Irgendwann muß einmal Schluß sein
Wenn es darum ging, sich für eine Sache zur Verfügung zu stellen, war Kurt zur Stelle. Meist erwarteten die Anderen es schon von ihm. Irgendwo gibt es immer Jemanden, der etwas macht das Andere nicht machen wollen und das war er. Gut für die Anderen. Nicht dass die Anderen faul gewesen wären oder er besonders fleißig. Das war es nicht. Nur versuchten die Anderen, sich ihre Kräfte einzuteilen. Lebenslang. Für ein langes Leben. Er hingegen nahm keine Rücksicht auf sich und seine körperlichen und geistigen Kräfte. Er schöpfte Kraft aus dem, was er tat. Mehr zu tun als Andere schien ihn zu befriedigen und ihm noch mehr Kraft zu verleihen.
Kurt arbeitete als Mitarbeiter der Planungsabteilung und war zudem für das interne Controlling im Unternehmen verantwortlich. Er liebte die Arbeit mit Zahlen, Zahlenreihen und Statistiken und war brilliant im Umgang mit ihnen wie kein Zweiter. Seine mathematisch-fundierten Hochrechnungen und statistischen Auswertungen waren von der Geschäftsleitung anerkannt und Basis für den Erfolg des Unternehmens. Durch ihn wusste man, warum welcher Kunde wann was kaufte und wann er wahrscheinlich wieder welche Produkte des Unternehmens benötigen würde. Er liebte sein Büro. Die klare Raumaufteilung. Schreibtisch, Schrank, Sideboard. Alles in lichtgrau, zeitlos. PC, Magnettafel, Kleiderhaken. Die Pflanzen, pflegeleicht in Hydrokultur. Der Christusdorn, ein Geschenk zur Hochzeit und seit über zwanzig Jahren das ganze Jahr über blühend, daneben zwei immergrüne Pflanzen, die er von seinem Vorgänger übernommen hatte. Vor langer Zeit. Er liebte den Ausblick aus seinem Büro, vierte Etage, Nordseite. Links hinter der Kirche und der Häuserzeile, zwischen der sich lebhaft der Verkehr der Straße ergoß, öffnete sich das Blickfeld auf die sanften Hügelketten des Vorgebirges. Am geöffneten Fenster stehend beobachtete er in der Mittagspause, täglich immer zwischen zwölf und halbeins, den Fluß, der die Stadt in einen südlichen und nördlichen Abschnitt teilte und dessen Verlauf immer wieder durch Brücken unterschiedlichster Bauart unterbrochen wurde. Besonders interessierten ihn die Schiffe, Frachtkähne, die sich unter dem Stampfen der Motoren vollbeladen flußaufwärts quälten, dazwischen weiße Ausflugsdampfer, an deren Deck sich an Sonnentagen fröhliche Menschen tummelten. Manchmal drang gedämpftes Lachen zu seinem Beobachtungsposten, unterbrochen durch die Geräusche der belebten Stadt, ein Gemisch von Tönen und Geräuschen unterschiedlichster Klangfarbe und Herkunft.
Im Büro übernahm er immer wieder die eine oder andere Aufgabe von Kollegen, wenn diese in Urlaub waren, wieder einmal krank oder einfach nur unfähig, ein Projekt selbst zu Ende zu führen. Er tat es gerne und arbeitete gut. Oft behielt er die Arbeiten seiner Kollegen auch dann bei, wenn sie wieder zurück waren, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Die Kollegen waren froh darüber und sagten, dass sie dankbar seien und sie sich eines Tages dafür revanchieren würden. Mit einer kleinen Gefälligkeit oder einfach der Übernahme einer seiner Arbeiten. Irgendwann einmal.
Sein Vorgesetzter schätzte seine Bereitschaft, immer für Andere da zu sein. Er sah es überhaupt gerne, wenn der Laden lief, wie er sich immer ausdrückte. Er lobte seine Kollegialität, die den Zusammenhalt der Gruppe zeigen würde und letztendlich auch oder im besonderen Maß sein Verdienst sei, denn gerade er würde sich immer um Zusammenhalt bemühen. Er war stolz darauf, gebraucht zu werden. Arbeit ist Arbeit sagte er gerne im Kollegenkreis und war nicht bereit, die zusätzlichen Pausen zu machen, die seinen Kollegen immer soviel bedeuteten.
