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Jahreszeiten
Vielleicht war die Situation, so, wie sie jetzt war, am besten. Noch vor einigen Monaten sah alles ganz anders aus. Das Ende war voraussehbar gewesen, jedoch nicht in dieser Art und Schnelligkeit, mit der es schließlich gekommen war.
Maria starrte auf den Boden.
„Frau Roth?“ Jäh aus ihren Gedanken gerissen blickte Maria auf. „Ich habe hier die noch fehlenden Unterlagen.“ Herr Gendreis wandte sich zum Gehen. „Schauen Sie sie durch und schreiben Sie mir einen Bericht darüber. Ich brauche ihn am besten heute noch und zwar perfekt! Unser lieber Herr Marndthal hat sich ja einiges an Aufträgen entgehen lassen durch seine Schlampereien bei Holthoff. Wir brauchen jetzt wieder gute Arbeit!“
Maria sah den Abteilungsleiter an: „Ich bearbeite die Unterlagen sofort. Sie werden sie so schnell wie möglich auf Ihrem Schreibtisch haben.“ Der Abteilungsleiter nickte kurz und verließ grußlos den Raum. Maria blickte kurz auf die Unterlagen, aber ihre Gedanken wanderten wieder zu Marcel.
Marcel Marndthal, vor etwas über einem Jahr von der Firma eingestellt, hatte diese vor kurzem wieder verlassen. Das Ende einer Geschäftsbeziehung, die den Namen nicht verdiente. Maria war daran zwar nur geringfügig beteiligt, dennoch hatte vor allem Marcel tief in ihrer Seele Eingang gefunden.
„Guten Morgen, Frau Roth. Darf ich mich kurz vorstellen? Ich bin Marcel Marndthal. Sie sind also unsere neue Projektleiterin. Schön, Sie nun hier bei uns zu haben!“ Marcel hatte ein offenes Lächeln auf dem Gesicht als er weitersprach: „Ich habe schon von Ihnen gehört und von Ihrem Interesse an unserem Projekt. Als erstes wären hier…“ und während Marcel über das Projekt sprach, wanderte ihr Blick über sein Gesicht und seinen leichten Bauchansatz um dann in seinen grünen Augen hängen zu bleiben. „Frau Roth, dann ist das ja geklärt. Darf ich Ihnen noch Frau Müller vorstellen? Sie arbeitet mit an den eben genannten Dingen.“ Maria durchfuhr ein Schreck: Über was um alles in der Welt hatte Herr Marndthal gerade gesprochen? Vor lauter Gedankenversunkenheit hatte sie nichts von dem mitbekommen, was er ihr erläutert hatte. So lächelte sie verlegen und begrüßte dann Frau Müller, während sich Herr Marndthal kurze Zeit später entschuldigte, um sich um seine Unterlagen zu kümmern.
Maria wusste genau, dass es nicht an ihr lag, dass Marcel nun gegangen war. Damals konnte sie es aber nicht verhindern, trotz ihrer Versuche, ihm zu helfen, den Ärger Herrn Gendreis’ noch einmal abzuwenden. Ihre Bemühungen verliefen aber ziemlich schnell im Sande und wichen der Erkenntnis ihrer Ohnmacht.
Im Laufe der Zeit hatte es sich ergeben, dass sie sich mit Vornamen ansprachen. Schließlich arbeiteten sie bereits eine Weile zusammen und auch Frau Müller, die sich dem Duzen angeschlossen hatte und sich als „Gabi“ vorgestellt hatte, war mit Marcel schon länger per Du.
