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Jenseits aller Vernunft

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08.11.2001
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Jenseits aller Vernunft

Jenseits aller Vernunft

Ich blinzele. Dann noch einmal. Aber es ändert nichts. Der Mann mit der blauen Jacke steht zwei Reihen von mir entfernt an der Kasse. Er hat nur ein oder zwei Artikel in der Hand. Ich kann es nicht genau sehen. Er hat jedenfalls keinen Einkaufswagen. Nicht einmal einen dieser roten Körbe.

Ich möchte sein Gesicht sehen. Vielleicht dreht er sich um. Das gleißende Neonlicht wird mir endlich einen Blick erlauben. Dann werde ich erfahren, wer er ist. Vielleicht jemand, den ich kenne. Jemand, dem ich auch bei Tageslicht begegne. In der Dunkelheit kann er sich verbergen, aber hier wird ihm das nicht gelingen. Hätte er nur nicht diese Baseballkappe. Meist zieht er sie tief in die Stirn, sodass ich sein Gesicht nicht erkennen kann. Aber ausgerechnet heute, wo ich hinter ihm stehe, hat er die Kappe ganz in den Nacken gezogen, mit dem Schild nach hinten. So kann ich nicht einmal erahnen, welche Haarfarbe er hat.

Ob er weiß, dass ich hier bin? Ob er meinetwegen hergekommen ist? Er hat mich mit Bedacht ausgewählt. Wenn ich auch nicht weiß, warum. Ich habe kein Geld und bin sicher dreißig Jahre älter als er. Aber er wird dreist. Als er noch unter der Kastanie stand, Nacht für Nacht, hielt er Abstand. Dann aber lief er die Straße entlang, auf meiner Seite der Straße, in seiner blauen Jacke, mit seiner Baseballkappe. Mal blieb er vor meinem Haus stehen, mal joggte er vorbei.
Dann, letzte Woche, habe ich ihn im Vorgarten gesehen, auf dem Rasen, der zum Haus führt. Er ging von der Eingangstüre weg, drehte sich nicht um. Aber ich habe ihn erkannt, an seiner blauen Jacke und der Kappe. Trotz der hereinbrechenden Dunkelheit. Keinen Moment lang habe ich geglaubt, dass er zu einem meiner Nachbarn wollte. Mich hat er gesucht. Vermutlich seine Finger über meinen Namen am Briefkasten wandern lassen. Sein Lächeln in der Dunkelheit erschreckend und froh, Gewissheit darüber zu haben, dass er mich gefunden hat.

Die Schlangen bewegen sich vorwärts und für eine bange Sekunde hoffe ich, er wird sich umdrehen. Ich wappne mich gegen sein Grinsen, das sich von einem Ohr zum anderen ziehen wird. Mit gebleckten Zähnen. In einem Gesicht, das ich noch nie im Leben gesehen habe. Aber nichts geschieht. Er rückt vor, hat nun beinahe das Fließband erreicht.

Warum ich?, habe ich mich hundert Mal gefragt. Warum noch einmal ich? War es nicht genug, bei Nacht und Nebel fliehen zu müssen? Ihn aufzuhalten, während ich mich davon machte als würde mein Leben nicht mehr mir gehören. Als müsste ich es ihm entreißen.
Ich war geflohen, weiter als irgendetwas mich je getrieben hatte. Aber es war nicht weit genug. Offensichtlich nicht weit genug. Ich scheine diese Männer anzuziehen. Diesmal war es ein anderer, dafür habe ich gesorgt. Natürlich ein anderer, denn der letzte regt sich nicht mehr. Ist bei Nacht und Nebel vom Erdboden verschwunden. Aber die ganze Sache wiederholt sich. Und auch dieser macht mir Angst.

Dummes Ding, muss ich mich schelten. Denn während ich in Gedanken versunken war, hat er die paar Dinge in seinen Händen bezahlt. Ich habe nicht einmal gesehen, was er gekauft hat und nun strebt er mit großen Schritten zum Ausgang. Bevor ich mich versehe, ist er um die Ecke verschwunden. Die Treppen hinunter und in das kleine Parkhaus.
Er glaubt wohl, ich würde ihm nicht folgen. Eine schutzlose Frau allein in der Dunkelheit. Aber er weiß nicht. Weiß nicht, dass ich mich verteidigen kann, wenn es darauf ankommt.

