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Jahrestage
'Doreen reckte ihren Kopf dem Wind entgegen. Endlich wieder zu Hause, endlich wieder bei John.'
Es gibt Romananfänge, die mich bereits nach dem ersten Satz zwischen Wut und Langeweile schwanken lassen. Resigniert überließ ich Doreen ihrem Schicksal und stellte das Buch zurück in Giselas Bücherregal. Der Klappentext hatte mir eine dramatische Dreiecksgeschichte an der Südküste Irlands versprochen, aber es nützte nichts, ich war trotz meiner fünfundsechzig Jahre immer noch nicht empfänglich für diese Art Literatur. Gisela hatte schöne Heldinnen dutzendweise in ihrem kleinen Wohnzimmer versammelt. Schweden, Cornwall, Virginia. Quer durch alle Jahrhunderte gaben sie sich ihren Helden hin. Die wiederum besaßen wohlproportionierte Hände, sinnliche Augen und waren gerne gut aussehend und reich.
Ein wenig müde blickte ich zu Gisela hinüber. Leise schnaufend lag sie in ihrem Sessel und schlief. Seit fünfzig Jahren kannte ich ihr feines Gesicht, das in all seiner trockenen Faltigkeit noch immer das Ebenmaß von einst erahnen ließ. Ihr Körper, der voll und fleischig gewesen war, zerfloss, mittlerweile konturlos, in einem fliederfarbenen Hausanzug, zwischen ihren rosa gefärbten Lippen zuckten winzige Speichelbläschen im Rhythmus ihres Atems.
Giselas Lippen. Kaum einmal trafen sie auf die Blicke fremder Menschen und dennoch wurden sie morgens geschminkt. Wie eine Karikatur ihrer selbst sah meine Freundin sich aus dem Spiegel entgegen. Schon lange konnte sie den Lippenstift nicht mehr ruhig halten, verteilte sie die Farbe ungeschickt und fleckig in ihrem Gesicht. Diese Routine verlieh ihr ein Gefühl der Sicherheit, jetzt, da ihr das Leben in schmerzhaften Schüben immer mehr davon raubte. Vor mehr als einem Jahr war ich zu ihr gekommen.
Unser gemeinsames Leben begann nach einem Klassentreffen mit siebzehn Erinnerungshütern und Stephan ohne Gisela. Zu unberechenbar war ihr Verhalten in der letzten Zeit geworden. Habgierig und zerstörerisch hatte sich die Alzheimerkrankheit in ihr Gehirn geschlichen. Kaum jemand kann sich vorstellen, was es bedeutet, einen Menschen dabei zu begleiten, seinen Verstand, seine Erinnerungen und seine Wirklichkeit zu verlieren. Auch ich konnte das damals nicht.
„Valerie, es wird immer schlimmer. Du musst mir helfen! Ich kann das nicht alleine schaffen.“ Stephan hatte mich bittend mit seinen ausgewaschenen grauen Augen angesehen.
„Ach, und ich soll es aushalten? Wie käme ich dazu? Stephan, ich habe mein eigenes Leben, meine eigene Wohnung. Warum sollte ich das aufgeben, um Gisela zu pflegen? Wie kommst Du dazu, mich hier damit zu überfallen, zwischen Tür und Angel?“ Energisch hatte ich den Kopf geschüttelt.
„Ich möchte sie nicht in fremde Hände geben.“
„Und da fragst du ausgerechnet mich? Du hast Nerven!“
„Valerie, tu es für mich, bitte!“, hätte Stephan jetzt sagen können. Musste er aber nicht. Stephan, der Große, mein Kumpel, der Nachkriegsgewinnler und Wirtschaftswundererbe, der meine beste Freundin Gisela geheiratet hatte. Und sie hatte wieder in mir zu glimmen begonnen, diese heimliche, verbotene Zärtlichkeit.
Unwillkürlich muss ich lachen, da mir auffällt, welch einen beinahe perfekten Romandialog ich mit Stephan damals abgeliefert hatte. Nur die Liebesschwüre hatten gefehlt. Glücklicherweise spart das Leben meistens am Kitsch. Stephan hatte mich am Ende doch überredet, Gisela wenigstens für einige Zeit zu besuchen. Der Besuch verlängerte sich von Woche zu Woche und so wurde ich das, was in einem Austen' schen Mikrokosmos eine Gesellschafterin genannt wurde. Stephan war viel unterwegs, Geschäfte hier, Golfspielen da und entlohnte mich großzügig für seine eigene Unfähigkeit.