Im Privatleben war es ähnlich. Trotz der vielen Arbeit half er gerne im Haushalt mit, obwohl seine Frau sich darüber wunderte wie er das schaffte, denn sie wusste, mit welcher Akribie und Engagement er seiner Arbeit nachging, welche Kraft diese von ihm forderte. Er machte weit mehr, als sie von ihm erwartete, putzte die Fenster und hielt die Nasszellen, wie er Bad und Toilette nannte, jederzeit in einem einwandfreien Pflegezustand. Sonntags kochte er für die Familie. Er kochte zwar immer dieselben Gerichte, bereitete diese aber mit viel Liebe und Geduld zu, sodaß das Essen zumeist zu einem wahren Festschmaus geriet. Die Küche verlies er nach Stunden in äußerst aufgeräumtem und glänzendem Zustand. Er war penibel darauf bedacht, die Aufgaben, die er sich zuhause selbst übertragen hatte, so gut wie möglich auszuführen. Niemand sollte Grund haben sich zu beschweren. Und es beschwerte sich auch niemand.
Das er die Gartenarbeit niemals seiner Frau überließ war für ihn unausgesprochene Selbstverständlichkeit. „Du sollst Dich nicht abmühen“ sagte er immer zu ihr. Er mähte den Rasen, öfter und zeitiger als es die Höhe des Grases bedurft hätte. Mit größter Sorgfalt schnitt er die Kanten zu den Beeten, rund um die Bäume und entlang des Weges, der oberhalb der Terrasse verlief. Die Büsche und Hecken, die die Grenzen des Grundstückes einsäumten, hielt er auf gleichbleibender Höhe. Er überprüfte den korrekten Schnitt und die Einhaltung der gewählten Höhe mit Maurerschnur und Lot. Nie schien er mit dem Erreichten zufrieden. Oft ertappte ihn seine Frau dabei, wie er abends, nach getaner Arbeit, den Schnitt der Hecken nochmals überprüfte und mit der Handschere hier und da Korrekturen anbrachte. Hier schnitt er einen hervorstehenden Zweig kürzer, dort reduzierte er die Höhe eines Teils der Hecke um ein Mindestmaß, das wohl nur von seinem kritischen Auge wahrgenommen wurde. Die Nachbarn schmunzelten über das Übermaß an Korrektheit bei gleichzeitiger Bewunderung über seine an den Tag gelegte Disziplin, ohne die sie es nur zu Gärten gebracht hatten, in denen die Natur Art und Größe des Bewuchses vorgab.
Im Verlauf der Jahre engagierte er sich immer mehr im Gemeinschaftsleben des Dorfes. Die Verschönerung des Dorfplatzes, dessen zentraler Punkt der mittelalterliche Brunnen das Wahrzeichen und Wappensymbol der Dorfgemeinschaft darstellte, war auf seine maßgebliche Initiative und insbesondere durch seine unermüdliche Arbeit im vorletzten Jahr auf Vordermann gebracht worden: Eine neue Naturstein-Bepflasterung war ausgelegt worden; neben einer Neubepflanzung mit kleinen Birken bereicherten im Takt der Jahreszeiten bepflanzte Blumenrabatte die Idylle. Er hatte Wochenende um Wochenende zusammen mit einigen Helfern die anfallenden Arbeiten erledigt, die vom Ortbürgermeister in einer öffentlichen Feierstunde als herausragende Gemeinschaftsleistung zum Wohle des Dorfes gewürdigt wurden. Mit Wohlwollen und einer gehörigen Portion Bewunderung honorierten Dorfbewohner sowie Freunde seinen Einsatz im Schützenverein und im Dorfverschönerungsverein, dessen Vorsitz er vor einigen Jahren übernommen hatte.
Kurt war nun 55 Jahre alt, hatte eine nette, attraktive Frau und hübsche Kinder, die beide studierten. Miriam wohnte noch zuhause, Marco hatte eine Studentenbude in einer benachbarten Stadt bezogen und ließ sich nur noch alle paar Wochen zuhause blicken. Er schien das Leben zu genießen, erzählte auf der Arbeitsstelle gerne von Haus, Garten, Familie und seinen privaten Beschäftigungen. Zweimal im Jahr gönnte sich die Familie einen gemeinsamen Urlaub. Die Kinder waren immer noch dabei, darauf legte Kurt großen Wert. Im Sommer ging es in ihr Stammhotel an der spanischen Costa Blanca zum Baden und Ausspannen, kurz nach Weihnachten für eine Woche zum Skifahren nach St. Anton, seit nunmehr 25 Jahren in die gemütliche, familiäre Pension gleich neben einem Bauernhof.