Während meine Hände den Inhalt meines Einkaufswagens auf das Laufband häufen, erzwingt sich ein Lächeln aus der Vergangenheit den Weg in meine Züge. Denkste, schutzlos! Er mag in der Dunkelheit verschwinden, aber ich bin vorbereitet. Ich habe Erfahrung.

Mein Auto steht in einer der ersten Parkbuchten, die für Frauen reserviert sind. Direkt neben dem Aufzug und der kleinen Treppe. Ich parke nicht in den Tiefen der Dunkelheit. Als ich mich umsehe, scheint die übrige Garage menschenleer. Aber gerade lade ich die Tüten in den Kofferraum, da höre ich ihn hinter mir. Ich fahre herum und sehe direkt in seine blitzenden Augen. Die rechte Hand steckt tief in der Tasche seiner Jacke, die linke schwingt lose an seiner Seite.
Seine Haare sind blond. Jetzt trägt er keine Kappe mehr. Vorn auf seiner Jacke prangt der vertraute weiße Schriftzug einer Fußballmannschaft. Und er lächelt, beinahe scheu, irgendwie flüchtig. Meine Hand, die in die letzte Tüte gekrampft ist, reagiert ohne mein Zutun und tastet durch den Kofferraum, während ich mich bemühe, in seine Richtung zu lächeln. Wenn er glaubt, ich erkenne ihn nicht, gewinne ich Zeit. Sekunden, die ich dringend brauche. Beim letzten Mal hat es funktioniert. Es kostet mich Anstrengung, mein Wissen nicht durchscheinen zu lassen.

Da, meine Hand schließt sich um den runden, festen Griff, dann stürze ich mich vorwärts und reiße noch in der Bewegung die Hand nach oben. Der Schraubenzieher bohrt sich mit der ganzen Gewalt, die ich aufbringen kann, in seinen Brustkorb bevor das belanglose Lächeln sein Gesicht verlässt, um mit der Dunkelheit des Garagenbodens und den längst verblassten Ölflecken zu verschmelzen.

Die Sache ist besiegelt. Ich werde weiterziehen. Noch einmal weiterziehen müssen. Das wird mir klar, als ich mein Auto um ihn herumrangiere und zur Ausfahrt steuere.
Das Schnurren des Motors in der Nacht besänftigt mich, als ich auf die Straße hinausrolle. Aber bereits an der ersten Ampel gefriert mein Herzschlag. Dort steht, mit dem Rücken zu mir, ein Mann in einer blauen Jacke mit einer Baseballkappe. Die Fußgängerampel springt auf Grün und er setzt sich in Bewegung.
Mein Blut beginnt mit ungekannter Hitze wieder zu pumpen, als ich meinen Fuß auf das Gaspedal senke. Noch kann ich nicht fort. Es gibt noch mehr zu tun.

 

Hallo Arc in Ciel,

deine Geschichte hat mir gut gefallen.
Deine Prot. leidet offensichtlich unter Verfolgungswahn und immer, wenn es wieder zu einem "Vorfall" kommt, meint sie weiterziehen zu müssen. Warum das alles so ist - keine Ahnung. Ich hatte kurz den Eindruck, dass es sich hier eventuell um jemanden handelte, die den zweiten Weltkrieg schon miterlebt hat. Eine richtige Andeutung finde ich in der Geschichte nicht, kann sein, dass ich mir zumindest das nur einbilde.

Am Ende war irgendwie schon klar, dass sie den Kerl umbringt und ich war ein wenig enttäuscht - allerdings ist das Ende dann wirklich stark und überraschend. Man erwartet Erkenntnis, das sie den Falschen (wenn man hier überhaupt von "Richtig" oder "Falsch" sprechen kann) umgebracht hat, doch ihre Gedanken bzw. Wahnvorstellungen gehen wieder in eine ganz andere Richtung.