Nur selten war er Zeuge, wenn Gisela eingeschlossen in ihrer Welt wütete. Sie kämpfte, das sah ich, manchmal zornig, oft traurig. Aber wogegen? Wechselte ihr Bewusstsein von einem Aggregatzustand in den anderen? War ihr Ichsein existent und dann wieder nicht? Oder war es fließend und veränderlich wie ein Strom, der mal laut und reißend und dann wieder leise plätschernd ihre Sinneswahrnehmungen und Erinnerungen trug?
In ihren guten Momenten war sie zauberhaft und plauderig wie eh und je. „Schau, Valerie, die alten Fotos! Hier bin ich mit Stephan auf Hochzeitsreise in Südfrankreich und hier sind wir beim Skifahren.“ In anderen Momenten wieder versank sie in stumpfsinnigen Ritualen, sortierte Wäscheklammern nach Farben oder räumte den Inhalt ihres Kleiderschranks aufs Bett.
Viele Stunden verbrachte ich damit, ihr vorzulesen, mit ihr im Park spazieren zu gehen oder Filme anzusehen. Besonders Liebesgeschichten vermochten sie aufzuheitern. An ihrer Seite kämpfte ich mich durch sämtliche Klassiker. Ich genoss Bogey in Casablanca und ertrug geduldig Leo und Kate am Bug der Titanic. Die Sexszene der beiden hatte Gisela besonders aufmerksam beobachtet. „Was machen die denn da, Valerie?“ - Ich druckste ein wenig herum und meinte: „Die haben sich lieb.“ - Gisela kicherte und beugte sich zu mir herüber: „Blödsinn, die ficken!“ Verdutzt sah ich sie an und fragte mich unvermittelt, ob Stephan noch mit ihr schlief. Ich versuchte, in meinem Kopf ein Bild zu beschwören. Stephan, wie er mit steifem Schwanz vor Gisela stand; wie er zärtlich mit seinen Händen über ihre schlaffen Brüste strich, das lang Vertraute liebevoll in Besitz nahm. Urplötzlich verzerrte sich das Bild. Giselas Mund stand halb offen, Speichel rann heraus, zitternd kauerte sie sich auf das Bett und schluchzte, ihren pergamentenen Rücken Stephan zugewandt. Ich verschluckte die aufsteigenden Tränen und lächelte Gisela an.
Einige Wochen später kam ich in die Eingangshalle und sah, dass sie alle Schuhe aus dem Schuhschrank paarweise an den Schnürsenkeln zusammengebunden hatte. Erschöpft saß sie auf einer Treppenstufe und starrte blind vor sich hin. „Gisela, was tust du denn da?“, fragte ich sie entgeistert.
Sie blickte zu mir auf und ihr Gesicht verzerrte sich. „Wer sind Sie?“ Sie hatte mich nicht mehr erkannt.
„Ich bin´s, Valerie“, entgegnete ich in beruhigendem Ton.
„Valerie?“, schrie Gisela. „Valerie? Nein, nicht Valerie! Schlampe! Nein, Stephan, Valerie, ...“ Sie ergriff einen Schuh und schlug wütend in meine Richtung. Ich wich zurück und hörte, wie die Haustür hinter mir aufgesperrt wurde. Stephan. Er blickte von meinem erschrockenen Gesicht zu Gisela, die immer noch mit erhobenem Schuh auf mich einschrie. „Liebling, ganz ruhig. Ich bin ja da. Es ist alles gut. Ich bin da. Ich bin da.“ Gisela schmiegte ihre nassen Wangen an seine Brust, rosa Farbe verschmierte auf seinem Hemd. „Ich habe Dir etwas mitgebracht, mein Schatz“, sagte Stephan, während er mit seiner linken Hand ihr Haar streichelte. In der anderen Hand hielt er ein Bouquet aus Lavendel, Lorbeer und wilden Rosen. Unbemerkt schlich sich der Duft in Giselas Erinnerungen und erreichte sie tiefer und eindringlicher als Worte das jemals vermocht hätten. „Antibes, wie schön es dort war!“ Wieder völlig ruhig ließ sie sich von Stephan zu Bett bringen.
