IRONIE
Er und sie waren drei lange Jahre zusammen gewesen. Alles hatten sie geteilt. Freud und Leid gleichermaßen. Nichts hatte sie erschüttern können. Unter ihren Freunden waren sie allgemeinhin als „das Dreamteam“ bekannt gewesen.
Und doch hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Sie war 16 gewesen, als alles begann, er schon 19. Sie war Schülerin; er zeichnete Vorlagen für neue Autos. Sie war Realistin; er Visionär. Sie war eine erfolgreiche, strebsame Schülerin; er fand in seiner Kunst besondere Befriedigung. Auch wenn er nicht arbeite, zeichnete er oft. Portraits, Comics, Möbel, Kleidung. Jeden Tag, zu jeder Zeit, trug er mindestens einen Bleistift mit sich herum. Meistens, wenn er zeichnete, hörte er Musik, ließ sich von ihr inspirieren und beflügeln. Sie hingegen schien verliebt in ihre Bücher zu sein. Wenn sie einmal kein Schulbuch zum Lernen in der Hand hatte, trug sie fast sicher einen Roman mit sich. Für sie waren Worte die ehrlichste Art, Gedanken und Emotionen zu definieren und zu beschreiben. Er hingegen sagte immerzu: >>Kunst und Musik fangen da an, wo Worte enden.<<
Aber so verschieden sie auch sein mochten, sie beide verband ihr Hang zur Romantik und Träumerei. Schon zu Beginn ihrer Beziehung hatten sie ein gemeinsamen Traum geträumt und schließlich zu dem Ziel gemacht, dass sie um jeden Preis in die Tat umsetzen wollten: Eine Reise um die Welt, sobald sie mit der Schule fertig war. Immer wieder redeten sie darüber, schmiedeten und verwarfen Pläne, überlegten sich Routen und sparten jeden Cent. Er war enthusiastisch wie immer, wollte möglichst viel in möglichst kurzer Zeit sehen, weil er glaubte, die Anblicke, die Lehren, die Eindrücke und Empfindungen, die er so bekommen würde, würden ihn zu einem glücklicheren Menschen machen. Ihr hingegen ging es viel mehr darum, für eine sehr lange Zeit mit ihm allein zu sein, all diese Eindrücke mit ihm zu teilen und dem Stress des Alltages für einen gewissen Zeitraum zu entfliehen.
Sie war jedoch oft von Zweifeln geplagt, glaubte irgendetwas würde schief gehen, was auf ihren Realismus, der manchmal schon an Pessimismus grenzte, zurückzuführen war.
>>Was tun wir, wenn an unserem Auto etwas kaputt geht, was bei so einer Reise ja nicht auszuschließen, schon fast wahrscheinlich ist, und wir kein Geld mehr haben, um es zu reparieren?<<, fragte sie.
Er hingegen war Optimist und nahm alles sehr gelassen. >>Nun, dann gehen wir eben ein bisschen arbeiten, nehmen irgendeinen Aushilfsjob an und schlafen im Wagen.<<
>>Und was ist, wenn wir gerade in Sibirien sind? Willst du dann auch im Auto schlafen?<<
>>Nein, dann nehmen wir uns ein Zimmer in einem Motel. Dann müssen wir zwar länger arbeiten, aber es ist wärmer als im Auto. Außerdem kannst du jetzt noch gar nicht wissen, ob das Auto tatsächlich in Sibirien kaputt geht, also brauchen wir uns auch keine Gedanken darum zu machen<<, antwortete er leichthin.
>>Doch, das müssen wir<<, stellte sie klar. >>Eine Weltreise ist kein Kurztrip. Soetwas lebt von Planung, von Koordination, von Vorbereitung. Bei deiner Einstellung kommen wir keine zweitausend Kilometer weit!<<
>>Es gibt für alles eine Lösung und wir beide sind in der Lage, die richtigen Lösungen für die richtigen Probleme zu finden, wenn es nötig wird. Vertrau mir. Solange der Tod nicht kommt, um uns zu holen, wird schon alles gut gehen.<<
Und so hatte er es stets geschafft, sie wieder fröhlich zu stimmen. Sie hatte ihm geglaubt.
