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Jagdglück
Guido warf sich einen Pelzmantel über und schulterte die Waffe, als er zur Tür ging. Er bemühte sich darum, leise zu sein und Mutter nicht zu wecken. Vorsichtig stieg er über die Bretter, von denen er wusste, dass sie knarrten, zumal unter seinem enormen Gewicht. Langsam schwang er die Tür auf. Im selben Augenblick hörte er die Stimme aus dem Halbdunkel: „Bist du das, Junge? Wohin gehst du?“
Guido blieb wie angenagelt stehen und stieß einen leisen Seufzer aus. „Jagen, Mama.“
Der Stuhl, in dem sie seit Ewigkeiten zu sitzen schien, protestierte mit einem quietschenden Knarren. „Es ist bereits dunkel.“
Kurz schloss er die Augen. Er liebte seine Mutter über alles, aber ihre Fürsorglichkeit war wie ein Seil um seine Beine, das um ihren Stuhl herum festgezurrt war.
„Bin ja schon ein großer Junge, Mama“, sagte er, wobei er sich über seine Angewohnheit zur Rechtfertigung ärgerte.
Schließlich hatte er ja Recht: Er war erwachsen, und manchmal musste er auch alleine sein, um über vieles nachzudenken. Mutter hatte dafür nie Verständnis gezeigt. Seit Vater sie verlassen hatte, war sie in ständiger Sorge, er könnte es ihm gleichtun und von einer Stunde auf die andere verschwinden.
Ihr schwerer Atem füllte die Atmosphäre in der winzigen Hütte. Mutter war alt, stark übergewichtig, auf einem Auge blind, auf dem anderen im Begriff zu erblinden. Dennoch war sie eine alte Bärin, überlegte er, eine alte Bärin, die man besser nicht in die Enge trieb. Ihre Pranken waren alt und die Muskeln schlaff. Aber wenn sie damit zuschlug, lag immer noch die ganze Kraft und Urgewalt einer Bestie in ihnen.
„Ja, Guido ist ein großer Junge“, sagte sie mit unerwartet sanfter Stimme.
Er liebte diese süßliche Stimme, die seinen Verstand stets wie Honig verklebt hatte, auch dann, wenn sie ihn bestrafen hatte müssen. Vor allem dann. Ihre tröstenden Worte waren die einzige Medizin gewesen, seine Wunden zu heilen.
Guido nickte, wohl wissend, dass sie seine Geste nicht sehen konnte, stieß mit der linken Schulter am Türpfosten an, fluchte leise und schloss die Tür hinter sich.
„Sollten wir nicht schön langsam mal zurück gehen?“
Ludwig erachtete es nicht der Mühe wert, sich auch nur umzudrehen. „Nur noch ein kleines Stückchen! Hier war ich selber noch nie, und ich möchte einfach wissen, was hinter dieser Hügelkuppe wartet.“
Sarahs Miene verzerrte sich zu einer gequälten Fratze. Was sollte sich hinter der Kuppe schon befinden? Das gleiche, was sie seit zwei Stunden gesehen hatte: Fiese Bäume, die einen mit ihren Wurzeln zum Stolpern brachten, Dreck und Kot, halb verweste Vögel und andere Attraktionen, auf die sie gerne verzichtet hätte. Zum schätzungsweise zehn Millionsten Mal hämmerte ein Gedanke auf den Amboss ihres Verstandes: „Warum bin ich hier?“
Die Antwort auf ihre Frage erklomm gerade mit federleichten Schritten den kleinen Hügel, als wären sie eben erst aufgebrochen, und nicht seit gefühlten acht Jahren in diesem beknackten Wald unterwegs. Wie ein Gipfelstürmer nach dem Erklimmen der bislang unbezwingbaren Nordwand stand ihr neuer Freund, die Arme glücklich in die Höhe gestreckt, das Gesicht von den letzten Strahlen der hinter einem apricotfarbenen Horizont versinkenden Sonne ausgeleuchtet. „Das musst du sehen! Was für ein Panoramablick auf den Bach.“
Sie wollte es nicht sehen. Selbst wenn sich dort das legendäre Shangri-La erstreckte, oder die letzten Dinosaurier noch nichts vom Aussterben ihrer Spezies gehört hatten. Sie wollte und konnte nicht mehr. Ihre Socken waren genau so durchgeschwitzt wie ihre Hose und das Shirt. Sie stank, der Wald stank, das dämliche Viehzeug, das sich in den Bäumen und am Boden tummelte stank.
