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Ivana Sajko: Familienroman - Die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus

Monster-WG
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Ivana Sajko: Familienroman - Die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus

Familienroman? Aus Kroatien? Über fünfzig Jahre? Oh nein, ich kenne den Plot: Einer wird Kommunist, einer Nationalist, einer beides, alle ärgern sich, viele sterben, manche passen sich an, manche werden angepasst ...

Naja. Schon zu Beginn ihrer subjektiven Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte macht Ivana klar: So eine richtige Wahrheit kann es in einem Land der regelmäßigen politischen Umpolung nicht geben. Also wird der Versuch einer objektiven Beschreibung gar nicht erst unternommen. Ein sehr ehrlicher Ansatz, finde ich.
Der Episodenroman beginnt im k.u.k.-Zagreb. Er beschreibt anhand ihrer nahen und fernen Verwandten die kroatische Suche nach Staatsterritorium und Staatsform. Definitiv eine recht torkelige Angelegenheit: Königreich Jugoslawien, deutsche Besatzungsherrschaft, der Unabhängige Staat Kroatien, Partisanenherrschaft, Tito, serbische Dominanz, Krieg ... immer wieder Krieg. Nur die Familie hält die Episoden zusammen, die Figuren wechseln sich ab. Ivana greift als Erzählerin in den Roman ein und verdeutlicht die Konstruktion, die Recherche der Aufarbeitung ihrer Geschichte.

Sag' ich doch. Nichts besonderes.

Viele Familienromane zeigen aber so selten die Absurdität einer politischen Umpolung. Sie nehmen ja das politische System ernst. Sie schreiben von faschistischen, kommunistischen, nationalistischen, karierten Organisationen. Sie nehme es ernst, weil diese Organisation töten können und töten müssen. Oder, in friedlicheren Zeiten, die Berufswahl einschränken und die Geschichte umschreiben. Hier enden vielen Familienromane. Dieser Roman nicht. Dieser Roman zeigt, wie absurd, wie schräg, wie individuell, wie zerfallen und schizophren Kroatiens Politik gewesen ist. Und immer noch ist. Wie viele Partisanenkämpfer im Namen des antifaschistischen Befreiungskampfes '44 an der Save starben, ändert sich jede Schulstunde. Wie sie starben, auch. Warum sie starben, auch. Was sie wollten, auch. Aber eines bleibt: Dass sie starben. Für wen und was auch immer.

In Kapitel drei marschiert die deutsche Wehrmacht ein. Sie beschreibt ein Foto aus dem Stadtarchiv Zagrebs: Grimmig schauen sie, die ersten drei deutschen Soldaten vor dem königlichen Rathaus. Sie wissen auch nicht so richtig, was sie außer "Besetzen" tun sollen. Sie warten auf ihre Kameraden, aber sie warten lange. Eine Straßenbahn bleibt stehen. Zagrebs Bevölkerung scheint ganz neugierig zu sein. Die deutschen Soldaten bleiben still stehen. Nicht militärisch, sondern weil sie nicht anders handeln können.

Das überzeugt mich nicht.

Sicher ist ihre Themenwahl nicht neu. Aber dann diese Sprache ... mir fällt es schwer, Ivanas Sprache zu beschreiben. Also, wie schreibt sie? Vielleicht illustrativ, komisch, individuell, ein Stil, der nicht nur am Wort sondern auch mit den leeren Zeilen arbeitet, einer, der auf über eine idiosynkratischen Sprache Komik und Leid gleichzeitig erzeugt. Salopp und beinhart brutal. Kindlich und ehrlich. Ein Beispiel aus Kapitel Eins. Zagreb wartet auf die Wehrmacht.