Nach der Arbeit blieb man noch kurz an der Garderobe stehen um zu plaudern und auch die kurzen Pausen zwischendrin verbrachten sie mit Gesprächen über Persönliches, so dass Maria Gabi und vor allem Marcel immer besser kennen lernen konnte. „Habt ihr gesehen, dass nächste Woche im Gartencenter die Geräte um 20 Prozent billiger sind?“ - „Ach, das ist aber schade.“ Maria zog die Stirn in Falten. „Ich habe neulich eine neue Schaufel gebraucht und so habe ich sie gekauft. Hätte ich doch noch gewartet. Auf die zwei Wochen wäre es dann auch nicht mehr angekommen!“
Marcel lächelte sie an: „Ich habe neulich meinen Garten gedüngt. Der neue Dünger, den sie jetzt anbieten überzeugt mich. Ich habe einfach den Eindruck, als würde mein Garten sich förmlich danach ausstrecken. Jedenfalls wächst der Rasen viel schöner und auch meinen Tomaten scheint er gut getan zu haben“. Gabi verzog die Mundwinkel: „Soso, na, ob es der Dünger ist oder nicht einfach das schöne Wetter? Ich halte von dem ganzen Zeug nicht so viel. Ist nur Geldmacherei.“ Marcel zuckte die Schultern: „Ich dünge jedenfalls weiter.“ Maria ergänzte: „Ich bin auch überzeugt, dass damit die Pflanzen gut versorgt sind. Von dem Regen, so schmutzig wie der jetzt ist, bekommt der Garten doch nicht, was er braucht!“
Nach und nach wuchs ein Gefühl der Vertrautheit zwischen Maria und Marcel. Gabi und Maria näherten sich einander etwas vorsichtiger an. „Maria, Marcel, ich muss heim. Viel Spaß noch bei eurem Fachsimpeln!“ Maria sah Gabi fragend an: „Wir gehen gleich noch hoch zur anderen Abteilung wegen des letzten Berichts. Vielleicht ist noch jemand da. Komm doch mit!“ Aber Gabi lehnte die freundschaftlich gemeinten Angebote öfters ab, so dass Maria schließlich auch nicht mehr nachfragte. So arbeiteten Maria und Gabi weiterhin zusammen, bislang ohne größere Sympathie füreinander. Mit Marcel hingegen verband Maria eine immer tiefere Freundschaft. Sie entdeckte seinen feinen Sinn für Humor und lernte nach und nach immer neue Facetten seiner Persönlichkeit kennen, die sie mehr und mehr faszinierten. Umso schockierender war dann der Tag seiner Kündigung gekommen.
Seine Abwesenheit war zunächst ein fremdes Gefühl gewesen, etwas Unbekanntes, das sie ein Stück weit schmerzte. Mittlerweile jedoch war auch das wieder Gewohnheit geworden und neue Projekte erforderten ihre Aufmerksamkeit, so dass sie im Alltag kaum Zeit fand, genauer nachzudenken, in stillen Stunden dafür umso mehr. Mit Gabi hatte sie sich dennoch gut arrangiert. „Was machst du denn heute noch?“ – „Ja, mal sehen, vielleicht lesen? Ich habe noch einen Stapel ungelesener Bücher, die am Dienstag wieder in die Bücherei müssen. Aber…“ Sie sah Maria verschwörerisch an: „Wer weiß, vielleicht schaffe ich es auch schon bis zum Wochenende! Ich liebe Bücher!“ Sie lächelte. „Tja, warum auch nicht?“ Maria lächelte vorsichtig zurück. Immerhin ein Pluspunkt, dachte sie. Gabi ist also doch nicht so emotionslos, wie ich immer dachte. „Also, ich geh dann mal. Bis morgen!“ Maria sah Gabi nach, bis die Tür dumpf ins Schloss fiel. Es war nicht ganz einfach, an Gabi heranzukommen und an manchen Tagen verließen sie ihre guten Vorsätze, doch heute war es erstaunlich gut gegangen. Vielleicht wurde das ja doch noch was. Marias Gedanken schweiften in der neu entstandenen Stille wieder ab: „Ach, Marcel“, flüsterte Maria vor sich hin. „Wärst du noch hier, dann hätten wir viel zu lachen. Vielleicht würde auch Gabi mitlachen?“. Sie lächelte wehmütig beim Gedanken an Marcel und ließ ihren Blick aus dem Fenster wandern. Manchmal genügte ein Wort, ein Bild oder ein Duft, der sie erreichte, aus, um die alten Erinnerungen wieder wach werden und ihre Gedanken zurückreisen zu lassen in die Zeit, in der zwischen ihm und den anderen nach außen hin noch alles in Ordnung schien, auch wenn sich bereits kleine, fast unsichtbare Risse im Fundament zeigten.