Einzig den Titel finde ich etwas unglücklich gewählt - er sagt schon ziemlich viel und im Grunde genommen nimmst du damit ein wenig das Ende vorweg.

LG
Bella

 

hi Ihr 2!

Lieben Dank für die schnellen Kritiken

@ PennyCoon:

Es tut mir leid, wenn die Geschichte nicht bei Dir ankam. Gerade die leise angedeuteten Hintergründe machen sie für mich aus. Die Paranoia scheint meiner Meinung nach, weit genug durch.

@Bella:

Am Titel habe ich lange gerätselt. Hast Du einen Vorschlag, wie's besser geht?

"At the check out" fänd ich cool, aber nur, wenn die Geschichte engl. wäre. Eine doppeldeutige Entsprechung in Deutsch habe ich aber nicht gefunden. Ich bin für Vorschläge sehr offen.

Danke für das Lob bzgl. des Endes. Ich hatte die Geschichte neulich geschrieben - da hat sie nur einen weiteren Verfolger entdeckt. Und irgendwie hatte sie nicht den nötigen Pep. Aber als ich dieses Ende gefunden habe - und ein paar Andeutungen mehr in den Text geschrieben habe - da war sie endlich reif fürs Posten.

Lieben Gruß,

Frauke

 

Tach arc en ciel!

Also, ich war von der Geschichte prächtig unterhalten. Für mich kam gut rüber, daß die Protagonistin extrem paranoid ist. Die Erinnerungen, der Kerl vor ihr, die Erinnerungen – das steigert sich alles richtig schön, bis es zu dieser Notwehr-Attacke kommt. Und dann der Schluß ... Fuß auf´s Gas, da is noch wer. Prima. :)
Am Stil gibt´s auch nix zu meckern. Hmm, das war Politikerdeutsch. Wenn´s nix zu meckern gab, könnte ich ja auch gleich ein Lob aussprechen. Also nochmal: Der Stil war gut. Flüssig, nicht zu sperrig, nachvollziehbar.
Fazit: Eine runde Sache.

Bis denne!

 

@Penny: Jedem seine Vorlieben.

@Fischstäbchen:
Danke fürs Lob! Schön, wenn es gefallen und unterhalten hat. Dafür schreibe ich sowas ja ;) Es freut mich selbstverständlich, dass meine Protagonistin um Verständnis ringt, wenn auch auf andere Art, als sie möchte :D

Lieben Gruß,
bis bald,

Frauke

 

Eine Schöne Geschichte, zu der ich mir zwei Anmerkungen nicht verkneifen kann:

Während meine Händen den Inhalt meines Einkaufswagens
Hände! Da bleibst sonst beim lesen garantiert hängen.;)


Mein Verfolger war nicht allein.
Den Satz besser weglassen, hat meine Maria gesagt und ich muss ihr Recht geben.:shy:

Liebe Grüße
3

 

Hallo Frauke,
für Spannung eine ungewöhnliche Geschichte, hat für mich eher was psychologisches, so wie du die Paranoia beschreibst. Dafür, dass es nur der innere Dialog ist, bemerkenswert spannend. Das Ende war vorhersehbar, der zweite Mann überrascht, aber das kommt nicht so richtig als Hammer rüber. Ich hätte auch gerne gewusst, warum sie so paranoid ist, bin eben neugierig!
lieben Gruß
tamara

 

Hi arc en ciel

Japp, nette Geschichte.
Fand es etwas schade, dass der Leser so gar keine Anhaltspunkte dazu hat, warum sie so ist, worüber er dann nachgrübeln und sich gedanken machen kann. Den Schluss finde ich sehr gelungen, der Rest ist doch ein wenig vorhersehbar, was aber in dem Fall nicht unbedingt schlecht ist, da sich der Leser in "Sicherheit" wiegt, genau zu wissen, was kommt :)

Gruß Pesse

 

Hi Tamara! Hi Pesse!

