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Irgendwo in einer Behausung stecken

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17.12.2007
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Irgendwo in einer Behausung stecken

Klau|s|ens

IRGENDWO IN EINER BEHAUSUNG STECKEN

Manche Leute stecken in einer Wohnung wie andere in einer Haut. Oder beides. Mirjaka hatte sich jetzt genau zwei Wochen regelrecht versteckt. Kein Telefonklingeln ließ sie erweichen.

Sie lag in ihrem Zimmer, alles war abgedunkelt, und Mirjaka dämmerte zwischen abgegessenen Joghurtbechern und leeren Orangesaftpacks vor sich hin. Es stank, weil das Fenster nicht geöffnet war. Neben ihr lag ein Fotoalbum, geöffnet. Wenn man von der Zimmerdecke nach unten geschaut hätte, wären einem die Bilder von Vater und Mutter, von zwei Brüdern und vier Schwestern nicht entgangen. Dazu das Haus. Was ging nur in Mirjaka vor?

Sie drehte sich leicht zur Seite, stöhnte etwas auf, und zog sich dann mit der einen Hand eine schon angebissene Salami von einem Brettchen heran, um dann in diese hineinzubeißen. Leider war die Haut nicht ganz abgezogen, und so spuckte sie aus.

Sie hatte zuviel heruntergeschluckt, in ihrem ganzen Leben. Darüber dachte sie nun nach. Sie war eine von sieben Geschwistern, und sie war die erfolgreichste. Das hörte sich komisch an, aber es hatte eine Wahrheit. Denn auf einem Papier stand "Doktor Geologie" (nicht Doktorin) - und sie war sowieso die einzige, die studiert hatte.

Ihr deutscher Freund, Martin, hatte immer gesagt: "Das wird dir noch Schwierigkeiten bereiten!" Sie konnte damals nur lachen, weil sie keinen Verstand von solchen Dingen hatte. Heimatstadt und Familie wurden zur glorifizierten Einheit ihres Lebens. Dabei waren alle eingewandert, einst, aus der Ukraine.

Sie aber lag weit weg in München in ihrer abgedunkelten Wohnung und fühlte sich sehr unwohl. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Körper Minute um Minute ein Gramm mehr zusetzte, und dass sie bald wie eine runde, gallertartige Kugel aussehen würde, vor der sich alle Menschen trefflich ekeln. Wieder biss sie in die Salami.

Was ist denn nun vorgefallen, fragte Freundin Sabine? Die Stimme von einst klang jetzt im Innern von Mirjaka nach. Dann kam der eine Tag kam, als man ihr den Doktortitel überreicht hatte. Das war an der Universität Köln gewesen: Ihre Eltern, die eine große Metzgerei in Bonn gekauft hatten, nach langen mühevollen Jahren voller Arbeit, ihre sechs Geschwister, dazu Martin, von dem sie dachte, sie würde ihn lieben – und zudem noch Sabine als gute Freundin – und Kisma, die Türkin, als andere gute Freundin, die waren alle dabei gewesen. Danach Essen am Rhein. Der weite Blick. Diese Ahnung. Ihr Leben.

Aber von diesem Tag an war alles anders gewesen. Die einzige Stelle, die es für eine Doktorandin der Geologie gab, das war die Stelle in München. Sie musste bei einer Firma anfangen, die sich mit Erdwärme unter dem Namen SYSKONTHERMIL bekannt gemacht hatte.

Sie empfand ihre Arbeit als sehr langweilig und konnte schon bald von Projekten gar nichts mehr hören. Martin kam mal am Wochenende rüber, 550 Kilometer. Aber wenn die beiden zusammen saßen, langweilten sie sich nur. Ihre Liebe war überaus fad. In ihr regte sich nichts, wenn sie ihn küsste. An Streicheln war gar nicht zu denken. Niemand wusste zu sagen, wer eigentlich schuld an allem war: ihre Arbeit, ihr Verhalten, ihr Umzug ?

