Jeanette, 20, Kettenkauerin
Jeanette, 20, Kettenkauerin
Jeanette hat eigentlich kein Problem außer ihrer Kaugummisucht. Es fing irgendwann mit zwölf oder dreizehn Jahren an, damals aß sie immer ein Kaugummi nach den Mahlzeiten. Sie hatte gehört, das sei gut für die Zähne.
Als sie dann umzogen, musste sie die Dosis um mehrere Streifen erhöhen. Schließlich verlor sie über die Jahre fast gänzlich die Kontrolle über ihren Konsum. Heute, mit zwanzig, benötigt sie mindestens fünf Päckchen am Tag um sich wohl zu fühlen, ein teures Vergnügen, nebenbei bemerkt. Niemals würde sie ohne einen gewissen Vorrat das Haus verlassen. Meistens folgt auf ein ausgespucktes Kaugummi sofort ein frisches.
Wenn sie nervös oder ärgerlich ist, dann können es auch schon mal siebzig Kaugummis an einem Tag werden. In solchen Zeiten verschwindet in Sekundenschnelle das Frischegefühl aus ihrem Mund.
Die Ursachen für diese seltsame Sucht kennt sie nicht. Es interessiert sie auch nicht, schließlich führt sie davon abgesehen ein ganz normales Leben. Sie ist zufrieden mit ihrem Beruf als Kinderkrankenschwester. Geht am Wochenende aus, tanzt gerne. Nach der Arbeit sieht sie fern, am liebsten amerikanische Soaps, sie mag ihre Leichtigkeit.
Eine Beziehung hatte Jeanette noch nicht- aber warum auch, sie ist gerne solo, genießt die Freiheit. Männer interessieren sie nicht besonders.
Und ja, natürlich, tieferen Freundschaften geht sie lieber aus dem Weg, was ja wohl ihre eigene Entscheidung ist. Menschen nerven sie schnell. Sie wollen immer so viel, sie fragen und reden und reden, drängen sich auf.
Aber einsam ist Jeanette wirklich nicht, sie hat viele Bekannte und ihren Beruf, der sie ausfüllt.
Ab und zu fühlt Jeanette sich ein bisschen leer. Doch das ist wohl ganz normal in ihrem Alter.
Ihre Kindheit? Die kommt ihr ziemlich weit weg vor. Sie wühlt nicht gerne in der Vergangenheit, wozu auch?!
Ob sie als Kind etwas Schlimmes erlebt hat? Naja, es war nicht alles schön und gut, aber es läuft schließlich in keiner Familie nur rosig.
Manchmal hat ihre Mutter sie geschlagen, aber sie war auch ein schwieriges Kind, sehr laut und ungezogen, kaum zu bändigen. Das erzählt ihre Mutter heute noch oft.
Sonst war ihre Mutter sehr lieb. Sie hat sich viele Sorgen gemacht. Abends hat sie immer geweint. Worüber, das hat Jeanette nie verstanden.
Sie war Einzelkind, oft hat sie sich einen großen Bruder gewünscht.
Ihr Vater? Über den redet sie eigentlich nicht so gerne.
Er hat nichts falsch gemacht. Sie war so ein unartiges, kleines Mädchen, sie hat ihn praktisch dazu provoziert. Es war ihre Schuld, keine Frage. Das hat er auch gesagt.
Sein Sperma schmeckt sie heute noch häufig auf ihrer Zunge. Nichts vertreibt dieses schale Gefühl aus ihrem Mund.
Vielleicht stimmt es, sie kaut Kaugummi, um den schlechten Geschmack ihrer Kindheit zu vertreiben.
Aber das glaubt sie nicht. Denn eigentlich ist ja alles in Ordnung mit ihr.