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Jean und Amélie
„Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?“, fragte mich Jean, während er, einen Grashalm zwischen den Zähnen, in den wolkenlosen blauen Himmel sah. Er stellte die Frage so unvermittelt und so neutral, als hätte er sich erkundigt, was ich heute für mich und Vater gekocht hätte.
Ich sah ihn an, doch seine Augen verrieten mir nichts, keinen Trotz, keine Resignation, keinen Schmerz.
Ein lauer Frühlingswind spielte mit den eben aus dem Schlaf erwachten Blüten, der erste nach einem langen, trostlosen Winter. Ich seufzte und legte meinen Kopf ins Gras.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte ich dann, wobei ich es vermied, ihn anzusehen. Er erwiderte nichts.
Jean hatte Krebs. Vor drei Monaten hatten es die Ärzte bestätigt. Die genaue Diagnose weiß ich nicht. Mein Vater und Frau Chantenne hatten darüber gesprochen, doch als mein Vater fragte, wieviel Zeit man ihm noch gab, bin ich aus dem Zimmer gestürzt. Ich konnte es nicht ertragen.
Nun warf ich doch einen Seitenblick auf Jean, meinen besten Freund seit dem Sandkistenalter. Im Vergleich zu früher ist er etwas dünner geworden, und seine braunen Augen hatten einen wehmütigen, träumerischen Schimmer angenommen, auch wenn er sich weiterhin so gab, als könnte ihn nichts und niemand zerstören, nicht einmal der Tod. Und wenn ich ihn mir so ansehe, glaube ich, er hat recht.
Jean und ich sind zusammen aufgewachsen. Unsere Mütter sind mit uns gemeinsam im Park spazierengegangen, als wir noch im Kinderwagen lagen. Er und seine Mutter kamen jeden zweiten Sonntag Nachmittag zu uns, wo meine Mutter bereits Kaffee und Orangentorte gemacht hatte. Immer, wenn ich damals an sie dachte, dachte ich automatisch auch an jene schönen, friedlichen Stunden in unserem kleinen Wohnzimmer. Meine Mutter ist tot. Sie starb vor drei Jahren bei einem Autounfall. Ein dunkler Schleier umhüllt jetzt meine Erinnerungen an sie. Denke ich an meine Mutter, sehe ich das stets halb abgedunkelte Zimmer und die zierliche, blasse Gestalt auf dem Bett vor mir. Sie war eine sanfte, anmutige Frau; unglücklicherweise war ihre Gesundheit seit jeher instabil. Die geringsten Krankheiten fesselten sie nicht selten wochenlang ans Bett. Oft bleibe ich vor ihrem Portrait stehen, wenn ich das große, nun auf einer Seite leere Bett meines Vaters mache, und frage mich, ob es möglich ist, dass diese Frau tatsächlich meine Mutter ist. Ich konnte mich nie in ihr wiedererkennen. Sie war ein komplett anderer Mensch als ich. Als ich noch kleiner war, glaubte ich, meine Mutter sei ein Engel. Und insgeheim hatte ich gehofft, so zu werden wie sie. Doch einen besonders guten Engel hatte ich nie abgegeben. Oft hatte ich Streit mit Freundinnen, und in meiner Wut war ich agressiv geworden, hatte anderen Mädchen ihre Spielsachen weggenommen oder sie geboxt. Und immer, wenn ich meiner Mutter davon erzählte und sie traurig zu Boden sah, fühlte ich mich schrecklich. Schuldig. Meine Mutter lebte in einer anderen Welt. In einer Welt, in der Ehefrauen ihre Männer liebevoll küssten und umarmten, wenn sie von der Arbeit heimkamen. In der Freundinnen sich zur Begrüßung ein Küsschen auf die Wange gaben.
„Was grübelst du?“, fragte Jean lachend. Ich schüttelte den Kopf. „Ach....gar nichts.“
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander.
„Deine Mutter hat erzählt, du gehst immer noch jeden Tag zur Schule“, brachte ich schließlich hervor, ohne wirklich nachzudenken, einfach nur, um die eiserne Decke des Schweigens zu heben, die uns zu erschlagen drohte.
Jean lächelte. „Ja. Ich gehe zur Schule, obwohl ich sowieso bald abkratze. Verrückt, nicht?“ Er schloss die Augen und legte seinen Kopf ins Gras, während mich die schrecklichsten Schuldgefühle quälten.
„Es...es tut mir leid...ich wollte nicht...“, stammelte ich. Ich fühlte mich seltsam. Eigentlich fühlte ich gar nichts. In mir breitete sich die schwarze Leere aus.