Ihre Eltern gingen ihr durch den Kopf, während sie mühsam weiter an der Salami kaute. Ihre Mutter Ludmilla, die eigentlich immer nur Hausfrau und Metzgersfrau gewesen war: Den Laden gab es immer noch. Und dann Victor, ihr Vater, der sie damals mit einer der größten Schultüten Bonns zum ersten Schultag in die Grundschule St. Anna begleitet hatte.

Aber sie lag auf dem Boden, auf einer Matratze, und sie fühlte, wie sie immer dicker, träger und übellauniger wurde. Das Telefon klingelte, aber sie ging wieder mal nicht dran. Etwas in ihrem Leben saß falsch, aber sie wusste nicht, was. Sie vermisste Kirschbäume, die sich im April blühend öffneten. Sie vermisste den Rhein, der sich breit durchs Land wälzte. Sie sehnte sich auch nach der Ukraine, die sie kaum kannte. Ein Traumland. Ach ja, sie vermisste einiges. Sie wusste gar nicht mehr, was.

Je länger sie dalag, in München, einem dialektal fremden Raum, in einer Wohnung im vierten Stock, in einem dieser etwas klotzähnlichen Häuser, Bauten aus den 70ern, in der Karl-Marx-Straße, desto mehr wurde ihr klar, dass etwas nicht stimmen konnte. Wieder blickte sie auf die Fotos, es war ein ledergebundenes Album, auch das hatte man ihr geschenkt, als sie nach der "Erlangung der Doktorwürde" (wie Vater sagte) von jener Stelle in München geschwärmt hatte.

Vorne lag etwas lose in dem Album. Es schien die Schrift des Vaters zu sein: Ein Blatt war es, locker gebunden, und dann stand da in lateinischer, nicht kyrillischer Schrift: "Hiermit vermache ich meinen Besitz und alle meine Güter zu gleichen Teilen an meine Kinder." Es folgte die Aufzählung der Kinder Namen für Namen. Dann aber stand da ein weiterer Satz: "Meiner lieben Tochter Mirjaka möge aber das elterliche Haus alleine gehören, sofern sie sich entschließt, wieder in unserer schönen und jetzt endgültigen rheinländischen Heimat zu wohnen und zu arbeiten." Sie war etwas geschockt. "Anderenfalls wird Dimitri (von uns genannt "Dieter") als mein ältester Sohn diese Pflichten übernehmen".

Es schien sich hier um eine Art Testament zu handeln, oder zumindest um einen Entwurf, und das machte sie doch ganz und gar unruhig. Sollte es wirklich so sein, dass sie keinen Zugriff auf das Haus haben würde, wenn sie in München bliebe, wo sie sich doch so unwohl fühlte? War es nicht unwichtig, wer den Erstzugriff auf das Haus haben würde? Vater war erst 63, Mutter war 59. Da gab es noch Jahre Zeit. Aber Mirjaka merkte nun, wie alles in ihr wühlte.

Das Haus. Eigentlich hatte sie sich immer vorgestellt, dass sie mit Martin dort würde wohnen können, im zweiten Stock, dazu der große Garten. Die Metzgerei würde wahrscheinlich von Olga weitergeführt werden, die ja auch ihren Meisterbrief machen wollte. Aber das Haus! Das Haus ihrer Jugend! Sie stand auf, sie lief in ihrem Zimmer herum. Links, rechts, 5,20 Meter, 4,30 Meter, hin und her.

Wieder klingelte das Telefon. Vielleicht zum siebten oder achten Mal an diesem Mittwoch. Jetzt ging sie auf einmal dran. Und es war Martin, der sich nach mehreren Wochen Nichtsehen meldete: "Ich mache mir Sorgen", sagte er nur kurz. "Etwas stimmt nicht. Geht es dir gut?"

Da rannen ihr die Tränen von den Backen. Es war etwas von dem, was ihr fehlte. Das spürte ihr Herz, und etwas später auch ihr Verstand. "Martin!" hauchte sie nur, dankbar, weinend, gefühlig, glücklich - aber dann hängte sie ein, als wäre sie von sich selber nicht überzeugt.

