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Ja man konnte fast sogar meinen...
Seine Füße ließen ihn vorwärts gehen, nicht er selbst war es, der ging. Er hatte sich zu einer Art Roboter verwandelt, und am liebsten wollte er seinen Füßen befehlen, ihn zurück zu tragen. Zurück, nicht nach vorne, wo lag, was er musste, und nicht wollte erreichen. Doch gehorchten seine Füße ihm nicht, sie trugen ihn weiter auf dem Gehweg in Richtung Krankenhaus. Der Ort, der richtungweisend für ihn gewesen war, der Ort, der sein Leben von einen Moment zum anderen verändert hatte. Der Geruch, er würde ihn wohl immer riechen. Die Kittel, er würde sie wohl immer sehen. Die Nachricht, er würde sie wohl immer hören. „Es tut mir leid, Sie haben Leukämie. Es ist bereits in fortgeschritenem Stadium und es wird wohl sehr schwer werden, Sie vollständig zu kurieren. Es tut mir wirklich leid.“ Wie konnte er sagen, es täte ihm leid? Was wusste dieser Mensch von dem Gefühl der absoluten Hilflosigkeit, der Gewissheit zu sterben.
Sie war gerade damit beschäftigt, die Karteien der Patienten zu sortieren, als sie zufällig auf die des jungen Herrn stieß, der gerade hier in Behandlung war. Leukämie, was für ein furchtbarer Schock es wohl gewesen sein musste, als er dies erfahren hatte. Beim Blick auf das Bild, welches sich auf der Karteikarte befand, freute sie sich fast, ihn wieder zu sehen. Er war ihr auf den ersten Blick sympathisch erschienen, ja man konnte fast sogar meinen, er gefiel ihr.
Schritt für Schritt setzte er, und es kam ihm vor wie eine Odyssee, wie eine Probe auf die man ihn stellte. Doch was wollte er tun, wenn er nun umkehrte, zurückging? Er hatte niemanden der auf ihn wartete, niemanden der ihn in den Arm nahm, der ihn vielleicht auch einmal küsste und ihm ins Ohr flüsterte, was auch geschehen mag, ich werde immer an deine Seite sein und dich stützen auf dem Weg den zu gehen hast. Niemanden, außer die Stille, die Stille und die Kälte der Einsamkeit und der Trostlosigkeit, die sein Leben erfüllte und sich nun noch verstärkt hatte. Vielleicht war er auch nicht bereit, sich jemanden anzuvertrauen. Ja er hatte sogar Angst davor. Weshalb, wusste er nicht. Vielleicht war es die Angst, vor noch mehr Kälte und Einsamkeit, die eintrat, wenn er wieder alleine gelassen werden würde. Er betrat das Spital, stieg in den Lift und drückte.
Sie sah ihn bereits als er aus dem Lift trat und erhob sich von ihrem Platz, ging langsam auf ihn zu. Sollte sie ihn ansprechen, sollte sie?
Die Schwester kam langsam auf ihn zu. Er wollte das nicht. Sie würde mit ihm sprechen, ihn vielleicht nach seinem Befinden fragen, doch er wollte nicht mit einem Menschen sprechen, außer es war unbedingt notwendig. Sollte er einfach vorbei gehen, den Kopf gesenkt und so tun, als würde er sie nicht sehen, sollte er?
Er wirkt heute irgendwie ganz besonders griesgrämig, dachte sie, und überlegte ob sie ihn überhaupt ansprechen sollte. Riss sich dann allerdings zusammen und ging weiter auf ihn zu. Als sie bei ihm angekommen, fragte sie ihn, wie es ihm ginge und ob sie ihn zum Doktor begleiten durfte.
Wie soll es mir schon gehen? Beschissen geht es mir, dachte er nachdem sie ihn nach seinem Befinden gefragt hatte. Es war wohl die dümmste und unnötigste Frage, die man einem Krebspatienten stellen konnte. Wie könnte es ihm schon gehen und doch zwang er sich zu einem Lächeln, welches jedoch mächtig schief ausfiel. Er wollte ihr sagen, dass sie ihn bitte ihn Ruhe lassen sollte, da er gerade nicht in der geeigneten Verfassung war eine zwanghafte Konversation zu führen. Schon hatte er seinen Mund geöffnet, als er in ihre Augen blickte, ihr zum ersten mal offen in die Augen sah. Sie war ihm auf den ersten Blick sympathisch, ja man konnte fast sogar meinen sie gefiel ihm.