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Jenseits der Worte
„Bist du dir ganz sicher?“ Anjas Stimme klingt zweifelnd. „Willst du mich wirklich nicht dabei haben, sondern lieber ihn?“
„Ja“, das will ich“, antworte ich schnell, während meine Finger aufgeregt die Telefonschnur kneten. „Und ich will, dass er sich endlich mit der Realität auseinandersetzt“, füge ich nachdrücklich hinzu.
„Hm“, entgegnet sie. „Ich glaube nicht, dass dir das gut tun wird. Toms Anwesenheit könnte es schlimmer machen, als es ist.“
“Es wird schon nicht so schlimm werden“, beschwichtige ich sie.
Mein beruhigender Satz gilt mehr mir, als ihr; doch mein Selbstversuch scheitert ebenso kläglich, wie das Herauswinden meines Zeigefingers, der sich in der Spiralschnur des Hörers verfangen hat. Wie gut, dass sie mich dabei nicht beobachten kann. Säße sie vor mir, hätte sie meine Angst schon längst durchschaut.
„Deswegen brauchst du dich nicht extra auf den Weg zu machen“, fahre ich im munteren Plauderton fort. „Ist wirklich nicht nötig, sind immerhin dreihundertachtzig Kilometer.“
„Dafür sind Freundschaften erfunden worden“, frotzelt sie. Dann sagt sie liebevoll: „Ich bin für dich da, das weißt du.“
„Ja, danke, ich weiß“, antworte ich leise. „Falls ich es mir anders überlegen sollte, melde ich mich bei dir.“
Morgennebel wabert über den Asphalt und ich spüre die durchdringende Kälte, die mich nach der schlaflosen Nacht schnell frieren lässt. Zitternd stehe ich an der Bordsteinkante, schaue immer wieder aufs Zifferblatt meiner Armbanduhr und hoffe inständig, dass Tom wenigstens heute pünktlich ist.
Meine Befürchtungen sind grundlos, denn wenige Minuten später höre ich in der Ferne das bekannte Brummen des Volvomotors. Als Tom mich sieht, schaltet er den Motor aus und lässt den Wagen langsam ausrollen, bis er kurz vor mir zum Stehen kommt. Dann beugt er sich über den Beifahrersitz, stößt mit Schwung die Tür auf und schaut mich auffordernd an.
Ich steige ein, platziere die kleine Reisetasche zwischen meinen Beinen und murmele einen Morgengruß, den er genauso wenig erwidert, wie mein anschließendes Schulterzucken. Insgeheim gebe ich ihm recht. Zwischen uns ist alles gesagt worden. Worte der Wut, der Trauer, der Resignation. Tausendfach haben wir sie in unseren Mündern bewegt, ausgestoßen, zerrissen und wieder zusammengefügt. Übrig geblieben ist ein zerfaserter Teppich aus Wortfetzen, der sich nicht mehr flicken lässt; sosehr wir es uns auch wünschen.
Während wir den Fahrstuhl betreten, nimmt mir Tom die Tasche aus den Händen. Ich lasse es geschehen, krümme meine Finger und stecke die geballten Fäuste in die Manteltaschen.
Auf der Fahrt nach oben mustere ich ihn von der Seite. Er steht mit dem Rücken zur Wand, unbeweglich und ein klein wenig gebeugt. Die dunklen Haare hängen ihm wirr ins Gesicht und der Trenchcoat ist falsch zugeknöpft. Seine Lippen sind fest aufeinandergepresst; die Haut wirkt ebenso stumpf und glanzlos wie sein Haar und ich muss im ersten Moment an einen geprügelten Hund denken.
Gleichzeitig macht mich sein Anblick wütend. Er ist es, der mir hier Halt geben soll; nicht umgekehrt. So war es zwischen uns abgesprochen. Stattdessen ignoriert er mich und ergießt sich in Selbstmitleid. Ein jammervolles Bild - ich verachte ihn dafür.