Jean sah mich an und schüttelte lächelnd den Kopf. „Mach nicht so ein Aufheben, Amélie.“ Der Wind wurde stärker. Ein kühler Frühlingsabend stand bevor.
Nicht so ein Aufheben machen? Der Kloß in meinem Hals wurde größer. Mein bester Freund, mein ehemaliger Sitznachbar aus der Maternelle wurde langsam, unaufhörlich von dem unerbittlichen Tumor aufgefressen. Und er sagte, ich sollte kein solches Aufheben machen.
„Weißt du, ich habe mich damit abgefunden.“ Ich erstarrte. Ich habe mich damit abgefunden. Damit. Mit dem baldigen Tod. Und das aus dem Mund eines gerade mal siebzehn Jahre alten Jungen. Ich wollte etwas erwidern, aber meine Kehle war wie zugeschnürt.
„Ich habe kein besonders langes Leben gehabt.“, setzte Jean wieder an. „Aber ich hatte ein schönes Leben. Und ich habe viel erlebt. Schlechtes, aber auch viel Schönes.“ Während er das sagte, überzog der in letzter Zeit so häufig auftauchende träumerische Ausdruck sein Gesicht.
„Ah“, sagte ich ausdruckslos. Meine Miene musste zu Stein erstarrt sein, jeden falls sah Jean mich mit verwirrtem Gesichtsausdruck an. Wortlos stand ich auf. Und bevor ich noch einen klaren Gedanken fassen konnte, bewegten sich meine Füße schon vorwärts, in Richtung Chantilly. Im Laufen war ich immer Klassenbeste gewesen. Aber es interessierte niemanden besonders. Laufen oder überhaupt Sport gehörte nicht zu den Dingen, weswegen man ein Mädchen an unserer Schule in den Himmel lobte. Anders als die Tatsache, blondgelockt und zierlich zu sein und nicht einmal bis zur vorletzten Etage des Bibliotheksschrankes zu reichen. Das waren Eigenschaften, die einen in den Himmel hoben.
Chantilly tauchte hinter dem Hügel auf. Aus dem Schornstein kam Rauch. Chantilly. Sahne. Mutter hatte das alte Landhaus so getauft, da der vorige Besitzer es blitzend weiß gestrichen hatte. Jetzt war es nicht mehr weiß. Seine Farbe erinnerte an ein weißes Leintuch, das viele Jahre am staubigen Dachboden gelegen ist. Die Tulpen und Rosen in den ehemals gehegten und gepflegten Blumenbeeten wucherten im ganzen Garten. An den schmutzigen Hauswänden rankte sich eine Efeuplanze.
„Amélie! Warte!“ Jean war mir gefolgt. Er stand am Fuß des Hügels und holte tief Luft.
„Nichts für ungut. Du solltest sie besuchen. Sicher vermisst sie dich“, erwiderte ich kühler als beabsichtigt, bevor ich weiterrannte. Vor dem Eingangstor zu Chantilly blieb ich stehen und zwang mich zur Ruhe. Ich würde jetzt zurückgehen und lernen. Das hatte ich sowieso dringend nötig. Genau das würde ich tun. Mein Leben weiterführen wie eh und je.
Zwischen den Weidenblättern blitzte es rot. Wir hatten Besuch. Ich seufzte und betrat die Halle. Hier bröckelte der Verputz von der Wand. Vater hatte einmal versucht, den Raum neu zu streichen. Er hatte sogar Blumen auf das einsame kleine Mahagonitischchen gestellt. Gelbe Tulpen, Mutters Lieblingsblumen. Doch die frische Farbe begann nach kurzer Zeit abzubröckeln, und die Tulpen hatten zuwenig Licht in dem verlassen wirkenden Zimmer und ließen nach wenigen Tagen die Köpfe hängen. Es schien so, als wollten nicht einmal die Zimmer des Hauses mehr fröhlich sein, seit Mutter gegangen war.
Aus dem Salon drang gedämpftes Geplauder. Ich trat ein, obwohl sich etwas in meinem Inneren klar und deutlich dagegen sträubte.
„Amélie!“, rief Mme Bleuvert in diesem Moment. Nun war ich entdeckt worden, es gab kein Entkommen mehr.
Mmme Bleuvert kam auf mich zu und drückte mich an ihren parfümierten Körper. Ihr Parfum erinnerte mich jedes Mal unwillkürlich an alte Stadthäuser mit luxuriösen Wandteppichen und kostbaren Vasen auf kleinen Ebenholztischchen.