„Nun komm schon!“, rief er lachend zu ihr hinunter. „Es sind doch nur ein paar Meter!“
Gequält lächelte sie zurück und dachte an ihre Studienkolleginnen, die sie um den tollen Fang beneideten, den sie eher zufällig bei einer Studentenparty gemacht hatte. Der Fisch war ungeduldig aus dem Wasser in die brutzelnde Pfanne gehüpft, ohne erst abzuwarten, bis sie die Angel ausgepackt hatte.
An diesem Abend hatte sie im Mittelpunkt gestanden: Ludwig, der nicht nur von sämtlichen weiblichen Singles und gebunden Frauen, sondern auch von einigen Männern heiß begehrt wurde, hatte nur Augen für sie gehabt.
Sie blickte hoch zu ihm: Jeder Zoll ein perfekter Körper, wie ihn selbst antike Steinhauer nicht perfekter in den Marmorblock meißeln hätten können. Außerdem raste er wie ein gedopter ICE durch sein Studium und würde es voraussichtlich mindestens zwei Semester vor allen anderen abschließen. Und wie zum Drüberstreuen besaßen seine Eltern eine Modekette für gehobene Ansprüche und goldene Geldspangen.
Eine unglaublich tolle Partie, dachte sie und stapfte missmutig die Anhöhe hinauf. Oben angekommen atmete sie keuchend durch. Ludwig lachte nur, als hielte er ihre Erschöpfung für ein gelungenes Schauspiel. Vermutlich konnte er sich gar nicht vorstellen, dass es Leute gab, die nicht so sportlich und naturverbunden waren wie er.
„Okay“, stammelte sie aus trockener Kehle hervor. „Nun wollen wir aber endlich –“
Wie zum Hohn zeigte er mit dem Finger auf eine Stelle dort unten und unterbrach sie. „Zwei Rehe! Sind sie nicht süß? Die müssen wir uns aus der Nähe ansehen. Komm!“
Ohne ihre Antwort abzuwarten – oder darauf zu achten, ob sie noch einer Antwort fähig war oder einfach vor Erschöpfung tot umfiel – hastete er die Kuppe hinunter.
Sarahs Herz hämmerte gegen die Brust, als hätte es nun ebenfalls genug und suchte nach einem Fluchtweg. In diesem Moment wünschte sie, Ludwig wäre ein ganz normaler Mann, der auch mal alle Fünfe gerade sein ließ, unter einem „Spaziergang“ keine Safari verstand, Tiere in die Kategorien „essbar“ sowie „nicht essbar“ einteilte, und sich abends gemütlich auf dem Sofa räkelte, während ein Fußballspiel lief. Mit Ludwig konnte sie in keiner Weise Schritt halten. Mit bestürzender Klarheit wurde ihr bewusst, welche Hürden auf dem Weg zu einer harmonischen Partnerschaft zwischen ihnen lagen. Ludwig brauchte keine gemütliche Fußgängerin wie sie, sondern einen Hürdensprinterin.
Dennoch biss sie tapfer die Zähne zusammen und folgte ihm.
So behäbig Guido in der Enge der Hütte auch war: Der Wald war sein Zuhause. Hier war er geboren und aufgewachsen, hier kannte er beinahe jeden Baum und jeden Strauch. In der anbrechenden Dämmerung verbarg er sich hinter dem Stamm einer mächtigen Eiche. Als er noch ein Junge war, hätte er ihre damals zarten Äste mit zwei Fingern abknicken und den dünnen Stamm mit einem einzigen Tritt knicken können. Im Laufe der Jahre war sie zu einem Koloss herangereift, der nichts und niemanden fürchten musste. So wie Guido, der sich lautlos ganz eng an den Stamm presste und gleichzeitig die Waffe in die Hände nahm.
Reiche Beute war ihm und Mutter gewiss. Er nahm sich, was er begehrte, und keiner konnte ihn daran hindern. Nicht hier, im Wald, der sein Revier war.