Im Urlaub unternahm Kurt nichts. Urlaub ist Urlaub war seine Devise. Der sonst Rastlose machte es sich im Sommerurlaub auf dem Liegestuhl bequem, eingecremt mit Tiroler Nussöl und der neuesten Ausgabe eines deutschen Boulevardblattes auf den Beinen. Er hatte sich ein selbst erteiltes Anrecht auf seinen Liegestuhl am Pool des Hotels genommen, gleich neben dem Pinienbaum, dessen knorpeligen Äste bis an den Pool heranreichten und Kurts Liegestuhl in der Mittagszeit in wohltuenden Schatten tauchte. Kurt las, sah den Urlaubern beim Baden und Tischtennisspielen zu. Gelegentlich ging die Familie geschlossen an den Strand, immer Dienstags, Donnerstags und Samstags sowie am Vormittag ihrer Abreise. Auch hier am Strand liebte Kurt seinen in vielen Urlauben bewährten und eingeschliffenen Ritualen nachzugehen: Eingecremt mit Tiroler Nussöl auf der Liege liegend auf den mittäglichen Schatten, den der große Sonnenschirm von Jorges Liegestühle- und Sonnenschirmverleih warf, zu warten und dabei dem fröhlichen Treiben der Badenden zuzusehen. Silvia hatte es längst aufgegeben, ihn in irgendeiner Weise zu Aktivitäten zu animieren, seitdem er ihr bereits vor Jahren ultimativ erklärt hatte, dass der Urlaub zum Ausspannen da sei und er sich nichts mehr als Ruhe von seinen freien Tagen erhoffen würde. Sportliche Betätigung, sich kulturelle Schätze der Region oder sich die Stadt ansehen, das sei nichts für ihn sagte er immer wieder. Sie hatte dies nie verstanden, musste es letztlich aber akzeptieren und war zusammen mit den Kindern dazu übergegangen, den Urlaub auf ihre Art zu gestalten: Tagsüber gingen sie im Sommerurlaub oft durch die romantischen Gässchen des kleinen pittoresken spanischen Dorfes, außer Dienstags, Donnerstags, Samstags und dem Vormittag ihrer Abreise, denn dann ging es ja gemeinsam mit Kurt an den Strand, wie seit mehr als 25 Jahren. Sie besuchten die Souvenirläden, die mit üppigen Auslagen und Sonderangeboten um Kundschaft zu Touristenpreisen für ihre regionalen Artikel warben, kehrten in die Straßencafés ein, um sich ein cerveza, - ein Bier - , oder einen üppigen copa helado, - einen Eisbecher - zu gönnen.
Im Winterurlaub fuhren sie Ski oder machten es sich im Wellenbad von St. Anton gemütlich. Manches Mal gingen sie shoppen oder genossen abends gemeinsam einen folkloristischen Hüttenabend, während Karl sich tagsüber nur rund um den Hotelpool bewegte und abends früh schlafen ging. An Tagen mit strahlend blauem Himmel und wärmendem Sonnenschein tauschte er Hotelpool gegen den Balkon seines Hotelzimmers und genoss die Wärme, eingewickelt in eine wärmende Decke, sein Gesicht geschützt mit Tiroler Nussöl.
Es war ein Morgen wie er sich seit Jahrzehnten von Montag bis Freitag wiederholte. Es roch nach Kaffee, Silvia hatte den Frühstückstisch liebevoll mit dem guten Porzellan auf ovalen Platzdeckchen gedeckt, Konfitüre, Frühstückseier, Toast und Brot bereitgestellt. Kurt und Silvia saßen am Frühstückstisch, Miriam, die Studentin, lag noch im Bett, sie hatte Semesterferien. Wie jeden Tag genoss Kurt sein 3 ½- Minuten-Frühstücksei. 0,3 ltr. Orangensaft, frisch gepresst und bei 5 Grad 10 Minuten im Kühlschrank gekühlt, dazu Toastbrot mit „Llewelyn´s tangy thin cut marmelade“ und „Wilkin & sons tiptree old times lemon marmelade“, die er vor gut 30 Jahren bei einem Englandurlaub - vor seiner Spanienzeit - in „Miss Yates´ Bed & Breakfast House“ in Surrey kennen- und lieben gelernt hatte und die er seitdem von einem befreundeten Delikatessenhändler aus dem Nachbardorf importieren ließ.
Kurts Blick schweifte durch das Zimmer, hinter Silvias Rücken hing der Kalender, auf dem er bereits die ersten Wochentage durchgestrichen hatte. Montag, Dienstag, Mittwoch, alle fein säuberlich mit dem an einer dünnen Kordel hängenden blauen Filzstift durchgestrichen. Morgen früh würde er den Donnerstag durchstreichen. Die Arbeitswoche wäre erledigt, sobald er Freitag von der Arbeit nach Hause kommen würde.