Mmme Bleuvert ließ mich los, und nun stand ich ihr gegenüber. Sie trug ein hellblaues Sommerkleid, und ihr blondes Engelshaar fiel ihr über die Schulter. Caroline. Caro. Alleine dieser Name klang nach einem zarten Geschöpf in Riemchenschuhen, adretten Kleidern, guten Noten und zartem Parfum, kurz, nach einem richtigen Mädchen. Und hier war ich, Amélie, mit den ständig zerzausten Haaren, Amélie, der man erklären musste, wozu ein Lipgloss gut war, Amélie, die ihre Puppen nie frisiert und in schöne Kleidchen gesteckt, sondern vom Treppengeländer geworfen und somit enthauptet hatte.
Amélie, die immer verschlief und sich gerade so durchs Lycée St. Antoine schleppte.
„Hallo, Amélie“, flötete Caro mit ihrer sanften Stimme.
Mein Vater kam gerade mit einem Tablett mit verschiedensten Kuchenstücken herein.
„Ah, da bist du ja endlich“, sagte er. „Willst du nicht mit Caro in dein Zimmer gehen? Unsere Gespräche werden euch wie immer kaum interessieren.“ Er und Mmme Bleuvert lächelten unisono.
Caro stand, ebenfalls lächelnd, auf. Heute blieb mir aber auch gar nichts erspart. Bemüht, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen, stapfte ich aus dem Salon und stieg die gewundene Holztreppe hinauf. Caro folgte mir. Ich würde mich zwingen müssen, sie nicht anzugiften, sie nicht gehässig zu behandeln und sie möglichst ernst zu nehmen. Gar keine so leichte Aufgabe.
Caro durchquerte mein Zimmer und setzte sich vor Bibis Käfig. Entzückt nahm sie den großen Hasen heraus und kraulte ihn hinter dem Ohr.
Meine anfängliche Wut verwandelte sich in Resignation. Es war zwecklos. Sogar mein eigenwilliger Hase, der sonst mit Vorliebe Besucher biss, mochte Caro.
Wieder wurde ich von übermächtigem Widerwillen überwältigt. Doch gleichzeitig kam die Einsicht. Caro war süß, unselbstständig und alles andere als hart im Nehmen, doch abgesehen von diesen sehr fadenscheinigen Argumenten hatte ich keinen vernünftigen Grund, sie zu hassen. Vielmehr hätte sie Grund, mich zu hassen. Ich war es, die sie früher immer an den Haaren gezogen und ihr mit meiner offenbar unangemessenen Wildheit Angst eingejagt hatte.
„Wie geht es dir in der Schule?“, erkundigte sich Caro mit ehrlicher Liebenswürdigkeit.
Ich wand mich innerlich. „Ach, einige Problemchen hier und da, aber es wird schon klappen.“
Nie hätte ich ihr von den beiden Mahnungen erzählt, die vor zwei Wochen in mein Haus geflattert waren.
Wir saßen einige Zeit da, ich auf den wenigen freien Quadratzentimetern meiner angeräumten Couch, sie auf dem Boden mit Bibi.
Um die drückende Stille zu überbrücken, griff ich nach der Fernbedienung und wählte beliebig einen Kanal. Die Quizshow war nicht herausragend interessant, doch ich konnte wenigstens legitim meinen Blick von Caros hübschem Gesicht wenden.
Ich benahm mich keineswegs meinem Alter entsprechend. Mit siebzehn grollte ich aus nicht ganz klar bestimmbaren Gründen einer naiven Fünfzehnjährigen, die arglos auf dem Boden meines chaotischen Zimmers hockte und meinen griesgrämigen Hasen in eine zahme Hausbestie verwandelte.
Und doch gab es in mir, wie vermutlich in jedem Menschen, einen Einspruchserheber, ein nichtmaterielles, gehässiges Etwas, das einen unter anderem immer wieder daran erinnert, dass man die letzte Arbeit verpasst hat und deswegen nicht untätig vor dem Fernseher herumhängen sollte.
Auch dieses Mal erhob es Einspruch und gab seine lautlosen beleidigenden Bemerkungen ab wie jedes Mal, wenn ich Caro im Stillen naiv und unwissend nannte.
Denn auch wenn sie noch so wenig Ahnung von Wirtschaft und Politik hatte und bei jedem Weitwurf-Wettbewerb neben mir hoffnungslos versagen würde, so hatte sie zumindest eine Erfahrung mehr gemacht als ich.
Missmutig schüttelte ich meine Gedanken ab, die mir ärgerlicherweise einen kleinen, fast unmerklichen Stich zufügten.