Fast widerwillig musste Sarah zugeben, dass Ludwig nicht übertrieben hatte: Die beiden Tiere waren entzückend! Es waren eine Rehmutter und ihr Kitz, das noch ein wenig unsicher auf den dürren Beinchen stakste. In seinen riesigen, dunklen Augen schimmerte die ganze Arglosigkeit eines naiven Geschöpfes, das noch nicht in der erbarmungslosen Kälte dieser Welt gefroren, das noch nicht von den vergifteten Früchten genascht hatte, die am Wegesrand des Lebens wuchsen.
Die beiden Menschen waren nur wenige Schritte von den Tieren entfernt.
„Gleich laufen sie weg“, flüsterte Sarah.
Sie hatte den misstrauischen Blick der Ricke registriert und sich bereits darüber gewundert, dass sie die Eindringlinge noch nicht als Gefahr für ihr Junges eingestuft hatte.
Ludwig wandte sich ihr kurz zu. „Sie sind neugierig. Anscheinend hat das Muttertier noch keine bösen Überraschungen mit Menschen erlebt.“
Sie nickte und beobachtete verwundert, wie ihr Freund die letzte Distanz zwischen ihm und den Tieren überwand, die immer noch nicht die Flucht ergriffen. Ludwig ging dabei gebückt, um, wie sie vermutete, nicht ob seiner Größe bedrohlich zu wirken. Einen Moment lang wirkte die Szene wie ein schwülstiges Aquarell aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ludwig kniete am Boden, in Augenhöhe mit dem zerbrechlich wirkenden Rehkitz. Daneben stand das erwachsene Reh und legte den Kopf ein wenig schief.
Vielleicht, überlegte Sarah, war dies einer jener kostbaren Augenblicke des völligen Seelenfriedens, von denen Ludwig gesprochen hatte.
Guido spannte die Sehne des gewaltigen Bogens und nahm das Ziel ins Visier. Als Junge hatte er anfangs den Fehler begangen, wie ein Raubtier das schwächere Tier zu erlegen. Aber Vater hatte ihn gelehrt, dass er das Stärkere erlegen musste. Das Schwächere würde er auch später noch mit Leichtigkeit überwältigen können. Er presste die verbliebenen Vorderzähne auf die Lippe und kniff das linke Auge zu.
Mit Ehrfurcht spürte er die überwältigende Flut der Allmacht, die durch seinen Körper schoss. Hier war er König, und alles Getier war ihm untertan. Wenn der König es wünschte, würde es fette Beute geben. Und an diesem Tag gab es Beute, wie er es gewünscht hatte.
Das Muttertier schnaubte kurz und lief mit schnellen Sprüngen davon. Sein Junges folgte ihm. Irgendetwas musste sie erschreckt haben. Ludwig runzelte die Stirn und blickte ihnen nach. Dann griff er in den feuchten Erdboden und zog etwas heraus, das Sarah zunächst nicht einordnen konnte. Erst allmählich begriff sie, was es war, und wusste, warum das Erkennen so lange gedauert hatte: Der Pfeil wirkte in dem Wald so deplatziert wie ein verirrter Elefant. Ludwig schien einen ähnlichen Gedanken gehegt zu haben und sagte mit ernster Stimme: „Das ist kein Sportpfeil. Die Spitze ist ein primitiv zugespitzter Knochen. Fast so, wie bei den Funden aus der Steinzeit. Merkwürdig.“
„Ich habe Angst, Ludwig“, meinte Sarah, kniete sich neben ihn in den Lehmboden und fuhr mit theatralischer Stimme fort: „Es ist still, Liebster. Zu still! Die Indianer lauern auf uns, ich weiß es ganz bestimmt.“
„Sei nicht albern“, entgegnete er mit fast verbissener Humorlosigkeit.
Das Folgende geschah so rasch, dass sie es nicht als Abfolge einzelner Ereignisse, sondern wie einen im Zeitraffer geschrumpften Film wahr nahm. Plötzlich lag Ludwig rücklings auf dem Boden und umklammerte mit seinen Händen einen langen, dünnen Stab der aus seinem Brustbein ragte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Pfeil. Ja, es musste ein Pfeil sein! Sie hatte das Sirren gehört, das die Luft durchschnitt, während er seinen Weg in die Brust seines Körpers suchte und schließlich fand.