Sie genoss jeden Tag mit ihm und ihre Liebe kannte keine Grenzen. Sie freute sich auf die Reise, konzentrierte sich aber unbeirrt auf ihre Arbeit in der Schule, obgleich der Termin immer näher rückte. Sie hatte zwar nicht sonderlich viel Geld, aber sie hatte das Gefühl, alles zu haben, was sie brauchte. Den jungen Mann den sie liebte, eine erfolgversprechende Zukunft, aufgrund ihrer guten Noten und ihrer Leistungsbereitschaft, Freunde auf die sie sich verlassen konnte und eine Mutter, die hinter ihr stand, selbst wenn sie die Meinung ihrer Tochter nicht teilte. Sie war zufrieden.
Er erwiderte ihre Gefühle im gleichen Maße, doch er fieberte immerzu auf dem Beginn ihrer Reise hin. Er versprach sich davon, die schönsten und wertvollsten Momente seines Lebens zu erleben. In den letzten Wochen vor der Abreise wurde er immer nervöser, aufgewühlter und er war ein bisschen wie ein Kind, das an Heiligabend auf den Weihnachtsmann wartet. Keiner seiner Freunde oder Verwandten hatte je eine Weltreise unternommen und es erfüllte ihn schon jetzt mit Genugtuung, dass er bald Dinge gesehen und gemacht haben würde, von denen sie weiter nur träumten.
Als der Tag endlich gekommen war, wartete er in seinem Auto an ihrer Schule. Sie war nun 19 und er 22 und er fühlte sich dazu bereit allen Problemen dieser Welt zu trotzen. Nicht das er je große Probleme gesehen hätte, aber er hatte die Streitgespräche natürlich nicht vergessen. Er war weiterhin überzeugt, dass alles gut gehen würde und selbst wenn etwas schief ging, es würde sich schon wieder zum Guten wenden. Als er am Morgen seine Taschen im Kofferraum verstaut hatte, war sein Vater zu ihm gekommen, um sich zu verabschieden.
>>Pass auf dich auf, mein Sohn<<, sagte der Vater, mit einer gewissen Schwermütigkeit und schloss den Sohn in seine Arme.
>>Natürlich. Ich schreibe dir Postkarten von all den schönen Orten, an die ich reisen werde.<<
>>Aber vergiss nie, was das wirklich schöne in deinem Leben ist, was wirklich wichtig ist. So strahlend und schön einige Bauwerke, erschaffen durch Menschenhand, vielleicht sein mögen; sie können nie die Schönheit des Unsichtbaren überflügeln<<, mahnte der Vater und lies seinen Sohn schließlich los, der ohne weiter über die Worte seines Vaters nachzudenken, losfuhr.
Er warte an ihrer Schule und freute sich, dass ihrer Reise nun nichts mehr im Wege stand. Sie würden gleich zu ihr nach Hause fahren und ihre Taschen holen. Sie würde sich verabschieden und dann würden sie all das hier hinter sich lassen. Als schließlich die Schulglocken ertönten und die Schüler aus dem Gebäude strömten, blickte er sich sehnsüchtig nach ihr um.
Dann sah er sie und sie sah ihn. Ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte, während sie die Straße überquerte und seins erstarb, als er die quietschenden Reifen eines bremsenden Autos hörte, sah wie es sie traf und fortriss. Er stürzte aus seinem Wagen, lief auf sie zu, hob sie vom Boden in seine Arme und Tränen traten in seine Augen.
Ihr Haar war blutverklebt und ein Bein seltsam verdreht. Ihre Augenlieder flatterten,doch sie rang sich ein Lächeln ab. >>Du hast verloren, mein Schatz<<, sagte sie. >>Meine Zweifel waren berechtigt, nun ist der Tod doch gekommen. Ich liebe dich.<<
Bevor er antworten konnte, hörte ihr Herz auf zu schlagen. Seine Welt zerbrach und ganz plötzlich merkte er, dass er alles Glück des Lebens schon so lange gehabt hatte; ganz plötzlich verstand er die Worte seines Vaters. Sie war diese Schönheit, dieses Glück gewesen, das so lange bei ihm gewesen war. Was für ein Narr er war gewesen, diese Tatsache zu übersehen. Er brauchte das Glück nicht draußen in der Welt zu suchen. Nun hatte er es für immer verloren und nie würde er sich selbst verzeihen.