Kurt liebte Zahlen, Zahlenspiele, Zahlenreihen und Statistiken. Heute war also Donnerstag, d.h. 3/5 der Arbeitswoche waren vorüber, 2/5 waren noch zu absolvieren. Danach würde er 5/7 der Woche mit Arbeit zugebracht haben und hätte noch 2/7 der gesamten Woche vor sich, bevor er eine neue Woche, also 1/52 des ganzen Jahres, beginnen würde. Kurt fixierte den Kalender länger als gewöhnlich.
‘Bald muss es soweit sein. Ich muss es nochmals genau durchrechnen’ durchfuhr es ihn, der ganz gegen seine Gewohnheit vom Frühstückstisch aufsprang und das angebissene Toastbrot mit „Llewelyn´s tangy thin cut marmelade“ unbeachtet zurückließ. Mit fliegenden Fingern durchwühlte er die geöffnete Schublade des Sideboards und zog nach kurzem Suchen einige Blätter Papier, Kugelschreiber und einen großen, flachen Tischrechner aus blauem Plastik heraus. Silvia schaute ihm ruhig aber erstaunt zu. Was war das? So kannte sie ihren Kurt nicht. Lässt ohne Not das leckere Toastbrot liegen, das hatte es noch nie gegeben. Er musste ernste Gedanken haben, irgendetwas musste ihn sehr beschäftigten.
Unvermittelt sagte er: „Hast Du in der Zeitung den Bericht über den Krankenstand in deutschen Unternehmen gelesen? Da steht drin, dass jeder Arbeitnehmer in Deutschland im Durchschnitt 11 Tage im Jahr krank ist. Elf Tage! Unglaublich! Und wie oft war ich in den letzten Jahren krank, Silvia?“
Auf Kurts Gesicht zeigten sich rote Flecken. Ein untrügliches Zeichen dafür, wie sehr ihn dieses Thema beschäftigte.
„Nun Silvia, wieviel?“
Silvia war irritiert.
„Keinen Tag, das weißt Du doch! Du hast doch noch nie gefehlt, in Jahrzehnten nicht, Kurt!“
Kurt setzte sich, sagte nichts. Er schien nachzudenken.
„Weißt Du auch, dass der durchschnittliche Arbeitnehmer erst mit 20,5 Jahren in den Beruf einsteigt? Und weißt Du auch, dass er mit durchschnittlich 59,5 Jahren in Rente geht?“
„Hmm“ antwortete Silvia.
„Was heißt hier hmm? Ist das alles, was Dir dazu einfällt? Hmm!“
Auf seiner Stirn zeichneten sich tiefe Furchen ab, Anzeichen für Kurts aufsteigenden Missmut.
„Hmm! Hmm!“ äffte er Silvia nach. „Das ist alles was sie dazu zu sagen hat. Hmm!“ murmelte er leise vor sich hin.
„Silvia, wenn es so ist was ich vermute, dann ist Schluß. Vielleicht schon heute“ sagte er mit fester Stimme und unterstrich dies mit entschlossener Miene, die Augenbrauen hoch gezogen, die Augen weit geöffnet, die durch Silvia durchzusehen schienen.
Silvia beschloß, sich zurückzuziehen, ihren Mann mit seinen Gedanken allein zu lassen. Kurt hatte keinen Blick mehr für seine Frau, tippte auf der Tastatur des Tischrechners, notierte in kurzen Abständen Zahlen auf das Papier. Silvia beobachtete es mit sorgenvoller Miene aus der Küche heraus, während sie das Frühstücksgeschirr spülte.
„Ah, ich glaube, gleich habe ich es“ hörte sie ihn vor sich hin sagen, „ich glaube, ich bin auf der richtigen Spur“. Der Zeiger der Küchenuhr bewegte sich unaufhörlich auf 8 Uhr zu. Kurt machte keine Anstalten, mit seiner seltsamen Tätigkeit aufzuhören. Auf dem Esstisch lag zerknülltes Papier, Kurt nach vorne übergebeugt, eine Hand tippend auf den großen, gelben Zifferntasten des Tischrechners, dann Ziffern auf das Papier niederschreibend.
‘Heute wird er zu spät zur Arbeit kommen. Das erste Mal in 30 Jahren’ dachte Silvia, die aus der Küche heraus Kurt nicht mehr aus dem Blick ließ.