Schon will ich mich abwenden, aber da ist noch etwas anderes. Ein ambivalentes Gefühl, das genauso hin und her wogt und wenig greifbar ist, wie die Nebelschwaden an diesem Morgen. Ein unterschwellig spürbarer Zorn, der wie eine weit entfernte Lawine langsam auf mich zurollt, an Tempo zunimmt und nun Stück für Stück das Rumpeln des Fahrstuhls übertönt. Seine Körperhaltung, seine Mimik, sein Schweigen: ein einziger Vorwurf in Person. Er sieht mich nicht an, sondern starrt mit verengten Lidern auf die Leuchtdioden der Etagenanzeige. Ich drehe den Kopf und starre mit ihm; eine unserer letzten gemeinsamen Handlungen, bis sich die Tür mit einem Stille zerreißenden Pling öffnet.
Die hohe Stimme der jungen Sprechstundenhilfe empfängt uns wie das Fiepen eines jungen Vogels und die schrillen Laute durchbrechen unsere lähmende Wortlosigkeit. Ich beantworte alle ihre Fragen wahrheitsgemäß. Ja, hier ist meine Versichertenkarte und ja, ich habe einen wärmenden Bademantel dabei, und ja, ich bin nüchtern.
„Na, dann kann’s ja losgehen“, zwitschert sie. „Kommen Sie bitte mit.“
Mit angespannten Gesichtern folgen wir ihr in einen weissen, karg möblierten Raum, der in Sekundenschnelle die Blässe unserer Haut absorbiert. In ihm stehen zwei Betten, zwei Stühle und ein Tisch. Keine Blumen, keine Bilder; nichts, was zur Ablenkung, oder zum gemütlichen Verweilen einlädt. Kaltes Winterlicht dringt durch das große Fenster und der Geruch von Desinfektionsmitteln hängt in der Luft. Mir ist es recht so. Jeder optische Reiz, der mich von meinem Vorhaben abbringen könnte, wäre zuviel.
„Das linke Bett gehört Ihnen“, lächelt sie, drückt mir ein grünes OP-Hemd in die Hand und lässt uns allein. Wir lächeln dankbar zurück und sind froh, dass sie unsere distanzierte Kälte nicht bemerkt hat.
Während Tom einen tiefen Seufzer ausstößt, sich über beide Augen wischt und sich auf den Stuhl neben dem Bett sinken lässt, drehe ich ihm den Rücken zu, ziehe mich aus, lege alle Stücke sorgfältig zusammen und tausche sie mit dem Inhalt meiner Tasche.
„Du brauchst dich nicht umzudrehen“, brummt er. „Ich kenne jeden Quadratzentimeter deines Körpers.
„Ich weiß“, antworte ich tonlos, streife mir das OP-Hemd und meinen Bademantel über, drehe mich halb um die eigene Achse und schaue ihn an. „Trotzdem, jetzt, da es zwischen uns vorbei ist …“
Tom guckt wie ein verwundetes Tier.
„So ist es mir lieber“, füge ich rasch hinzu und weiche seinem Blick aus.
Die Sprechstundenhilfe kommt mit Schwung herein und fordert mich fröhlich auf, mich hinzulegen. Während sie meinen Blutdruck misst, plappert sie unaufhörlich über das Wetter. Angesichts unserer Situation empfinde ich ihren munteren Plauderton als makaber und reagiere nicht, außer, dass ich dabei fasziniert ihren Mund beobachte. Dieses stereotype Lächeln prangt unverändert auf dem jungen Gesicht und wirkt wie eine schockgefrorene, verhöhnende Maske. Ich erwidere es trotzdem, da ich nicht ungerecht sein will und mir bewusst ist, dass sie an unserer Misere keine Schuld trägt.
Anschließend holt sie den Narkosearzt, einen untersetzten Mann um die Fünfzig, der sich zu mir auf den Bettrand setzt und mich mit den Operationsrisiken vertraut macht.
Während ich ihm aufmerksam zuhöre, wandern meine Augen zur Armbanduhr und folgen den mechanischen Bewegungen des Sekundenzeigers. Tick, tick, tick, macht es in meinem Kopf. Jede Sekunde bringt mich näher ans Ziel.
„Und, Sie sind sich auch ganz sicher?“, fragt der Arzt, drückt mir den Stift zum Unterschreiben in die Hand und guckt mich dabei unverwandt an.