Eine Sekunde lang war sie wie versteinert. Aus der Wunde floss nur wenig Blut, und entgegen allem Wissen, das sie sich aus Filmen angeeignet hatte, spritzten keine Hektoliter an Blutfontänen durch die Gegend. Ludwig riss den Mund weit auf, brachte jedoch nur ein klägliches Stöhnen zustande, das in absurdem Widerspruch zu seiner imposanten Gestalt wirkte. Ein Blutrinnsal rann aus seinen Mundwinkeln und wirkte so unschuldig wie Wasser, das aus einer vollen Regentonne überfloss. Ludwigs Lippen formten zwar Worte, aber er war zu schwach, sie auch akustisch umzusetzen und erinnerte sie an einen Fisch, den sie aus einem Fluss geangelt und an Land geworfen hatte, wo er stumm verendete.
„Ich hole Hilfe. Wir schaffen das schon. Siehst du? Ich werde Hilfe holen“, brabbelte sie hastig ohne Punkt und Komma, um ihn zu beruhigen.
Sie griff in die Tasche und zog das Handy heraus. Ihre Finger zitterten so stark, dass sie prompt die falschen Tasten erwischte. Während sie erneut wählte, registrierte sie wieder das pfeifende Surren. Als hätte sie ein Faustschlag getroffen, kippte sie mit einem Schmerzensschrei zur Seite. Sie fürchtete ohnmächtig zu werden und biss verzweifelt die Zähne zusammen, um bei Bewusstsein zu bleiben. Sarah stützte sich auf die Ellenbogen und versuchte sich aufzurichten, aber der Schmerz schien Teile ihres Körpers gelähmt zu haben. Automatisch tasteten sich ihre Hände zur Quelle der Pein vor. Sie drehte den Kopf und erkannte einen Pfeilschaft, an dessen eine Ende Federn angebracht waren, und dessen anderes Ende in ihrem Fleisch steckte. Sachte berührte sie den Schaft und eine neue, heiße Woge des Schmerzes ergoss sich in ihren Leib. Nachdem diese Woge abgeklungen war, schoss eine Erkenntnis mit beunruhigender Klarheit durch den Kopf: Sie würden tatsächlich sterben, wenn sie regungslos auf dem feuchten, modrig riechenden Waldboden liegen blieb und nichts unternahm.
Sie musste nur das Handy wieder finden, das sie fallen gelassen hatte. Sie begann, den Boden abzutasten. Irgendwo musste es ja schließlich liegen. Sie bräuchten einen Rettungs-Hubschrauber, überlegte sie. „Ludwig?“
Ihre Worte kamen zögerlich, und einen Augenblick lang war sie sicher, dass er leblos keine zwei Meter neben ihr lag. Erleichtert hörte sie sein Stöhnen.
Vorsichtig rollte sie sich auf die andere Seite. Ludwig lag in unveränderter Stellung da, soweit sie das aus ihrer Position beurteilen konnte. Dann setzte sie ihre Suche nach dem Handy fort. Den gewaltigen Schemen, der zwischen den Bäumen hervortrat, bemerkte sie zunächst aus den Augewinkeln heraus. Erschrocken sog sie die kühle Luft scharf ein.
„Ein Bär. Das ist bestimmt ein Bär!“, dachte sie mit wachsendem Entsetzen, und der erste Blick auf die gewaltigen Konturen des Wesens, das gemächlich, ohne jede Hast, in ihre Richtung tappte, schien diese Vermutung zu bestätigen. Jedoch erkannte sie ihren Irrtum Sekundenbruchteile später: Die Konturen gehörten eindeutig zu einem Mann. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, aber der aufrechte Gang und die Form der Hände waren eindeutig. Was sie für einen Pelz gehalten hatte, musste ein Mantel oder eine Jacke sein.
„Bitte helfen Sie uns!“, rief Sarah und winkte unnötigerweise mit der Hand, als bestünde Gefahr, der Unbekannte könnte sie aus drei Metern Entfernung übersehen oder für Schaufensterpuppen halten und pfeifend vorbeischlendern.
Er blieb vor Ludwig stehen und beugte sich über ihn. Ob er ihre Worte nicht verstanden hatte oder sie bewusst ignorierte, konnte sie nicht feststellen. Vielleicht handelte es sich bei dem Mann um den Bogenschützen, überlegte sie und spürte, wie ihr kalt und heiß zugleich wurde.