Maria atmete tief ein und dachte an ihr letztes Gespräch mit Marcel in der Firma.
„Maria…“ Überrascht schaute Maria von ihrem Bildschirm auf Marcel, der nervös seine Hände ineinander verdrehte. „Marcel?“ Mit einem verwunderten Blick nahm sie seine heute etwas angespannte Haltung und seine verkrampften Hände wahr. „Ist irgendetwas passiert?“ „Maria…“ Marcel schaute ihr nicht in die Augen, als er weiter sprach. „Ich muss mit dir reden. Sofort!“ Gabi spitzte neugierig die Ohren, wandte sich dann aber wieder ihrer Arbeit zu, als Maria aufstand, ihr ein kleines Lächeln schenkte und mit Marcel aus dem Raum ging. „Komm, Marcel, reden wir in die Cafeteria!“ Marcel richtete sich etwas auf und folgte ihr durch die Tür.
In der Cafeteria angekommen setzen sie sich an einen freien Tisch. „Marcel, was ist denn nun?“ Er wich ihrem Blick aus. „Lass uns erst mal einen Kaffee holen!“ Maria wollte schon aufstehen, doch Marcel legte kurz seine Hände auf ihre und bedeutete ihr damit, sitzen zu bleiben. Seine Hände fühlten sich heute kalt an, irgendwie unsicher. Maria sah zu, wie Marcel den Kaffee holte und, wieder am Tisch angekommen, die Tassen mit leicht zitternden Händen abstellte, so dass etwas Kaffee auf die Untertasse schwappte. Maria zog nachdenklich ihre Tasse zu sich heran. „Maria…“ Marcel brach ab und vergrub seufzend das Gesicht in den Händen. „Marcel…“. Maria strich ihm mit einer spontanen Geste über den Arm. „Irgendetwas ist passiert, das merke ich doch. Willst du darüber reden?“ Sein Gesicht tauchte hinter seinen Händen auf: „Ich könnte es dir sowieso nicht lange verschweigen. Du würdest es gleich merken!“ Maria durchfuhr ein Schreck: was merken? Hatte er etwa eine andere Freundin? Doch das hätte sie bestimmt mitbekommen, oder doch nicht? „Du weißt doch, was in letzter Zeit los war!“ Sie nickte mechanisch. „Ja, wenn du die Arbeit hier meinst, dass du und Herr Gendreis euch nicht so gut verstanden habt. Das ist offensichtlich!“ „Genau!“ Marcel zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, ich hab mich vielleicht nicht immer richtig verhalten, aber…“ Er brach ab. „Aber?“ wiederholte Maria sanft. „Ich…weißt du….das ist nicht so einfach. Ich bin…Herr Gendreis hat…“. Marcel holte tief Luft und blickte sie an: „Also, kurz gesagt. Er hat mir gekündigt!“ Maria trafen diese Worte wie ein Schlag ins Gesicht. Ihre Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. „Warum?“ Er streichelte ihre Hände: „Ich kann es dir nicht genau sagen. Ich hab wohl Mist gebaut, Termine nicht genau eingehalten, hatte es geheißen, Aufgaben nicht vollständig erledigt. Holthoff, du weißt. Ach ja…“ Er seufzte: „Es war einfach eine Verkettung unglücklicher Umstände, die zu meiner Kündigung geführt haben!“ Maria biss sich auf die Lippen, während sie krampfhaft versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Marcel zuckte die Schultern: „Gendreis war wohl so verärgert, dass das und auch anderes gleich die Geschäftsleitung mitbekommen musste, dank ihm, wohlgemerkt! War wohl seine persönliche Rache.“
