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Jeden Tag, alle Tage

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15.11.2005
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Jeden Tag, alle Tage

Sie saß mit angezogenen Beinen auf dem Fensterbrett und starrte hinaus in den kalten, verregneten Nachmittag. Fünf Etagen tiefer wälzten sich Massen dichtaneinandergedrängter Regenschirme in Richtung Stadtmitte. Sie hörte wie der Zug mit dem monotonen Geräusch über Holz schabender Fingernägel, in den tristen, trüben Dunst davonfuhr.
Die Menschen fuhren Zug, liefen hektisch an ihrem Fester vorbei, fuhren wieder Zug. Jeden Tag. Sie ging in die Schule, kam nach Hause, aß etwas, machte Hausaufgaben, setzte sich ans Fenster, ging schlafen. Alle Tage.
Manchmal weinte sie, aber meistens konnte sie es nicht.

Es machte sie verrückt, das alles. Immer das gleiche. Ihr Leben steckte fest und wiederholte sich wie eine kaputte Schallplatte. Ein einziges Labyrinth. Sie fand keinen Notausstieg aus ihrem Leben, keine Tür, über der das leuchtendgrüne Schild hing, mit dem weißen Männchen, dass sie so gerne wäre, weil es diese Tür gefunden hatte.
Sie stellte sich oft vor, was sie hinter dieser Tür finden würde, malte sich aus, wie sie diese Tür finden würde. Aber sie wagte nicht, sie zu suchen. Sie wusste nicht, ob es das Schicksal gab, hörte aber nicht auf, sich zu wünschen, dass irgendwann jemand kam, der ihr zeigte wie das Leben sein konnte. Sie träumte von jenem Märchenprinzen der sie wach küsste, aus der Monotonie ihres Alltags.
Sie träumte von alldem, obwohl sie wusste, dass es keineswegs für jeden Topf einen passenden Deckel gab. Denn es kam darauf an, was in diesem Topf gekocht wurde, ob das Essen überkochte, gar wurde, oder zusammenfiel, wenn man den Deckel darauf tat, oder wegnahm.
Ihr war klar, allein würde sie nie schaffen, etwas zu ändern. Sie war schwach. Sie war zu schwach, sonst wäre sie schon längst aus diesem Fenster gesprungen, an dem sie Tag für Tag saß und in die Wirklichkeit starrte.

Einmal war jemand stehen geblieben. Er hatte nach oben gesehen und ihr zugelächelt. Es war ein unscheinbares, beinahe unsichtbares Lächeln gewesen und doch hatte es sie erreicht. Ein magischer Moment, auf den sie vergeblich Tag für Tag erneut wartete. Dabei wusste sie nicht einmal, ob er wirklich ihr zugelächelt hatte und nicht jemand anderem, in diesem grauen Hochhaus, der auch am Fenster gestanden war. Vielleicht hatte er auch gar nicht gelächelt, damals regnete es.
Sie würde es so gerne erfahren.

Er saß auf einer Bank und ließ den Regen auf sich niederprasseln, war schon so nass, dass er sich selbst als Regentropfen fühlte.
Die Menschenmasse floss an seiner Bank vorbei. Er sah sie nur als dunkle, verschwommene Schlieren. Dunkel, wie alles in dieser Stadt, in seinem Leben. Verschwommen und ohne Konturen, wie alles was er machte, was er dachte.
Er hörte wie der Zug ankam, Menschen ausspuckte, Menschen aufsaugte und wieder fort fuhr. Rote Schlieren zogen sich durch den Regen. Er liebte den Regen, denn wenn er im Regen saß, nass war und sich wie einer seiner unzähligen Tropfen fühlte, konnte er weinen. Und niemand fiel es auf, denn der Himmel weinte auch.
Als die Schlieren fort waren und sich kein Mensch mehr auf dem nackten Bahnsteig befand, stand er schnell auf und ging fort, bevor der nächste Zug kam.
Die nasse Kleidung schlotterte um seinen mageren Körper, während er wie von Sinnen durch die Straßen wandelte, bis er die gefunden hatte, die er suchte. Er blieb hier immer stehen, vor diesem roten Fenster. Jeden Tag, alle Tage. Vor diesem roten Rechteck inmitten grauer und schwarzer die das triste Hochhaus bedeckten.
Einmal saß dort ein Mädchen und sah hinaus. An diesem Tag hatte es auch geregnet. Er hatte ihr zugelächelt, dann war sie niemals wieder hier gesessen.
Er würde so gerne wissen, ob sein Lächeln angekommen war.

 

Holla Tear,

was für eine schöne, kleine Geschichte. So melancholisch, weiß gar nicht, was ich da so viel sagen soll. Ich habe mich mit dieser Frage auch lange in meiner Jugend auseinandergesetzt. Sinnsuche und so.
Ich weiß auch nicht, vielleicht wäre es besser, wenn du den Teil aus der Sicht des Jugens ein wenig ausbauen könntest. Seine Suche nach der Märchenprinzessin schildern. Das er es eben anders macht als das Mädchen. Könnte dem Text vielleicht guttun.

Schöner, ruhiger Stil, hab keine fehler oder sprachliche Schnitzer entdecken können. :)

Eike

 

Hall Tear,

schlechtes Timing für die beiden, würde ich sagen.
Der Text ist melancholisch und bei der Schilderung des Mädchens habe ich manches Mal noch gedacht, es reicht. Das liegt daran, dass es mir zu selbstmitleidig war, den Notausgang zu sehr nur in ihrem eigenen Zimmerfenster gesucht hat.
Im zweiten Teil schaffst du gerade noch die Kurve zu einer Geschichte, wenn es auch irgendwie fast ein bisschen unlogisch wird, denn wenn sie so oft aus dem Fenster schaut und er so nach oben, dann müssen sie sich doch irgendwann noch ein weiteres Mal sehen.
Es bliebe ihnen zu wünschen, aber einer muss dem anderen dabei entgegenkommen, entweder die Treppe hinauf, oder die Treppe hinunter.

Lieben Gruß, sim

 

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