Der Fremde schien sich für sie überhaupt nicht zu interessieren und ging neben Ludwig in die Hocke. Sarah wurde immer unheimlicher zumute und robbte auf dem unversehrten Bein einen halben Meter weiter, um nach dem Handy zu suchen. Dabei ließ sie den Unbekannten keine Sekunde aus den Augen. Dieser legte eine Hand auf Ludwigs Stirn. Sein riesiger Handteller reichte von einem Ohr ans andere. Einen Moment lang verharrte er in seiner Stellung. Dann grunzte er etwas und zückte ein Messer aus dem Gürtel.
Sarah vergaß beinahe zu atmen, als sie sah, wie der Fremde Ludwigs Halsschlagader mit einem gekonnten Schnitt durchtrennte und ein Blutschwall gegen den Arm des Mannes schwappte.
Was sie da sah, durfte genau so wenig real sein, wie der Pfeil in ihrem Oberschenkel. Aber sie wusste auch, dass sie sterben würde, wenn sie die Realität dessen, was geschehen war, nicht endlich anerkannte und abhaute, solange der Mann, der gerade ihren Freund ermordet hatte, ihr keine Beachtung schenkte. Der Schock wirkte wie ein Morphiumschub und ließ sie die Schmerzen zwar nicht vergessen, jedoch wie eine unliebsame Erinnerung in den Hintergrund verdrängen. Sie rappelte sich hoch und humpelte orientierungslos ein paar Schritte. Nur weg von dem Mörder! Die Hügelkuppe würde sie nur langsam bewältigen können. Deshalb entschied sie sich, einfach in das Unterholz hineinzulaufen und ein Versteck zu suchen. Später, wenn es dunkel war, könnte sie zurückkommen und nach dem Handy suchen. Oder über den Hügel zurück auf den Pfad finden.
Sarah zwang sich, die Gegenwart im Auge zu behalten. Sie war noch keine zehn Meter weit gehumpelt und schmiedete bereits Pläne für den Fall, dass sie nicht verfolgt oder gejagt wurde! Langsam kehrten die Schmerzen in hohen Wellen zurück. Tränen liefen ihr über die Wangen. Aber sie durfte nicht schwach werden. Dieses eine Mal wäre niemand da, der sie auffing oder beschützte. Sie war völlig auf sich alleine gestellt. Niemand würde ihr den Weg weisen, sie stützen, sie trösten. Sie begann zu schluchzen und schalt ihren Körper einen Verräter, der sie ans Messer des Wahnsinnigen liefern wollte. Das Messer … bestimmt lief er gerade hinter ihr her und malte sich aus, wie er es ihr ins Herz stoßen würde.
Unwillkürlich drehte sie sich um. Sie wusste, dass sie vielleicht schreiend hinfallen würde, wenn sie ihn hinter sich erblickte.
Aber da war niemand.
Abrupt blieb sie stehen. Sie atmete tief durch und sah sich in alle Richtungen um. Der Mann war nirgends auszumachen. Sie überlegte fieberhaft, welche Optionen es für sie gab. Sie konnte zurück humpeln und nach ihrem Telefon suchen, in der abstrusen Hoffnung, er würde sie gewähren lassen. Oder sie konnte laufen, bis ihre Lungenflügel brannten, als wären sie mit flüssigem Blei ausgegossen worden. Letzten Endes blieben ihr nur zwei Alternativen: Überleben oder sterben.
Wieder drehte sie sich um. Der Anblick des leblosen Körpers ihres Freundes stieß sie in einen Zwiespalt aus hoffnungsloser Lethargie und dem unbedingten Willen zu überleben. Sie wollte nicht auf so entwürdigende Weise enden wie er! Allein diese Gedanken erschreckten sie: Wie viel konnte ihr an ihm gelegen haben, wenn sein Tod dermaßen selbstsüchtige Motive ans Licht zerrte? Andererseits war für Trauer später noch Zeit. Falls es ein Später für sie gab…
Sie konnte fast dabei zusehen, wie sich der schwarze Mantel der Nacht über den Wald legte und die Bäume in bedrohliche Wegelagerer verwandelte; wie die Nacht den Gesang der Vögel verstummen ließ und an seiner Stelle statt eine unheimliche Stille einsetzte. Und irgendwo zwischen den Bäumen, hinter einem Strauch, vielleicht bei der nächsten Biegung, oder direkt hinter ihr, während sie ziellos über den matschigen Boden humpelte, lauerte der Tod. Natürlich war ihr seit vielen Jahren bewusst, dass sie eines Tages sterben würde. Aber dieses Bewusstsein hatte stets in tröstenden Bildern eines ruhigen Ablebens in einem sauberen Bett, umringt von sie liebenden Verwandten, Freunden, vielleicht sogar eigenen Kindern und Enkelkindern, geendet. Keines dieser Bilder hatte einen personifizierten Tod gezeigt, der sie nur wenige Kilometer von der nächsten Kleinstadt entfernt niederstrecken wollte.