Sie fliegt.
Und sie ist nicht die Einzige.
Es gibt nämlich viele andere, die auch meinen, dass alles
möglich sei, sie denken, dass sie denken, sie denken, dass
es zum Beispiel hinreichend sei, ihre Lunge zu füllen, die
Luft in einen Ballon zu pusten, nach der Schnur zu grei-
fen und loszufliegen, und sie sind nicht dumm, sondern
sie fliegen wirklich – trotz der Gravitation. Hoch und
höher, genau wie sie fliegt, von oben ist die Perspektive
optimistischer, es scheint, dass die kommunistische Re-
volution den Durchmarsch der imperialistischen Mächte
aufhalten wird, dass der Krieg Zagreb nie erreichen wird
und dass sowohl die Kinder als auch die Katzen und auch
die Tauben und auch die Cafés auf ihren alten Positi-
onen bleiben werden. Man muss nur unablässig atmen
und hineinpusten, die Schnur des Ballons nicht aus der
Hand gleiten lassen und sich nicht um das Flüstern und
die Warnungen kümmern. Und so atmen sie. Atmen und
pusten. Und dann fallen sie.
Darin liegt eben die Pointe.

Nun gut, mit dieser saloppen, naiven Art kann ich nicht umgehen. Wenn ich ehrlich bin: Für mich gibt es nur einen einzigen wahren Familienroman. Thomas Mann: Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie.

Wer zum Beispiel Kurt Vonnegut, Schlachthof Nummer Fünf, mag ...

Heiliger Bimbam, dieses bescheuerte Antikriegsbuch. Typisch Dresden

... der wird auch Familienroman von Ivana Sajko schätzen.

Ivana Sajko

Familienroman - Die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer
Erschienen bei Voland & Quist, Berlin und Dresden

Link: https://www.voland-quist.de/wppb_works/familienroman/

 
Zuletzt bearbeitet:

Also, wie schreibt sie? Vielleicht illustrativ, komisch, individuell, ein Stil, der nicht nur am Wort sondern auch mit den leeren Zeilen arbeitet, einer, der auf über eine idiosynkratischen Sprache Komik und Leid gleichzeitig erzeugt. Salopp und beinhart brutal. Kindlich und ehrlich.

Hallo lieber @kiroly ,

spannend verfasste Rezension, vielen Dank.

Auch wenn ich niemanden in eine in-Kroation-schreiben-alle-gleich Ecke drängen will, ging es mir mit Dubravka Ugresics vielversprechend geteasertem und sehr positiv besprochenem Roman Baba Jaga legt ein Ei ganz genauso. Ich hatte es auch mit ihren bis dahin erschienenen anderen Buechern versucht, gleiches Ergebnis.

Wie du in dem Zitat schreibst, ist auch Ugresics Buch eine ungewöhnliche Mischung aus Härte und Komik, Skurrilem und Besonderem. Dort geht es auch um den Krieg (allerdings die aus den 90ern), um Exil und Identität. Und vor allem um Sprache: wie schreibt man, wenn einem eine ganz neue Sprache aufoktruiert wird und die Muttersprache offiziell nicht mehr existiert? Alles spannende Fragen, die sie aus dem Amsterdamer Exil heraus behandelt, aber das Buch ist dabei eben auch gnadenlos geschwätzig. Schräg geschwätzig, aber leider macht es das nicht besser.

Und auch wie du oben rauszitiert hast, spielt da sowas Kindliches mit rein, das mich ziemlich abstösst. Es wäre interessant, ob dieser ganze Stil etwas ist, das sich nach den Balkankriegen entwickelt hat, oder ob es reiner Zufall ist, dass diese beiden Kroatinnen so schreiben (finnische spekulative Literatur hat jedenfalls typische Merkmale, die ich bislang von keiner anderen Phantastik kenne, möglich wäre es ja).

Auch interessant, dass wir hier wohl ähnlicher Meinung sind, bei Mann aber gegenteiliger. Es gibt wohl kaum einen Schriftsteller, den ich so abgrundtief verachte und hasse wie Thomas Mann. :D

Vielen Dank fuer die tolle, interessante und wunderbar zu lesende Rezension.
Liebe Gruesse aus Stockholm,
Katla

 

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