Schweigend saßen Maria und Marcel da und jeder hing seinen Gedanken nach, bis Marcel die Stille brach: „Maria, jetzt ist es gesagt. Ich gehe im September, das ist noch ein wenig Zeit bis dahin, auch wenn mich manche Leute am liebsten sofort auf die Straße setzen würden“. Er lachte bitter. Sie wagte ein kleines Lächeln durch ihre Tränen hindurch: „Es war und ist nicht leicht, diese ständigen Spannungen…Ich bin da ja nicht so drin verwickelt, aber es berührt mich schon. Du bist mein Kollege, und vielleicht auch mehr als das…“ Maria schaute ihm in die Augen: „Gendreis versucht ja, den Schein aufrechtzuerhalten, damit ja keiner zuviel mitkriegt. So ist das doch. Heile Welt, die es so gar nicht gibt!“ Marcel presste bei diesen Worten die Lippen aufeinander. Maria brach jäh ab. „Vielleicht müssen sie einfach ihre Macht ausspielen“. Marcels Augen funkelten: „Und dazu bin ich gerade richtig. Jaja, mit mir kann man es ja machen…“ Sein Sarkasmus war unüberhörbar. Maria wagte nicht zu sagen, dass sie die Kündigung, so gern sie Marcel hatte, auch ein Stück weit verstehen konnte. Sie erschrak: zu wem hielt sie eigentlich? Wer war ihr wichtiger? Die Firma oder Marcel? Eine Gemeinschaft ohne Ecken und Kanten war es ja zwischen beiden Parteien ohnehin nie gewesen. Vielleicht musste dieses Ende kommen um Schlimmeres zu verhindern? Auch eine Geschäftsleitung muss Prioritäten setzen und ihre Grenzen abstecken. In diesem Fall war es nicht damit getan, Marcel einer anderen Abteilung zuzuweisen, das wusste Maria. Denn die gleichen Fehler könnten auch dort passieren. So hart es klang, Schlamperei konnte man sich in keiner Firma erlauben.
In den Gedanken an dieses Gespräch in der Cafeteria versunken sah sie aus dem Fenster. Gabi blickte zu ihr hinüber: „Maria, denkst du wieder an ihn?“ Sie lächelte mitleidig: „Ich hab doch längst gemerkt, dass das was im Busch ist. Vermisst ihn, hm?“ Maria wandte sich zu ihr: „Ja, ach, es ist alles nicht so einfach!“ „Das ist wohl wahr!“, entgegnete Gabi. „Wird schon weitergehen!“ „Ich wünschte, es wäre so!“ Gabi lächelte sie an, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte. Maria versank wieder in ihrem Tagtraum. Es war ihr manchmal so, als käme Marcel gleich um die Ecke, mit diesem unvergleichlichen Lächeln, das aus seinem Gesicht strahlte, wenn er sie erblickte und den grünen Augen, in denen sie jedes Mal neu versinken könnte. Sie würde seine Schritte von weitem erkennen, wissend, dass er nach dem Öffnen der Tür stets ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen hatte. „Hi Maria.“ Sie dachte daran, wie er ihr zugezwinkert hatte: „Ich hab nachher was für dich!“ Maria hatte diese kleinen Überraschungen geliebt, die unvorhersehbar waren. Wenn sie niedergeschlagen war, tröstete er sie stets. Besonders dieser eine Tag, als ihr wieder nichts gelingen wollte, war ihr im Gedächtnis geblieben:
„Maria!“ – „Ja…“ – „Komm schon, was ist los? Du siehst heute nicht gerade fröhlich aus!“ Er nahm ihre Hände in seine, so dass sie die Wärme spüren konnte und das gute Gefühl menschlicher Nähe empfand. „Ach, Marcel. Ich könnte gerade alles hinschmeißen. Nichts scheint zu klappen!“ Marcel drückte ihre Hände: „Ich mach dir erst mal einen Tee. Ist grüner okay?“ Sie nickte ihm dankbar lächelnd zu. „Marcel…“. „Schscht. Wird schon wieder!“ und ihre Blicke verloren sich ineinander. Marcel war da, wenn sie niedergeschlagen war. Anfangs versuchte er sie zu trösten, indem er ihr kleine Aufmerksamkeiten erwies, ihr ihren Lieblingstee kochte und brachte. Mit der Zeit und zunehmender Vertrautheit stupste er sie an. „Maria!