„Aha! Habe ich es mir doch gedacht! Silvia, komm schnell, ich muss Dir etwas sagen“ rief Kurt lauter als nötig, denn Silvia stand bereits in der Küchentür, da sie gespürt hatte, dass er in Kürze nach ihr rufen würde.
„Es ist Schluß, Silvia. Es ist Schluß! Die ganze Zeit habe ich es geahnt, jetzt weiß ich es: Irgendwann muss einmal Schluß sein. Und dieser Augenblick ist jetzt!“
Kurts Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Rote Flecken, die von Aufgeregtheit und Hektik zeugten, waren einem sanften Lächeln gewichen, das sich über das Gesicht breit machte. Kurt sagte nichts mehr, saß nur still da, die Hände auf dem Tisch - und lächelte.
„Kurt, was ist los?“ Silvia verspürte einen Anflug von Ratlosigkeit und Nervosität.
„Sieh mich an: Du siehst einen Rentner vor Dir! Ja, jetzt ich bin Rentner. Ab sofort!“, sagte Kurt langsam, jedes Wort sorgsam betonend. Und das schöne daran: Ab jetzt bin ich nur noch für Dich da! Jeden Tag! Von Montag bis Sonntag!“
Silvia stand neben dem Wohnzimmertisch, das buntkarierte Spültuch in ihrer Hand, von dem die Tropfen auf den glänzenden Parkettboden fielen. Sie sagte nichts.
„Jetzt bist Du vor Überraschung sprachlos, nicht wahr, mein Schatz? Setz Dich hin, ich will es Dir erklären. Also, seit meinem 16.Lebensjahr arbeite ich. Erst in der Lehre, dann in der Firma. Aber das weißt Du ja alles. Andere beginnen nach der Schule und der Bundeswehr im Durchschnitt erst mit 20,5 Jahren zu arbeiten. Das steht heute in der Zeitung. Hier sieh selbst!“ Kurt haute mit der Rückseite der flachen Hand auf den betreffenden Artikel ‘Deutsche Jugendliche später im Berufsleben’.
„Das ist doch der eigentliche Skandal. Also habe ich bereits 4,5 Jahre gearbeitet, bevor andere überhaupt erst ins Berufsleben einsteigen! Macht also 4,5 Jahre Plus zu meinen Gunsten! Aber das ist noch nicht alles, Silvia. Dann wären da noch die vielen, unbezahlten Überstunden, die ich Jahr für Jahr gemacht habe. Plus Zuschläge. Dazu freie Tage, die mir zugestanden hätten, die ich aber nie genommen habe.“
Kurt blickte auf, hob beschwörend einen Finger auf Kopfhöhe, bevor er belehrend weitersprach. „Bildungsurlaub, Sonderurlaub wegen Geburt der Kinder, Tod naher Angehöriger, Umzugsurlaub. Nach Zahnarztterminen bin ich direkt wieder arbeiten gegangen. Andere haben den Rest des Tages zuhause verbracht und über ihre Phantomschmerzen gejammert. Wenn man das alles zusammenrechnet und von dem Termin der gesetzlichen Verrentung abzieht, kann man nur auf ein Ergebnis kommen. Und was ist das, Silvia? Sprich es aus! Ich will es aus Deinem Mund hören!“
„Du bist Rentner!“
„Genau! Genau so, wie ich es eben bereits gesagt habe! Und weißt Du was?“
Kurt machte eine Pause. „Ich habe es mir verdient. Und zwar redlich. Ich habe das meinige für die Firma und die Gesellschaft getan, jetzt sind andere dran. So wie ich gearbeitet habe, so werde ich auch Rentner sein. Mit vollem Einsatz.“
Kurt hielt Wort.
Ab sofort ging er nicht mehr arbeiten. Morgens um 7 Uhr saß er am Frühstückstisch, Silvia servierte ihm sein 3 ½ - Minuten Frühstücksei. 0,3 Liter Orangensaft, frisch gepresst bei 5 Grad 10 Minuten im Kühlschrank gekühlt, dazu Toastbrot mit „Llewelyn´s tangy thin cut marmelade“ und „Wilkin & sons tiptree old times lemon marmelade“. Er kümmerte sich um die Dinge des Haushalts, die er für verbesserungswürdig hielt. Zuerst organisierte er die Vorratshaltung der Verbrauchsmittel wie er Lebensmittel und Dinge des Haushaltbedarfs wie Spül- und Putzmittel nannte. Notierte das Einkaufsdatum, führte Statistiken über den Verbrauch und teilte Silvia mit, wann sie einkaufen müsse, bevor der Vorrat eines Gutes zu Ende gehen würde. Kurt kontrollierte den Energieverbrauch, indem er täglich den Gas-, Strom- und Wasserzählerstand notierte, schraubte überall Sparglühbirnen ein und achtete auf strikte Einhaltung der Heizzeiten.