Ich hasste Caro nicht für das, was vor gut einem Jahr geschehen war. Sie war kaum mehr als ein Kind, das mit seinen grünblauen Augen erstaunt und neugierig in die große weite Welt blickte.
Doch Jean war damals schon fast erwachsen. Er hätte es besser wissen müssen.
Ohne dass ich es gemerkt hatte, hatten sich meine Hände bei diesen Erinnerungen krampfhaft verknäult. Erst jetzt bemerkte ich, dass Caro den Hasen in den Käfig zurückgesetzt und sich auf mein Bett neben der Couch gesetzt hatte.
„Du machst dir auch Sorgen, oder?“ Sie schaute mich mitfühlend an. Keine Gehässigkeit, keine versteckte Andeutung, kein Verdacht.
Da sie von mir keine Antwort erhielt, fuhr sie fort. „Weißt du, manchmal habe ich Alpträume. Richtig schlimme Alpträume. Ich sitze auf den Stufen vor unserem Haus und warte darauf, dass ein blaues Auto die Straße hochkommt und er auf dem Beifahrersitz sitzt. Doch ich warte und warte, die Sonne geht unter, und er ist immer noch nicht da. Und in dem Moment weiß ich, ich werde ihn nicht mehr sehen.“ Sie hatte den Blick gesenkt, ihre Augen fixierten einen unbestimmten Punkt in meinem Zimmer.
In diesem Moment konnte ich nicht mehr. Ich sprang von der Couch auf und rannte aus dem Zimmer, ohne die Tür hinter mir wieder zu schließen. Beim Davonlaufen hörte ich immer noch den plärrenden Fernseher, und eine Frauenstimme rief in übertrieben hoher Tonlage. Und die Antwort ist.....rrrrrrrichtig! Und somit geht unser heutiger Gewinn zu Marcel aus Lyon. Herzlichen Glückwünsch, Marcel!
Ich hastete ins Erdgeschoss hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Vorbei am Zitronenbaum meiner Mutter, vorbei an Papa und Mme Bleuvert. Ihr höfliches Lachen schwirrte mir wie ein Echo in den Ohren.
Draußen hatte sich der Wind gehoben und ließ die Äste der Trauerweide wie einen Schleier flattern. Die Sonne war bereits am Untergehen, als ich über den morschen Steg rannte, weit hinaus auf die Felder. Und da sah ich ihn. Er saß noch immer an derselben Stelle wie vorher und starrte gedankenverloren in die Ferne.
Als er meine Schritte hörte, drehte er den Kopf. Da war ich auch schon neben ihm, schlang meine Arme um ihn und drückte meinen Mund auf seinen, als wäre dies der einzige Moment, der wirklich zählte, als hätte ich siebzehn Jahre lang alleine auf den Augenblick gewartet, in dem ich mit meiner abgefransten Jeans im kalten Wind auf diesem Feld sitzen und meinen todgeweihten Freund ein einziges Mal küssen würde.
Einen Moment kostete ich noch das Gefühl von Jeans Lippen auf den meinen aus und die Wärme, die von seinem Körper ausging. Dann riss ich mich los und rannte zitternd und weinend zurück in Richtung Chantilly. Unter dem alten Weidenbaum brach ich zusammen. Erschöpft ließ ich meinen Kopf gegen die harte Rinde sinken.
Papa und ich folgten Mme Bleuvert und Caroline. Angeführt wurden wir von Laurence Petrier, Jeans Vater, ein Mann, der in den letzten Tagen um ein ganzes Jahrzehnt gealtert zu sein schien.
Plötzlich blieben wir alle stehen. Caroline trat vor. Mit ihrer rechten Hand umklammerte sie den Margaritenstrauß so fest, dass ihre Knöchel weißlich schimmerten.
In ihrem langärmeligen schwarzen Kleid wirkte sie noch zerbrechlicher als sonst. Und doch war sie nicht mehr dieselbe, als sie ernst und zugleich unendlich traurig vor dem Marmorstein kniete und die Blumen auf das Grab legte.
Mit gesenktem Blick richtete sie sich langsam wieder auf, ganz so als koste ihr diese Bewegung ihre letzte Kraft. Mmme Bleuvert kam auf sie zu und legte beide Arme um ihre Tochter, während sie leise auf sie einsprach.
Ich trat näher.Wieder und wieder las ich die Inschrift auf dem Marmorstein, immer noch unfähig, sie vollständig zu begreifen. Jean Petrier, *17.03. 1962, † 8.11. 1979.
Ich legte eine weiße Lilie auf das Grab.