„Ich kann ja verstehen, wenn es Dir zu viel wird, Valerie“, meinte Stephan, als wir anschließend gemeinsam im Wohnzimmer saßen.
Noch widersprach ich ihm: „Nein, nein, es geht schon, aber ich weiß nicht, wie lange ich das ohne professionelle Hilfe schaffen werde. Gisela wird geistig und körperlich immer mehr abbauen, Stephan.“
Er blickte mich an, vertraut, wie mir damals schien, strich mir leicht über die Wange und sagte unvermittelt: „Warum hast du eigentlich nie geheiratet, Valerie?“
„Warum?“ Ich zögerte. „Hans-Dieter roch ein wenig streng und Gunter wollte, dass ich ihm die Hemdkragen stärke.“
Stephan lachte laut auf: „Meine kleine, zynische Jungfrau.“
„Kleine? Stephan, ich bin alt. Wir sind alt. Und möge der liebe Gott dir beistehen, wenn du mich jemals eine alte Jungfer nennst!“ – „Liebst du Gisela?“
„Liebe?“ Sein Tonfall klang jetzt wie der meine nüchtern, beinahe bitter. „Ja, vermutlich. Was bedeutet dir denn die Liebe?“
Wie so oft bei Stephan hatte ich das Gefühl, mich verbergen zu müssen, aber ich antwortete dennoch ehrlich: „Ich habe immer davon geträumt, einen Seelenverwandten zu treffen. Jemanden, dem ich mich nicht erklären muss, der mich ohne Worte versteht.“
Stephan lachte noch lauter als zuvor. „Dass ausgerechnet du solche romantischen Anwandlungen hast, hätte ich jetzt nicht vermutet. Zwei verwandte Seelen finden und verlieben sich unsterblich über den Tod hinaus. Was für ein Schwachsinn, Valerie! Kein Wunder, dass dir nie einer gut genug war.“ Seine Augen verloren für Bruchteile von Sekunden ihre Schärfe. Wellen schäumten in der grauen See auf, überschlugen sich, bevor er mich wieder durchdringend ansah: „Bleiben wir bei deiner Vorstellung. Wenn unsere Seelen sich gegenseitig fühlen können, was ist dann mit Gisela? Was passiert, wenn sie ihre Fähigkeit, wahrzunehmen und zu kommunizieren ganz verliert? Geht ihre Seele in lebenslange Isolationshaft, bis sie endlich im Paradies erlöst wird? Kann ich dann nur noch die Erinnerung daran spüren und lieben? Schlafe ich nur noch mit einer Illusion? Nein, Valerie, die Liebe ist nichts als eine biochemische Reaktion, ein genialer Trick der Natur. Sie wächst, verändert sich, verfällt und stirbt mit uns.“
Übelkeit stieg in mir auf und Stephan durchbrach meine Sprachlosigkeit: "Wie wäre es, wenn ihr beide ein paar Tage zu meiner Schwester ins Allgäu fahrt? Du kannst ein wenig ausspannen und Gisela wird die Abwechslung gut tun.“
Und so fuhren wir. Hundert Kilometer. An einer Raststätte räumte Gisela ein Süßigkeitenregal ab, verfluchte die herbeigeeilte Verkäuferin und ließ sich nur unter lautem Protest und unter den entgeisterten Blicken der anderen Kunden wieder ins Auto verfrachten. Plötzlich war ich müde und erschöpft und wusste, dass ich es nicht schaffen würde. Es würde keinen Urlaub geben, ich würde mit Gisela zurückfahren und meine Koffer packen.
Drei Stunden nach der Abfahrt stellte ich unsere Taschen wieder zu Hause ab. Gisela stieg langsam vor mir die Treppen hoch, ging über den Gang und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Ruckartig blieb sie stehen, deutete mit dem Zeigefinger in den Raum hinein und begann schrill zu lachen.
Über ihre Schultern hinweg sah ich zwei nackte Beine, die sich um einen weißen Männerhintern geschlungen hatten. Und es begann das Jahr Eins nach Stephan.