber nicht sicher, ob das der richtige Ausdruck ist. Wir kannten uns drei Wochen und befanden uns in der Phase, in der man nächtelang Betten zerwühlt, spontan übers Wochenende an die Ostsee fährt und erst feststellt, ob eine Beziehung daraus wird. In unserem Fall geschah das übrigens nicht, aber das tut ebenso wenig etwas zur Sache wie ihr Name. Der klang englisch, obwohl sie aus einem Ort in der Nähe von Dresden stammte. Dafür konnte sie allerdings nichts. Auch, dass sie unverschämt blond, groß und ungewöhnlich hübsch war, mag ich ihr nicht vorwerfen. Sie studierte im vierten Semester Psychologie.

Der Kauz erwiderte sofort, als habe er sich diese Eröffnung bereits einige Zeit überlegt: "Tolle Braut haste da". Es klang, als hätte er gesagt "schickes Auto fährst Du". Ich stimmte, vielleicht auch, um die Situation nicht noch peinlicher werden zu lassen, zu und bedankte mich. Wir wollten weiter. "Haben Sie eine Zigarette für mich? Die halten uns im Altersheim ziemlich kurz." Als ich ihm Feuer gab, umfasste er meine Hand, um den Wind abzuschirmen. Seine Hände waren tätowiert. Seemannsmotive. Krakelige Namen. Meine Freundin würdigte er keines Blickes mehr, aber sie fand die Situation ganz offensichtlich amüsant.

Ich kann heute kaum mehr nachvollziehen, was uns dazu brachte, uns zu ihm auf die Bank zu setzen und uns fast eine Stunde seine Aufschneidereien anzuhören. War es der Prosecco, den wir zum späten Frühstück getrunken hatten oder die Verliebtheit, die einen auf der Landungsbrücke Pantomime mit Möwen spielen und Liebesschwüre in improvisiertem Kisuaheli machen läßt?

Peter Jensen, so stellte er sich uns vor, und lachte dabei, dass man befürchtete, seine verbliebenen Zähne fielen heraus, berichtete von seiner Jugend mit 8 Geschwistern. Dass sein Vater, ein Kommunist aus Leipzig, von den Nazis umgebracht worden sei. Wie er "rübergemacht" habe in den Westen. Von seiner neuen Bleibe in Hamburg. Und immer wieder von Frauen. Dass es damals in den Siebzigern in St. Pauli noch richtig tolle Frauen gegeben habe (er meinte, so wie meine Freundin, aber nicht so blond, was diese mit einem Blick quittierte, der etwa "Danke auch!" sagte). Dass er sich diese Frauen aber nie habe leisten können und immer bei den abgehalfterten Vetteln gelandet sei. Zweimal habe er geheiratet. Schreckliche Weiber. Stinkend, fett. Eine habe eine dicke Warze am Kinn gehabt. Er beugte sich über meine Freundin zu mir, flüsterte laut vernehmbar in mein Ohr: "Nicht so eine duftende Fee wie die da" und deutete mit dem Zeigefinger auf das Objekt seiner Bewunderung. Sie reichte ihm ein Tempotaschentuch, weil seine Nase lief.

Er betrachtete das vollgeschneutzte Taschentuch nebst Füllung eingehend und erklärte, dass ihm einmal eine Taschentuchfabrik gehört habe. Eine für bestickte Seidentaschentücher. Er habe sich aber als der Nachtwächter ausgegeben, um die Arbeiterinnen besser überwachen zu können. Er sei viel gereist. Nach Moskau in der Puszta und New York in England zum Besipiel.