Es klingelte erneut, sie nahm auch ab … und die Mutter war dran, auch sie schluchzend, vielleicht hatte sie auch richtig geweint. Nun bat sie Mirjaka, doch bald zu kommen, sie sei nun schon 6 Wochen nicht mehr Zuhause gewesen. Mirjaka fühlte das schlechte Gewissen aufsteigen, und hängte ein. Wieder ging das Telefon, das war der Bruder Dieter. An diesem Tag klingelte es wieder und wieder, und immer ging sie ans Telefon, als hätte sie auf alle diese Anrufe nur gewartet.

Auch Freundin Sabine war dabei, die ehemalige Mitstudentin Katrin, dann zwei andere ihrer sechs Geschwister, und alle machten ihr Druck, sie solle doch wieder nach Hause kommen. Aber sie selbst lag da im Halbdunkel, hatte das Licht wieder gelöscht und dachte über das Testament nach, das handgeschriebene, bzw. über den Entwurf. Sollte es wirklich so sein, dass ihr Vater sie zur Haupterbin machen wollte, zur Lenkerin und Bestimmerin? ... dass sie aber diejenige sei, die am Ende in München säße, ausgeschlossen von allem, von den Bonner Ereignissen, von der Familiendynamik?

Das machte ihr sehr zu schaffen, und man sah sie schon packen, ja, sie stand auf, sie zog die Rollladen ein kleines Stück hoch, und dann packte sie in Windeseile ihre Tasche. Sie wollte nun einfach abfahren, Hals über Kopf, einfach weg aus München und zurück zu den ihr Lieben. Es dauerte nun alles gar nicht lange: Nach knapp einer Stunde war sie reisebereit. Sie nahm sich sogar ein kostspieliges Taxi und stieg dann in München Hauptbahnhof in den Zug, der sie mit 1 x Umsteigen zurück nach Bonn bringen würde.

Mit dem Handy rief sie an, noch aus dem Zug. Sie würde kommen, und dann würde sie für immer noch Bonn kommen. Für immer!!! Da war auf einmal ihr Vater dran, am Telefon, und freute sich sehr. "Dann hat es ja doch funktioniert", rief er. Und sie verstand so schlecht im Zug, rief: "Was denn? Was hat funktioniert?" – "Nun mit dem meinem vermeintlichen Testament: Wir wussten doch, dass du darauf anspringst."

Und da weinte sie, erst erleichtert, dann erbost, verloren und wieder aufgenommen. Was wäre, wenn wirklich Dieter, also Dimitri, das Haus übernähme – und nicht sie selbst? dachte Mirjaka … und sie ballte ihre Fäuste, an denen Fettspuren der Salami klebten. Der Zug fuhr weiter. Sie musste nach Hause.

 

Hallo klausens,

ich bin etwas unschlüssig, was deine Geschichte angeht. Das Thema sagt mir durchaus zu, aufbrechen ohne anzukommen, die Frage, wo man eigentlich zuhause ist und woran sich das festmacht.

Für mich wird die Umsetzung dem Thema allerdings nur teilweise gerecht. Sehr viele entscheidende Aspekte reißt Du an (durch den Job zum Umzug gezwungen, Trennung von der Familie, Fernbeziehung, Druck, den die Daheimgebliebenen aufbauen etc.), vertiefst sie aber nicht, so dass die Geschichte für mich stellenweise an der Oberfläche bleibt. Was für Erfahrungen hat Mirjaka z.B. in München konkret gemacht?

Insbesondere die Sache mit dem Haus hat mich irritiert, fast sogar geärgert. Erkennt Mirjaka nicht, dass ihr Vater sie hier unter Druck setzt? So wie du es beschreibst, ist das Haus tatsächlich der ausschlaggebende Grund, zurück zu gehen. Da schätzt der Vater seine Tochter offenbar richtig ein: die Familie zieht sie nicht zurück, versprochener Besitz aber sehrwohl. Da frage ich mich, was schlimmer ist: die Einstellung der Tochter oder der Versuch des Vaters, auf diesem Wege ihre Rückkehr zu erzwingen? Vielleicht wolltest Du all das so ausdrücken. Dennoch denke ich, dass Du das Thema auch ohne die Hausepisode hättest umsetzen können, oder die Botschaft "Besitz ist oft wichtiger als geliebte Menschen" zumindest sensibler anpacken können.

Liebe Grüße
Juschi

 

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