Er beendete seine Aktivitäten im Gemeindeleben, zog sich mit sofortiger Wirkung aus dem Dorfverschönerungsverein und Schützenverein zurück. Er war nun Privatier, dies erklärte er jedem mit vollster Überzeugung, der ihn nach dem Grund für seinen Rückzug aus dem Dorfgemeinschaftsleben fragte.
Die Nachfragen seines Arbeitgebers dagegen wurden seltener und weniger eindringlich. Kurt, der früher Unentbehrliche, hatte sich mit einer wie eine Lawine über seinen Arbeitgeber hereinbrechenden Masse an Krankschreibungen aufgrund Grippe, diffusen Magenbeschwerden, nicht zu lokalisierenden Schmerzattacken, Rückenproblemen und Migräneattacken sowie diversen Reha-Maßnahmen aufgrund „burn-out“-Syndrom und psychischen Beschwerden entbehrlich gemacht. Die Krankenkasse hatte längst die Gehaltskosten übernommen und ein Nachfolger seinen Arbeitsplatz übernommen. Der Antrag auf Erwerbsunfähigkeit und frühzeitige Rente lief.
Kurt ruhte sich aus, ging nur seinen selbst gestellten Aufgaben nach. Rente ist Rente pflegte er zu antworten, wenn Silvia ihn zu einer Fahrradtour oder zu einem Spaziergang ermutigen wollte.
So vergingen die Monate. Im Haus änderte sich nichts. Miriam war ausgezogen, Marco stand mit seinen fünfundzwanzigeinhalb Jahren kurz vor dem Examen. Silvia kümmerte sich um den Haushalt, das Haus und die Kinder, wenn diese gelegentlich zu Kurzbesuchen vorbei kamen. Kurt saß am Esszimmertisch, aktualisierte seine Statistiken, stellte mittelfristige Prognosen auf und fertigte langfristige Planungen an.
Silvia kannte ihren Mann und wusste, dass sie ihn nicht würde überzeugen können, irgend etwas anderes zu tun als im Haus zu sitzen und seiner selbst gewählten „Arbeit“ nachzugehen.
Dann geschah das Wunder.
Kurt saß am Frühstückstisch. Biss herzhaft in sein geliebtes Toast, bestrichen mit „Llewelyn´s tangy thin cut marmelade“. Er war ruhiger als sonst. In sich gekehrt. Nachdenklich. Irgend etwas schien ihn zu bewegen. Er kaute langsam, nahm zwischendurch einen kleinen Schluck frisch gepressten und gut gekühlten Orangensaft. Unvermittelt legte er seine Toastscheibe auf den Teller, drehte seinen Kopf in Richtung Küche und rief mit erregter Stimme, lauter als notwendig:
„Silvia, komm mal schnell her. Ich muss Dir was sagen!“
Silvia warf das Spültuch auf die Spüle, trocknete ihre Hände an der Kittelschürze ab und ging mit raschen Schritten zum Esszimmertisch. Kurt saß aufrecht auf dem Stuhl, so, als hätte er einen Stock verschluckt.
„Silvia, setz Dich. Ich habe einen Entschluss gefasst“.
Mit bedächtiger Bewegung und ohne Kurt aus den Augen zu verlieren griff Silvia nach der Stuhllehne und setzte sich behutsam hin.
‘Bitte nicht noch mehr Kontrolle und Statistiken hier im Haus’ durchfuhr sie ein Gedanke. Davon hatte sie genug.
„Was ist los, Kurt?“ Silvias Stimme klang blechern und zerbrechlich.
„Meine Mission hier ist beendet. Hier im Haus ist erledigt, was zu erledigen war. Ich werde mich nun anderen, wichtigeren Dingen, zuwenden.“
Hatte er wirklich gesagt ‘Meine Mission ist hier beendet?’ Bedeutet das, er verlässt das Haus? Heißt das, wieder mehr Freiheit für Silvia? Ihre Gedanken rasten. Konnte das wahr sein?
„Was hast Du vor?“ fragte Silvia leise und zögernd.
„Ich werde mich wieder auf meine Kernkompetenz besinnen und Statistiken erstellen. Bedeutende! Diese werde ich dem Land zur Verfügung stellen. Alle sollen davon profitieren. Du wirst stolz auf mich sein, Silvia.“
„Welche Statistiken?“ fragte Silvia.