“ – „Ja, du musst ja denken, ich sei immer so….“ – „Nein, ich kenne auch deine andere Seite. Heut ist einfach nicht dein Tag.“ – „Nein“, murmelte Maria zurück. Er stand auf um das Rollo am Fenster etwas herunterzulassen, damit die Sonne nicht mehr so blendete. Maria erhob sich ebenfalls: „Lass doch, Marcel. Ich mag die Sonne!“ Er ließ die Arme sinken und drehte sich zu ihr um. Sie bemerkte, wie er auf ihre Haare schaute, auf den Glanz, den die Sonne dort hinterließ. Er faszinierte ihn, das merkte sie. „Maria…“ Er ging einen Schritt auf sie zu und breitete die Arme aus. Anfangs zögerte sie, kam dann aber doch näher und ließ es zu, dass er die Arme um ihren schlanken Körper legte, sein Gesicht in ihren Haaren vergrub: „Du hast wunderschöne Haare. Hat dir das schon mal jemand gesagt?“ Innerlich seufzend schloss Maria die Augen, um dieses Kompliment in sich aufzunehmen und Marcels unverwechselbaren Duft einzuatmen.
Das Klingeln des Telefons riss Maria aus ihren Tagträumen: „Roth?“ Nachdem sie die gewünschte Auskunft gegeben hatte, legte sie auf. Maria dachte nach. Wie anders hatte sich doch Marcels Stimme am Telefon angehört. Ganz Geschäftsmann. Und wie zärtlich konnte er gleichzeitig zu ihr sprechen. Niemals mehr würde sie nach einem anstrengenden Tag zu ihm kommen können, wissend, dass er für ihre Nöte und Sorgen immer ein offenes Ohr gehabt hatte. Seine sanften Berührungen, die Vertrautheit ohne Worte, fehlten ihr. Bei diesen Gedanken seufzte sie leise und wieder einmal überkam sie die Sehnsucht. Die Zeiten des gemeinsamen Arbeitens waren endgültig vorbei und sie musste sich an die neue Situation gewöhnen. Es würde noch lange brauchen, bis sie diese Tatsache wirklich realisiert haben würde.
Gegen 18 Uhr verabschiedete sich Maria von Gabi und zog sich ihren Mantel an. „Bis morgen, schönen Abend noch“ rief Maria im Hinausgehen und holte gleichzeitig ihr Handy aus der Handtasche. Ein kurzer Blick darauf zeigte ihr, dass sie eine neue SMS erhalten hatte. Von Marcel: „Hallo Maria, habe gerade viel zu tun, daher komme ich momentan zu nichts. Sorry. Wird sich ändern. Liebe Grüße, Marcel“. Maria steckte das Handy wieder ein. Vor vier Wochen hatten sie sich das letzte Mal gesehen, nur kurz, weil er auf Geschäftsreise musste. Erstaunlich schnell hatte er nach seiner Kündigung einen neuen Arbeitsplatz gefunden, leider fast 80 Kilometer von ihrem entfernt. So wurde es unmöglich, sich jeden Tag sehen zu können. Über SMS und Briefe hielten sie Kontakt. „Ich telefoniere nicht so gerne. Ich liebe den Klang deiner Stimme, aber ich möchte dich dabei vor mir sehen. Vielleicht rufe ich dich zwischendrin an. Aber lass uns doch solange Briefe schreiben!“, hatte Marcel sie gebeten. „Wieso nicht per Telefon? Wenn ich dich nicht sehen kann, will ich doch wenigstens deine Stimme hören können.“ – „Maria, ich weiß, es klingt komisch, aber in Briefen kann ich mich besser ausdrücken. Es fällt mir schwer, besonders meine Gefühle gleich ausdrücken zu können.“ Maria hatte genickt: „Na gut!“. Vielleicht war diese Art der Kommunikation auch dazu geeignet, sich noch besser kennen zu lernen, als das ständige Telefonieren. In seinen Briefen kamen viele tiefe Gefühle zum Ausdruck, die sie in der Zeit seines Daseins nicht in dieser Intensität wahrgenommen hatte.
