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It's all over

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04.12.2004
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It's all over

It’s all over.


Der Tag war klar, man konnte die Umrisse am Horizont deutlich erkennen. Es war noch ziemlich kühl, es war ja noch früh am Morgen. Es lag dieser frische Duft in der Luft, der den neuen Tag ankündigte. Eine schwache Brise wehte Erik ins Gesicht, und er atmete tief ein.
Der Flugplatz war fast menschenleer, wie er es meistens war. Es war ja auch nur ein kleiner Freizeit-Flugplatz, wo einige Privatleute sich trafen, um mal wieder ein paar Runden in der Luft zu drehen, oder ein paar waghalsige Fallschirmspringer aus 10.000 Meter Höhe in das Nichts springen zu lassen.
Erik war kein Pilot, obwohl er es gerne gewesen wäre. Die Vorstellung alle drei Dimensionen zu beherrschen gefiel ihm. Außerdem durfte man nicht vergessen, welches Ansehen Piloten genossen: das war kein Beruf oder Hobby wie jedes andere. Piloten, das waren die seltenen Exemplare, die sich ihren Kindertraum erfüllt hatten. Sie trugen schöne Uniformen, sie kannten die Welt aus der Vogelperspektive.
Erik hatte auch seine Träume, doch im Gegensatz zu den Piloten blieben seine Träume einfach nur Träume.
„Du brauchst Träume um ein lebenswertes Leben führen zu können“, hatte Marla ihm gesagt. Aber was war das Leben wert, wenn der Traum das einzig Schöne daran war. Er wollte einschlafen, und am liebsten nie wieder aufwachen müssen.
Marla. Sie war die einzige für die es sich lohnte aufzuwachen.
Wenn sie bei ihm war, konnte er vorübergehend vergessen, was er alles nicht erreicht hatte. All das vergessen was er sein wollte, aber nicht war. All die Stimmen in ihm unterdrücken, die auf ihn einhämmerten, ihm sagten „Du kannst viel mehr, Du bist faul, treibe mehr Sport, lese mehr, bilde Dich …“
Die beiden hatten sich bei einem Konzert kennen gelernt. Vielmehr nach einem Konzert, als die meisten Gäste schon gegangen waren, Helfer schon anfingen, die Stühle zu stapeln und wegzufahren. Die Sängerin und der Pianist, die das Konzert gegeben hatten, waren zurück auf die Bühne gekehrt, also wollten sie die Atmosphäre noch einmal aufsaugen, doch ohne die vielen Blicke der erwartungsgeladenen Zuschauer. Der Pianist spielte ein paar Akkorde, langsam, andächtig, und die Sängerin stimmte nach einiger Zeit mit ruhiger, sanfter Stimme ein.

Lover, there will be another one
Who'll hover over you beneath the sun
Tomorrow see the things that never come
Today

Marla und Erik waren sitzen geblieben und lauschten andächtig der unerwarteten Darbietung. Trotz der Geräusche einklappender Stühle waren beide seltsam von der Musik ergriffen worden und betraten eine andere Welt, voller Ruhe, voller Wohlgefallen. Nachdenklich, melancholisch saßen sie da, bis sich ihre Blicke kreuzten.
So hatten sie sich kennen gelernt, zufällig, jenseits des Alltags.
Diesen Alltag konnte Erik vergessen, wenn Marla in seiner Nähe war. Sie gab ihm Selbstvertrauen, Bestätigung, bei ihr fühlte er sich gut. Sie gab ihm Liebe, und er konnte sie erwidern.

When you see me
Fly away without you
Shadow on the things you know
Feathers fall around you
And show you the way to go

Er saß mittlerweile in dem kleinen zweimotorigen Propellerflugzeug, zwei weitere Männer und eine Frau mit ihm im kleinen Laderaum. Das Flugzeug war vor einigen Minuten gestartet. Die anderen schienen aufgeregt, unterhielten sich lebhaft. Erik beteiligte sich nicht am Gespräch und hing seinen eigenen Gedanken nach. Er dachte an seine erste Begegnung mit Marla, damals in der Konzerthalle, sie beide und die Musiker, diese unbeschreibliche, merkwürdige Atmosphäre. Als würden sie ein Geheimnis teilen, das sie verband und zu Komplizen machte. Komplizen im ewigen Kampf um einen eigenen kleinen Platz in der Welt.

Nestled in your wings my little one
This special morning brings another sun
Tomorrow see the things that never come
Today

„Wir erreichen die 10.000 Meter, in 30 Sekunden sind wir über dem Absprunggebiet, macht euch bereit!“, rief der Pilot über die Schulter zu den vier Insassen im Laderaum. Sofort standen alle auf, überprüften die Gurte ihrer Fallschirme und tauschten ein letztes Mal bedeutungsvolle Blicke aus.
Einer der Männer machte die Luke auf, warf noch einen Blick in die Runde, sprang und verschwand. Dann sprang der zweite.
Die Frau bewegte sich zur Luke, blickte Erik an: „Wir sehen uns!“, und verschwand ihrerseits.
„Wir sehen uns“. Das war das letzte was er von Marla gehört hatte, gestern, im Krankenhaus, als er sie zum letzten Mal besucht hatte. Sie sah so schwach aus, und doch schien noch so viel Leben in ihren Augen zu sein.
Kurz darauf war sie gestorben. Ein seltener Virus, gegen den kein Kraut gewachsen sei, meinten die Ärzte.
Erik war wieder allein, im Laderaum, in seinem Leben. Er holte seinen Walkman hervor, drückte die Play-Taste. Ein paar andächtige, langsame Akkorde auf einem Klavier, dann eine ruhige, sanfte Stimme.
Erik schnallte seinen Fallschirm ab, drehte die Lautstärke voll auf, und sprang.

When you see me
Fly away without you
Shadow on the things you know
Feathers fall around you
And show you the way to go
It's all over, it's all over.

 

Hallo b0rt,
WOW! Ich bin immer noch ganz platt. Solche traurigen Geschichten ziehen mich richtig in ihren Bann. Es war vorzusehen, dass irgendetwas schlimmes passiert. So traurigschön!
Kann das sein, dass du romantisch bist? :D Bin ich auch und mir hat die Art und Weise wie sich die zwei kennengelernt haben richtig gut gefallen. Etwas unrealistisch, aber in solchen Dingen drück ich gerne mal ein Auge zu. Oder auch zwei ;) . Ich finde es schön - nein, viel mehr als schön -, dass Erik so weit in seiner Liebe geht und dass er sich genau an das Lied erinnert, das die beiden zusammengeführt hat.
Ich hoffe, dass es dir nicht so geht, wie Erik!
Liebe Grüße,
Agi

 

Hi Agi !

Freut mich dass die Geschichte Dir gefallen hat.
Mir selbst geht es nicht so, Gott sei Dank. :)
Die Geschichte hab ich so aus einer momentanen Stimmung geschrieben, die entstanden ist, als ich dieses Lied gehört habe, für diejenigen die es interessiert, es war das Lied Nummer 7 (Birds) auf dem Album "out here, in there" von Bugge Wesseltoft and Sidsel Endresen. Es hat mich sofort eingenommen, und ich habe es auch beim Schreiben immer wieder mal angehört.
Du hast Recht, das kennen lernen der beiden ist unrealistisch, aber darum gehts ja auch primär nicht.
Danke für das Lob,

Gruss,
b0rt

 

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