Wir glaubten dem verwirrten Mann natürlich kein Wort. Auch nicht, als er uns von seiner "verrückten Zeit" erzählte. Dass ihn die alten versoffenen Huren angewidert hätten, aber was soll man machen, "irgendwo muß das Zeug ja hin". Mit denen sei er eigentlich immer gut umgegangen, wenn sie mit ihm in seine Dachwohnung gegangen seien. Hätte sie nur gehauen, wenn er sehr besoffen gewesen sei. Einige Male sei er aber schon böse geworden. Die Gertrude zum Beispiel, die habe nicht gewollt, obwohl er doch schon bezahlt hatte. "Die hat einen schicken Schal aus Gardine gekriegt". Den abgetrennten Kopf habe er nachher auf einer Baustelle versteckt, wo ihn leider Kinder gefunden hätten. Die Ruth. Die sei eine richtige Pennerin gewesen. Mit einem Busch wie ein Ameisenhaufen, so viele Filzläuse seien darin herumspaziert (bei dieser Schilderung zeigten sich bei meiner Freundin doch gewisse Zeichen von Befremden). Nach einer Flasche Chantré habe sie dagelegen, wie ein Brett. Sie habe anschließend in einen blauen Plastiksack gepasst. Auf meine Nachfrage, wie denn das möglich sei, erwiderte er sachlich "Handsäge". Ähnlich verlief die Beschreibung seiner Begegnungen mit Frieda und Anna ("Man schlägt einen Mann doch nicht mit einer Kornflasche, das tut man doch nicht, oder?"). Kein Mensch habe sie vermißt und wenn nicht dieser blöde Brand gewesen sei, und die Feuerwehr nicht das Haus untersucht hätte, wäre das auch so geblieben. So allerdings habe auch sein berühmter Strafverteidiger nicht verhindern können, dass er paar Jahre Urlaub auf Staatskosten habe machen müssen.

Es war frisch geworden. Wir bedankten uns für das nette Gespräch ("Ganz meinerseits, war mir eine Ehre"), ließen ihm noch eine Zigarette da. Auf den angebotenen Abschiedskuss verzichtete meine Freundin. Abends aßen wir köstlichen Heilbutt in Zitronenbutter und giggelten wie die Teenager über unsere skurrile Begegnung. Wir feixten über jede der Lügengeschichten, die uns der Mann mit der krummen Nase aufgetischt hatte und hatten auch sonst einen sehr vergnüglichen Abend. Den Kauz hatte ich vergessen, bis ich eines Tages, es war wohl fünf Jahre später, im "Spiegel" die Nachricht über den Tod von Fritz Honka in der Hamburger Nervenklinik Ochsenzoll las.


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Sie glauben mir die ganze Geschichte nicht? Dann geben Sie mal bei Google die Suchworte "peter jensen" und "scharbeutz" ein. Sie werden ja sehen. Sollte meine damalige Begleitung diesen Bericht lesen oder sie jemand kennen, ich habe nämlich weder Adresse noch Telefonnummer, wäre ich für eine Meldung dankbar. Ich glaube nicht, dass sie je erfahren hat, wen wir damals getroffen haben.

 
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Labude schrieb unter die Geschichte:
Hallo, ich bin neu hier. Diese Geschichte habe ich schon einmal bei einer Verbraucherplattform eingestellt, durch die ich auf dieses Forum aufmerksam geworden bin. Wenn es gefällt, würde ich mich über Anmerkungen freuen. Naja, wenn nicht, dann auch. Sollte ich mit der Kategoriewahl etwas falsch gemacht haben oder sonst irgendeinen Anfängerfehler machen, wäre ich für einen Tipp und für Nachsicht dankbar.
(solche Nachbemerkungen bitte immer in einem separaten Posting unter die eigentliche Geschichte setzen, danke! :) )

Zusätzlicher Hinweis: Die Geschichte ist laut Autor fiktiv, nimmt aber auf tatsächliches, historisches Geschehen Bezug.

 

Ist definitiv gut geschrieben, und ich habe auch mal bei Google geschaut und was gelesen. Wirklich interessant finde ich das Thema nicht, gibt halt ne Menge Verrückter da draussen. Aber Unterhaltungswert hat die Geschichte auf jedenfall.

 

Serienmörder nicht interessant? Ich finde Serienmörder total interessant. Gerade, wenn man sie menschlich macht ...

 

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