„Ich werde die Schiffsbewegungen auf diesem Flußteilstück erstmals wissenschaftlich erfassen. Korrelationen zwischen den Jahreszeiten und dem Aufkommen gewerblicher Fracht- und Personenschiffahrt unter besonderer Berücksichtigung von Standardabweichungen, Streuungen und Varianzen aufzeigen.“
Nur mühsam gelang es Silvia, ihre Freude zu verbergen. Sie bebte vor Glück. Hinter dem Rücken hielt sie die Hände geballt, um ein Lächeln zu unterdrücken.
„Wann geht’s los?“
„Gleich morgen nach dem Frühstück, ab 8 Uhr möchte ich unten am Fluß sein. Du wirst mich ab nun also wieder entbehren müssen. Ich hoffe, dass das nicht so schlimm für Dich ist.“
„Nein, es wird schon gehen.“
Silvia drehte sich um und ging ruhig in die Küche zurück. Hinter ihr fiel die Tür leise ins Schloß. Nun platzte alle Anspannung der letzten Monate aus ihr raus. Sie lachte, leise, unterdrückt, machte einen kleinen Luftsprung vor Freude.
Kurt hörte es nicht. Er saß am Tisch, lächelte und dachte an seine neuen Aufgaben, die ab morgen auf ihn warten würden.
Wieder hielt Kurt Wort.
Am nächsten Tag ging er nach dem Frühstück runter an den Fluß, suchte sich eine ruhige Stelle zwischen wild gewachsenen Sträuchern auf einem großen, von den Wellen des Flusses umspülten Stein. Ab sofort beobachtete er täglich die Schiffe, die den Fluß befuhren. 5 Tage die Woche, Montag bis Freitag. Von 8 bis 17 Uhr. Samstag und Sonntag blieb er zuhause. Wochenende! Still und unbewegt sah er den Frachtkähnen nach, die sich unter dem Stampfen der Motoren voll beladen in langsamer Fahrt den Fluß hinaufquälten. Ihnen entgegen kamen Frachtkähne, die, ihrer Fracht entledigt, in scheinbar müheloser Fahrt den Fluß hinabtrieben. Dazu Ausflugdampfer, kleine und größere Schiffe, meist weiß gestrichen und mit Menschen beladen, die Kurt, am Rand des Flusses sitzend, fröhlich zuwinkten.
Kurt zählte und notierte. Machte einen Strich für jeden flussaufwärts fahrenden Frachtkahn, einen Strich für flußabwärts fahrende Frachtschiffe in einer anderen Spalte. Ergänzte seine Zählung nach den ersten Tagen um weitere Spalten für die weißen Ausflugsschiffe, für Sport-, Ruder- und Segelboote, die besonders an sonnigen Tagen einen Abschnitt des Flusses befuhren. Am Ende seines Beobachtungstages zählte er die Striche zusammen, notierte die Ergebnisse in einer gesonderten Tabelle und führte die bunten Linien der statistischen Verläufe fort. Eines Morgens überraschte er Silvia beim Frühstück mit der Feststellung, dass, wenn er 100.000 Schiffe gezählt haben würde, er seine Arbeit beenden würde. Aus gutem Grund.
„100.000 Schiffe, das ist eine maßgebliche signifikante Größe für eine belastbare Aussage über den Schiffsverkehr auf unserem Fluß. Mit dem einhunderttausendsten Schiff werde ich meine Arbeit beenden! Und ich meine es auch so: 100.000 und kein Schiff weniger. Ich will unbestechlich und so genau wie irgend möglich sein. So wie man es seit jeher von mir kennt! Wenn der derzeitige Trend anhält, werde ich zu diesem Zeitpunkt auch das gesetzliche Rentenalter erreicht haben. Zeit, meine Arbeit einzustellen.“
Silvia hörte seinen Ausführungen wortlos zu.
Kurt ging weiter seiner „Arbeit“ nach, beobachtete und zählte die Schiffe, die den Fluß hinauf- und hinabfuhren.
Jahre waren vergangen, wieder einmal war der Winter ins Land gezogen und mit ihm eine fiebrige Erkältung, die Kurt seit Tagen quälte. Er hustete, seine Bronchien schmerzten mit jeder Hustenattacke, die Glieder taten bei jeder Bewegung weh. Silvias fürsorgliche Pflege mit dem Bereitlegen von warmer Wäsche und dem Verabreichen von Hustenstiller und diversen Kräutertees half nur wenig. Ihr Angebot, seine Tätigkeit am Fluß für ein paar Tage zu übernehmen, damit er sich erholen könne, wurde von ihm nur mit einem Stirnrunzeln und einem Kopfschütteln beantwortet. Undenkbar für Kurt. Er würde nie weichen, bis er seinen Auftrag erfüllt haben würde.
