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Jenseits aller Vernunft
Ich blinzele. Dann noch einmal. Aber es ändert nichts. Der Mann mit der blauen Jacke steht zwei Reihen von mir entfernt an der Kasse. Er hat nur ein oder zwei Artikel in der Hand. Ich kann es nicht genau sehen. Er hat jedenfalls keinen Einkaufswagen. Nicht einmal einen dieser roten Körbe.
Ich möchte sein Gesicht sehen. Vielleicht dreht er sich um. Das gleißende Neonlicht wird mir endlich einen Blick erlauben. Dann werde ich erfahren, wer er ist. Vielleicht jemand, den ich kenne. Jemand, dem ich auch bei Tageslicht begegne. In der Dunkelheit kann er sich verbergen, aber hier wird ihm das nicht gelingen. Hätte er nur nicht diese Baseballkappe. Meist zieht er sie tief in die Stirn, sodass ich sein Gesicht nicht erkennen kann. Aber ausgerechnet heute, wo ich hinter ihm stehe, hat er die Kappe ganz in den Nacken gezogen, mit dem Schild nach hinten. So kann ich nicht einmal erahnen, welche Haarfarbe er hat.
Ob er weiß, dass ich hier bin? Ob er meinetwegen hergekommen ist? Er hat mich mit Bedacht ausgewählt. Wenn ich auch nicht weiß, warum. Ich habe kein Geld und bin sicher dreißig Jahre älter als er. Aber er wird dreist. Als er noch unter der Kastanie stand, Nacht für Nacht, hielt er Abstand. Dann aber lief er die Straße entlang, auf meiner Seite der Straße, in seiner blauen Jacke, mit seiner Baseballkappe. Mal blieb er vor meinem Haus stehen, mal joggte er vorbei.
Dann, letzte Woche, habe ich ihn im Vorgarten gesehen, auf dem Rasen, der zum Haus führt. Er ging von der Eingangstüre weg, drehte sich nicht um. Aber ich habe ihn erkannt, an seiner blauen Jacke und der Kappe. Trotz der hereinbrechenden Dunkelheit. Keinen Moment lang habe ich geglaubt, dass er zu einem meiner Nachbarn wollte. Mich hat er gesucht. Vermutlich seine Finger über meinen Namen am Briefkasten wandern lassen. Sein Lächeln in der Dunkelheit erschreckend und froh, Gewissheit darüber zu haben, dass er mich gefunden hat.
Die Schlangen bewegen sich vorwärts und für eine bange Sekunde hoffe ich, er wird sich umdrehen. Ich wappne mich gegen sein Grinsen, das sich von einem Ohr zum anderen ziehen wird. Mit gebleckten Zähnen. In einem Gesicht, das ich noch nie im Leben gesehen habe. Aber nichts geschieht. Er rückt vor, hat nun beinahe das Fließband erreicht.
Warum ich?, habe ich mich hundert Mal gefragt. Warum noch einmal ich? War es nicht genug, bei Nacht und Nebel fliehen zu müssen? Ihn aufzuhalten, während ich mich davon machte als würde mein Leben nicht mehr mir gehören. Als müsste ich es ihm entreißen.
Ich war geflohen, weiter als irgendetwas mich je getrieben hatte. Aber es war nicht weit genug. Offensichtlich nicht weit genug. Ich scheine diese Männer anzuziehen. Diesmal war es ein anderer, dafür habe ich gesorgt. Natürlich ein anderer, denn der letzte regt sich nicht mehr. Ist bei Nacht und Nebel vom Erdboden verschwunden. Aber die ganze Sache wiederholt sich. Und auch dieser macht mir Angst.
Dummes Ding, muss ich mich schelten. Denn während ich in Gedanken versunken war, hat er die paar Dinge in seinen Händen bezahlt. Ich habe nicht einmal gesehen, was er gekauft hat und nun strebt er mit großen Schritten zum Ausgang. Bevor ich mich versehe, ist er um die Ecke verschwunden. Die Treppen hinunter und in das kleine Parkhaus.
Er glaubt wohl, ich würde ihm nicht folgen. Eine schutzlose Frau allein in der Dunkelheit. Aber er weiß nicht. Weiß nicht, dass ich mich verteidigen kann, wenn es darauf ankommt.
Während meine Hände den Inhalt meines Einkaufswagens auf das Laufband häufen, erzwingt sich ein Lächeln aus der Vergangenheit den Weg in meine Züge. Denkste, schutzlos! Er mag in der Dunkelheit verschwinden, aber ich bin vorbereitet. Ich habe Erfahrung.
Mein Auto steht in einer der ersten Parkbuchten, die für Frauen reserviert sind. Direkt neben dem Aufzug und der kleinen Treppe. Ich parke nicht in den Tiefen der Dunkelheit. Als ich mich umsehe, scheint die übrige Garage menschenleer. Aber gerade lade ich die Tüten in den Kofferraum, da höre ich ihn hinter mir. Ich fahre herum und sehe direkt in seine blitzenden Augen. Die rechte Hand steckt tief in der Tasche seiner Jacke, die linke schwingt lose an seiner Seite.
Seine Haare sind blond. Jetzt trägt er keine Kappe mehr. Vorn auf seiner Jacke prangt der vertraute weiße Schriftzug einer Fußballmannschaft. Und er lächelt, beinahe scheu, irgendwie flüchtig. Meine Hand, die in die letzte Tüte gekrampft ist, reagiert ohne mein Zutun und tastet durch den Kofferraum, während ich mich bemühe, in seine Richtung zu lächeln. Wenn er glaubt, ich erkenne ihn nicht, gewinne ich Zeit. Sekunden, die ich dringend brauche. Beim letzten Mal hat es funktioniert. Es kostet mich Anstrengung, mein Wissen nicht durchscheinen zu lassen.
Da, meine Hand schließt sich um den runden, festen Griff, dann stürze ich mich vorwärts und reiße noch in der Bewegung die Hand nach oben. Der Schraubenzieher bohrt sich mit der ganzen Gewalt, die ich aufbringen kann, in seinen Brustkorb bevor das belanglose Lächeln sein Gesicht verlässt, um mit der Dunkelheit des Garagenbodens und den längst verblassten Ölflecken zu verschmelzen.
Die Sache ist besiegelt. Ich werde weiterziehen. Noch einmal weiterziehen müssen. Das wird mir klar, als ich mein Auto um ihn herumrangiere und zur Ausfahrt steuere.
Das Schnurren des Motors in der Nacht besänftigt mich, als ich auf die Straße hinausrolle. Aber bereits an der ersten Ampel gefriert mein Herzschlag. Dort steht, mit dem Rücken zu mir, ein Mann in einer blauen Jacke mit einer Baseballkappe. Die Fußgängerampel springt auf Grün und er setzt sich in Bewegung.
Mein Blut beginnt mit ungekannter Hitze wieder zu pumpen, als ich meinen Fuß auf das Gaspedal senke. Noch kann ich nicht fort. Es gibt noch mehr zu tun.