Die Schiebetür öffnete sich automatisch und entließ Maria in die Dunkelheit des Abends.
„Ja, Marcel?“ Das Klingeln ihres Handys hatte Maria aus dem Schlaf gerissen. „Weißt du, wie spät es ist?“ – „Nein“, und seine Stimme klang schelmisch. „Maria, ich wollte dir nur sagen, dass ich dich nicht vergessen habe, auch wenn du länger von mir nichts gehört hast. Die Arbeit…“ Maria seufzte: „Ja, ich weiß. Aber wo soll das hinführen? Deine Arbeit ist dir wohl wichtiger als ich…“ – „So darfst du das nicht sehen. Schließlich bin ich erst kurze Zeit hier und muss mich mit voller Kraft einbringen. Ich bin ja froh, so schnell eine neue Stelle gefunden zu haben. Du weißt doch sicher noch, dass…“ Seine Worte perlten an ihr ab. In letzter Zeit hatte er ständig zu tun, so dass sie sich fragte, ob sie sich nicht doch zu viele Gefühle eingebildet und aus seinen Briefen herauszulesen gemeint hatte. War das nur ein kurzer Flirt gewesen oder doch mehr?
In diesen Gedanken versunken verbrachte Maria die nächsten Wochen. Nachrichten von Marcel waren spärlich und beschränkten sich auf kurze Sätze. Wieso nur telefonierte er nicht gerne? Wieso nur sahen sie sich nicht? Aber jede vorsichtige Äußerung Marias diesbezüglich wies Marcel zurück. „Was ist los, Marcel?“, flüsterte Maria. Doch keiner antwortete ihr.
Monate später. Der Winter, die Zeit der grauen Tage und der dunklen, langen Nächte, war vorbei, die Nebelschleier, die lange genug über den Wiesen gehangen hatten, langsam verflogen und die ersten Anzeichen des Frühlings wurden sichtbar. An Büschen und Bäumen begannen sich kleine, zarte Blätter zu entfalten und hier und da war ein Vogel aus dem noch jungen Grün zu hören. Maria ging im Schein der ersten warmen Sonnenstrahlen die Straße entlang, die kühle Luft in der Nase. Das gute Gefühl eines Neuanfangs machte sich in ihr breit. Gestern war eine kurze Nachricht von ihm gekommen. Er habe viel um die Ohren gehabt und es irgendwann einmal nicht mehr geschafft, alles auf die Reihe zu bringen. „Maria“, hatte er geschrieben, und beim Lesen der Zeilen hatte sie seine Stimme noch schwach im Ohr. „Entschuldige bitte. Ich habe mich in meine Arbeit gestürzt, um über meine Kündigung und die Enttäuschung hinwegzukommen. Ich wollte Dich dabei nicht verletzen oder vernachlässigen. Leider hat die Arbeit immer mehr meiner Zeit in Anspruch genommen, so dass ich Dich dann doch vernachlässigt habe. Es tut mir sehr leid. Ich habe Zeit gebraucht. Zeit, um über das Geschehene nachzudenken. Wollen wir beide nicht doch einen Neubeginn wagen, unabhängig von den anderen? Ich möchte dabei nichts überstürzen, aber ehrlich gesagt fehlst Du mir sehr!“ Maria seufzte wohlig. Die Sache war also doch nicht verloren. Sie lächelte beim Gedanken daran und erkannte, dass sich diese Zeit gelohnt hatte.
An ihrer Haustür angekommen, steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Nachdem sie eingetreten war, ließ sie die Tür zufallen und zog sich Mantel und Schuhe aus. Ein Gefühl der Wärme durchflutete sie, das nicht nur von ihrer Wohnung und der einfallenden Sonne kam. Der Schreibtisch war leer. Sie setzte sich davor und zog aus der Schublade darunter einen Bogen Briefpapier. Der Griff nach ihrem Lieblingsfüller erfolgte fast von selbst. Mit einem Lächeln auf den Lippen begann sie zu schreiben.