Ich danke für die Kritik. Was mich wundert, ist wie man das "Ende" vorhersehbar nennen kann und gleichzeitig den 2. Mann überraschend ;) DER ist das Ende. Ich hatte keinen Hammer schreiben wollen. Es sollte schon ein wenig unterschwellig sein ;)

Neugier ist in Bezug auf die Gründe für die Paranoia schon ganz in Ordnung. Aber das werde ich bestimmt nicht reinschreiben :D Dann wäre die psych. Spannung ja weg!

Zudem ist es nicht Aufgabe der Geschichte, alle Hintergründe zu erklären, denke ich. Abgesehen davon, dass die Perspektive, die ich für die Erzählung die einzig richtige halte, die Hintergrunderklärungen nicht in der nötigen Kürze hergibt. Das ist zwar keine Entschuldigung, aber es ist eine Erklärung, oder?

Ich hoffe, trotz der fehlenden Erklärungen, die Ihr vermisst habt, gut unterhalten ward!

Lieben Gruß,

Frauke

 

Hallo Frauke,

sehr gut geschriebene Geschichte, was Stil und Sprache angeht. Auch die gewählte Perspektive ist genau richtig.

Exakt, jetzt kommt das Aber. :D

Ich habe die Spannung ein bisschen vermisst. Irgendwie wusste ich sehr früh, worauf es hinausläuft. Kann an der Überschrift gelegen haben, kann daran gelegen haben, dass "Frauke" draufsteht, ... keine Ahnung. Ich glaube tatsächlich, dass ich bei dir in der Spannungsrubrik schon ähnliche Stories erwarte. ;) Vielleicht war es aber auch einfach nur Intuition, wer weiß? Im Nachhinein (wenn ich die Auflösung kenne und nicht mehr nur vermute) kann ich das schwer an etwas festmachen. Aber vielleicht hilft es, wenn ich sage, ab wo mir der "Verdacht" kam:

Er ging von der Eingangstüre weg, drehte sich nicht um. Aber ich habe ihn erkannt, an seiner blauen Jacke und der Kappe. Trotz der hereinbrechenden Dunkelheit. Keinen Moment lang habe ich geglaubt, dass er zu einem meiner Nachbarn wollte. Mich hat er gesucht.

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SPOILER

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Einzig die Frage, wie sie es schafft, die Typen beiseite zu räumen, fand ich noch spannend.

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/ SPOILER

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Zum Hintergrund: Das sehe ich genau wie du, Frauke. Eine Kurzgeschichte muss nicht jede mögliche Frage beantworten und nicht den Hintergrund eines Prots bis zur Geburt des Großvaters (ja, ich übertreibe ;) ) aufdecken. Ich finde es in deinem Fall absolut ausreichend. Die Frage, warum sie so ist, ist einfach nicht das Thema der Geschichte. Das wäre Stoff für eine weitere ... *peitsch* :D

Viele Grüße
Kerstin

 

Hi Kerstin!

Danke für die Kritik! Ermutigend!

Ich habe auch schon überlegt, den Titel zu ändern. Aber ersten hab ich keinen besseren gefunden - bis jetzt. Und zweitens hab ich die Geschichte für Mettmann gemeldet und der Flyer ist fertig. Also muss der Titel noch mindestens eine Woche stehen bleiben ;) Ich grübel aber noch drüber nach.

Vielleicht ist das mal wieder so eine typisch-Story. Dann bin ich gleich wie die Autoren, die so lange schreiben, dass sie sich ändern sollten, oder aufhören. Naja, ich arbeite dran. Wenigstens kann ich Neuleser noch interessieren :p

Danke jedenfalls für den Hinweis auf die "bewußte Stelle". Ich werd da vielleicht vor der Lesung noch was machen können, um es ein wenig länger zu verbergen.

Allerdings glaube ich aus meiner bisherigen Lesungserfahrung (als Zuhörer und vor allem Leser), dass vorgelesen, das Mitdenken und Vorausdenken ohnehin nicht ganz so weit geht. Damit will ich nicht sagen, dass platt oder vorhersehbar irgendwie funktionieren. Aber die Nuancen passieren mit Verzögerung, weil einem jemand anders das Tempo vorgibt.

Lieben Dank für die Unterstützung!

Frauke

 

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