Erschöpft lehnte sie sich gegen einen Baum. Sie musste ein wenig verschnaufen. Tränen, vermischt mit salzigem Schweiß, rannen über ihre Wangen.
„Ich werde dir helfen“, sagte eine tiefe, dunkle Stimme hinter ihr.
Sarah fühlte sich zu schwach, um schreiend einen Fluchtversuch zu unternehmen. Langsam drehte sie sich um. Der Unbekannte überragte sie um fast zwei Köpfe. Sein Körper musste unglaublich massig sein, und dennoch hatte sie ihn nicht gehört, als er sich angeschlichen hatte. Sie erinnerte sich an Ludwigs Feststellung, wonach die Pfeilspitze wie ein Fund aus der Steinzeit wirkte. Und plötzlich wurde ihr eines klar: Das hier war nicht ihre Welt, sondern die des Fremden. Hier war sie nur hilflose Beute und er der Jäger.
Sie war vielleicht zu schwach, um sinnlos zu schreien, aber sie fühlte sich stark genug, ihrem Schicksal mit gebleckten Zähnen zu begegnen. Sie ließ sich zu Boden gleiten, um dadurch vorzuschützen, sie hätte aufgegeben. Im Unrat des Waldbodens stocherte sie nach etwas, das sie als Waffe benutzen konnte.
Währenddessen kniete der Mann nieder und schien sie zu beobachten. Aus der Nähe erkannte sie nur seine knorrige Nase. Seine Gesichtszüge lagen im Dunkel. Er streckte seine Hand aus und strich durch ihr Haar. Seine Berührungen waren überraschend sanft, und wieder fiel ihr die Gegensätzlichkeit des grobschlächtigen Körpers zu den geschmeidigen Bewegungen auf.
„Willst du mit zu meiner Mama gehen?“
Sie lächelte und umfasste den Stein so fest sie nur konnte.
„Das ist der mieseste Anmachspruch, den ich seit der Grundschule gehört habe“, sagte sie mit überraschend ruhiger Stimme und rammte den Stein mit aller verbliebenen Kraft gegen seine Nase. Sie hörte ein dumpfes Knirschen und einen heulenden Schmerzensschrei. Erneut holte sie mit dem Arm aus und schlug den Stein diesmal gegen die Stirn.
Jeder andere Mensch wäre nach einem solchen Hieb entweder ohnmächtig geworden oder taumelnd zu Boden gefallen. Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und entsetztem Erstaunen erkannte sie, dass sie ihn lediglich wütend gemacht hatte. Seine riesige Hand schnellte vor und schlug ihr den Stein aus den Fingern. Dann packte er sie am Kragen und hob seine Faust. Sie war fast so groß wie ihr Kopf.
„Hast mir weh getan!“, schleuderte er ihr vorwurfsvoll entgegen. „Das ist böse.“
Erleichtert sah sie, wie er die Faust öffnete und die Hand sinken ließ. „Aber jetzt gehen wir zu Mama, ja?“
Sie spürte den dumpfen Schlag gegen ihren Hinterkopf, als er sie gegen den Baumstamm presste. Gerne hätte sie ihm noch eine Beleidigung in sein dunkles Gesicht geschrien. Aber dann verschwammen die Eindrücke von dieser Welt, dieser kalten, grausamen Welt, hinter einem schwarzen Schleier, dessen Schlieren grellrot vor ihren Augen zuckten. Etwas rauschte in ihren Ohren, und sie wusste nicht, ob es ihr aufwallendes Blut war oder das animalische Grunzen des Riesen, dem sie ausgeliefert war.
Dann: Die trostlose Stille, in die ihr Bewusstsein entschwebte, und ein Schweigen, das keinen Widerspruch duldete.