Ich schaue auf, nicke und halte seinem Blick stand, der im nächsten Moment zu Tom hinüber wechselt.
„Sind Sie der Lebenspartner?“
„Nein!“, antwortet Tom unwirsch. „Ich bin nur ihr Ex-Geliebter.“
„Bis vor Kurzem war er noch mein Lebenspartner, ja!“, fahre ich Tom über den Mund, der mich wütend anstarrt, während die Augen des Arztes unsicher zwischen uns hin und her pendeln. Hätte ich nur auf Anja gehört. Ich hasse Tom für diesen Satz!
„Nun, wenn Sie sich ganz sicher sind …“, nickt der Narkosemensch und tätschelt meine Hand. „Alt genug, um zu wissen, was Sie da tun, sind Sie ja schließlich.“
Ich drehe mein Gesicht zur Wand.
„Was sollte das?“, zische ich, nachdem der Arzt verschwunden ist. „Musst du mich so kompromittieren? Du hättest nicht mitkommen müssen. Das weißt du!“
„Es tut mir Leid. Entschuldigung“, entgegnet Tom mit Leidensmiene, die sich im nächsten Augenblick in eine eisig- kalte verwandelt. „Vielleicht könntest du die Güte haben zu verstehen, dass ich dabei sein will, wenn meine Zukunft im Abflussrohr einer Arztpraxis verschwindet!“
„Deine Zukunft?“, unterbreche ich ihn, „und, was ist mit meiner?“
„Immer dasselbe, es geht immer nur um dich!“, presst er zwischen den Zähnen hervor.
Sein Blick ist auf das Fenster gerichtet, fixiert irgendeinen Punkt dort draußen und ich verspüre für einen kurzen Moment den Wunsch, ihm dafür hier und jetzt mitten ins Gesicht zu schlagen. Das wäre das erste Mal, dass ich jemanden schlage, den ich liebe; doch ich beiße die Zähne zusammen und versuche meine gesteigerte Wut im Zaum zu halten. Seinen letzten Satz quittiere ich mit einem hörbaren Atemzug. Jedes weitere Wort wäre zuviel.
Bevor ich in wenigen Minuten in den OP-Saal geschoben werde, bekomme ich von der trällernden Vogelstimme noch einen Beruhigungssaft verabreicht, der mich schläfrig machen soll. Mit einem aufmunternden Nicken wendet sie sich um und geht.
Entschlossen schlucke ich das Medikament in einem Zug hinunter und schaue dabei direkt in Toms Augen. Die Farbe seiner Iris wirkt schmutzig- braun und ist so undurchschaubar, wie der Grund eines morastigen Tümpels.
Er greift fest nach meiner Hand. „Bitte, tue es nicht“, flüstert er und in seine erweiterten Pupillen kehrt für die Länge eines Wimpernschlages die Tiefe zurück, in die ich mich vor zwei Jahren verliebt hatte. Doch so flüchtig, wie es sich anfühlt, ist es auch schon wieder vorbei.
Meine Finger erwidern seinen Druck. „Doch“, wispere ich zurück. „Ich muss. Ich bin weit über vierzig und habe keine Zeit mehr für sowas. Lass uns bitte vernünftig sein.“
„Aber, es wäre unsere Chance gewesen“, stottert er leise. Über Toms Wange rollt ganz langsam eine Träne, die ich ihm im Zeitlupentempo fortwische. Der beruhigende Saft und sein Weinen stimmen mich milde.
„Das mag sein“, antworte ich stockend. „Vielleicht deine Chance, Tom. Aber nicht meine." Dann richte ich mich nochmal kurz auf. "Unsere hätte es sein können, wenn du dich wie ein Mann verhalten hättest.“
„Es tut mir Leid, mein Kleines“, flüstere ich mit schwerer Zunge, als der Gynäkologe zum Vaginalspekulum greift, um damit mein unteres Zentrum zu öffnen, während sich mein Kopf schrittweise der Außenwelt verschließt.
„… von zehn an rückwärts“, fordert mich eine Stimme auf, die durch eine Wattewand zu mir vordringt.
Ich will verschwinden, einfach nur verschwinden, sind meine letzten Gedanken, als ich zählend dem Traumland entgegen falle.