Wie jeden Tag ging Kurt hinunter zum Fluß. Körperlich geschwächt, aber fürsorglich gekräftigt mit einem reichhaltigen Frühstück, bestehend aus einem 3 ½- Minuten-Ei. 0,3 ltr. Orangensaft, frisch gepresst und bei 5 Grad 10 Minuten im Kühlschrank gekühlt, dazu Toastbrot mit „Llewelyn´s tangy thin cut marmelade“ und „Wilks & sons tiptree old times lemon marmelade“. Der Tag begann ungewöhlich kalt und dunkel. Silvia war froh, heute nicht vor die Tür treten zu müssen und ging ihrer Arbeit im Haus nach. Grau waberte der Morgennebel am Fluß, gab kaum den Blick auf die Schiffe frei, die an diesem dunklen Tag wie lautlos an Kurt vorüberzogen. Das Thermometer war mehrere Grad unter den Gefrierpunkt gefallen. Noch ein paar Grad weniger und der Schiffsverkehr müsste eingestellt werden. Erstmals seit vielen Jahren.
Stunden später.
Silvia war gerade dabei, das Abendbrot vorzubereiten, so wie Kurt es gerne mag, als es an der Haustür klingelte. Schlagartig überkam sie die Vorahnung, dass dieser Tag ihr Leben verändern würde. Langsam legte sie das Küchentuch auf die mattglänzende Spüle und stellte mit Verwunderung fest, dass ihre Hand zitterte. Durch das Butzenglas der hölzernen Haustür sah sie zwei Männer mit Mützen, die sich nach dem zaghaften Öffnen der Tür als Polizisten des hiesigen Reviers vorstellten. Silvia ahnte, was nun kommen würde. Zu oft hatte sie eine solche Situation in ihrer geliebten Vorabendsendung „Die Wache“ gesehen.
„Ist was mit Kurt?“ entfuhr es ihr leise. Sie klammerte sich an den Türrahmen, suchte einen Halt, den ihr niemand mehr würde geben können und den sie auch an dem kalten, glatten Holz nicht finden konnte.
„Es tut uns leid. Spaziergänger haben ihren Mann leblos am Ufer des Flusses gefunden. Offensichtlich hatte er einen Schwächeanfall und ist erfroren.“
Ihre Augen füllten sich mit feuchten Tränen und vernebelten augenblicklich ihren Blick. Mit einer Hand wischte sie diesen Schleier beiseite und sah, dass der Polizist etwas in der Hand hielt, das sie kannte. Kurts Buch, das er Jahr für Jahr Tag um Tag an den Fluß mitgenommen hatte um in ihm alle seine statistischen Werte einzutragen.
„Das hier wollen wir ihnen geben. Diese Kladde hielt ihr Mann fest in seiner Hand als er gefunden wurde. Es schien ihm wichtig zu sein.“
Silvia nahm das Buch an sich, drückte es fest an ihre Brust und schloß die Augen, um ihre Kräfte für einen kurzen Augenblick zu sammeln. Dann begann sie, Seite um Seite umzuschlagen, suchte den letzten Eintrag in der Hoffnung, dass er ihr etwas über Kurts letzte Sekunden sagen, ihr Trost spenden könne. Endlich schien sie diese Seite gefunden zu haben, denn es gab keine weiteren Einträge mehr auf der gegenüberliegenden Seite. Auch die Folgeseiten waren unbeschrieben.
Diese Seite war aufgeteilt in mehrere Spalten, Zahlen waren aneinandergereiht, Striche am Ende jeder Zeile zu einer Zahl zusammengefasst. Alle Zahlen und Zeichen standen offensichtlich in irgendeiner Verbindung, die sie in ihrer Aufgeregtheit nicht zu deuten wusste. Ganz am Ende der Seite sah sie einen Eintrag, der nicht zu den anderen Zahlen zu passen schien und dennoch die Verbindung, ja, der Ausfluß aller anderen Zahlen und Strichen war. Mit seiner säuberlichen Schrift hatte Kurt den letzten Eintrag gemacht, ihn mit einem dicken Filzstift umrandet: „100.000“
Silvia klappte das Buch mit einer bedächtigen Bewegung zu und schloß die Tür hinter sich, ohne noch einen weiteren Blick auf die Polizisten zu werfen.