Aber das Schweigen war nicht für immer. Ob sie darüber froh sein sollte, wusste sie nicht. Genau so wenig konnte sie die Frage beantworten, wie lange sie bereits in dieser Hütte gefangen gehalten wurde. Ob es Nacht war oder sie einen halben Tag verschlafen hatte, war unmöglich festzustellen, da der winzige Raum kein Fenster besaß. Dies war auch aus einem anderen Grund bedauerlich: Es stank erbärmlich. Als sie vor schätzungsweise einer Stunde erwacht war, hatte sie tatsächlich gefürchtet, sie würde ersticken. Jede Abfallhalde war die reinste Parfümerie dagegen.
Sarah zog halbherzig an der Eisenkette, die ihr linkes Bein an einen massiven Pfosten gefesselt hatte. Es war aussichtslos: Selbst ein beliebiger Actionheld hätte nach einer Überdosis Steroide keine Möglichkeit gehabt, sich von der Kette loszureißen. Aus dem rechten Oberschenkel war der Pfeil verschwunden. Ein weißer Stofffetzen war notdürftig um die Wunde geschlungen worden. Vielleicht stammte der Fetzen von Ludwigs T-Shirt, dachte sie und schluckte hart.
Sie hörte Schritte und presste sich gegen die durch Schimmelbefall glitschige Wand. Die Tür schwang mit einem Knarren widerwillig nach innen. Der Riese duckte sich und zog den Kopf ein, um durch den Türstock zu passen. In seinen Händen trug er eine Schale sowie eine Kerze. Beides wirkte in seinen riesigen Händen wie Spielzeugversionen.
Er kniete nieder und reichte ihr die Schale. „Ist gut.“
Sarah ignorierte seine Aufforderung und starrte in sein Gesicht, das sie erstmals genauer betrachten konnte. Wenn es stimmte, dass sich das Lebensschicksal ins Antlitz eines Menschen unauslöschlich einprägte, dann war ihrem Peiniger bislang wenig Gutes widerfahren. Sein Gesicht war vor Narben zerfurcht und ließ keinerlei Rückschlüsse auf sein Alter zu. Er konnte so alt wie sie, oder auch wie die Alpen sein. Es erinnerte sie an Boris Karloff in der Rolle der von Frankenstein erschaffenen Kreatur. Sie hatte den Film als Kind gesehen und mehrere Nächte hintereinander alpgeträumt. Vielleicht hatte sie schon damals geahnt, diesem Alptraum eines Tages ausgeliefert zu sein. In Ketten, fernab jeglicher Hilfe.
„Ist gut!“, wiederholte der Riese, und seiner Stimme lag etwas Bedrohliches inne.
Sarah nahm die Schüssel. „Was ist das?“
„Fleischbrühe. Ist gut. Musst du essen, um gesund zu werden.“
Er lächelte und entblößte dabei Zahnreihen, die fotografiert in Zahnarztpraxen als abschreckendes Beispiel mangelnder Zahnhygiene Verwendung hätten finden können.
Erschrocken glotzte sie in die Schüssel, die keinen wesentlich erfreulicheren Anblick bot. Fleischbrocken schwammen in einer dünnen Brühe. Zögernd setzte sie die Schale an die Lippen an und trank ein paar Schlücke. Dabei erwischte sie auch ein Fleischstückchen, das zäh und halb roh schmeckte. Tapfer lächelte sie und stellte die Schüssel auf den Boden.
„Du bist meine neue Frau. Werde dich beschützen“, raunte der Riese, ergriff ihren Arm und streifte ihr ein buntes Freundschaftsband, wie sie junge Mädchen vor einigen Jahren trugen, übers Handgelenk.
„Beschützen vor Mama. Sie mag nicht, dass ich eine Frau habe. Bin zu jung, sagt sie.“
Sarah nickte, als verstünde sie. Dann fiel ihr Blick auf etwas, das einen Meter neben ihr lag. Zunächst weigerte sich ihr Verstand, die Zusammenhänge herzustellen. Selbst Alpträume mussten Grenzen und Tabus kennen!
Zitternd nahm sie erneut die Schale zur Hand, aus der sie getrunken hatte. Sie drehte sie um, ignorierte die lauwarme Brühe, die sich über ihre Beine ergoss, und erkannte selbst im fahlen Schein der Kerze, worum es sich handelte. Es war eine Hirnschale. Kraftlos ließ Sarah sie fallen und starrte zu dem halb verwesten Arm hinüber.
Am Gelenk hing ein Freundschaftsband.