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Jesus trinkt Milch

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21.01.2009
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Jesus trinkt Milch

Tony wirft noch ein paar von den Pillen ein, zieht die schwarze Lederjacke über und steigt in seine Westernstiefel. Er lässt die Tür ins Schloss fallen. Während er auf den Fahrstuhl wartet, reißt er das Cellophan von einer neuen Packung Zigaretten ab. Draußen wütet seit Stunden ein Orkan und manchmal hat er den Eindruck, das Hochhaus geriete ins schwanken. Der Fahrstuhl kommt und stinkt nach Urin. Tony zündet eine Filterlose an und betrachtet die Schmierereien an den metallenen Wänden der Kabine. HERRHAUSEN DU GÄNGSTER, ENDLICH BIST DU WEG VOM FENSTER steht da.
Unten in der Eingangshalle sitzen drei Jungen und rauchen. Er kennt ihre Gesichter, ihre Namen kennt er nicht. „Ehy Tony, hass’ma `n Zwilling?“, sagt der Flachsblonde. Tony greift in seine Hosentasche und schnippt ihm ein Zweimarkstück rüber. Die Jungen grinsen.
Tony klappt den Jackenkragen hoch und tritt in den Sturm hinaus. Der Regen peitscht diagonal auf die Betonsiedlung nieder. Tony überquert im Laufschritt den Parkplatz und steigt in den Ford Granada. Die Karre springt an. Tony zieht die Pillendose aus seiner Jackentasche und schmeißt sich ein paar von den Dingern in den Mund. Es soll eine verdammt gute Nacht werden, hat er sich vorgenommen, eine verdammt gute Nacht. Keine von diesen gewöhnlichen Nächten, in denen man träge im kosmischen Psychoplasma hängt, madengleich und angeödet - nein, heute Nacht nicht.
Tony schlittert vom Parkplatz auf die Hauptstraße hinaus. Die Wischer schmieren über die Windschutzscheibe. Rücklichter und Neonlichter und Ampellichter und Straßenlaternen verschwimmen zu buntem ekstatischen Brei. Tony gibt Gas. Nie hat er sich klarer gefühlt. Eine gleißend helle Schneewelt in seinem Schädel. Er trommelt mit den Fingern auf dem Lenkrad. Ein wilder schamanischer Rhythmus. Tony lacht. Ja, das gefällt ihm. Er ist der Schamane der Nacht, der Nachtschamane. Und der Granada surrt über den regennassen Asphalt. Majestätisch irgendwie. Tony fischt den Jack Daniels hervor, der brennend die Kehle hinab in den Magen spült. Die Tachonadel klebt auf der Neunzig, und draußen fliegt der Stadtpark vorbei.

Tony parkt den Granada. Er wirft die Whiskyflasche in den Fußraum und betrachtet seine Augen im Rückspiegel. Er lässt seine Zunge über die obere Zahnreihe gleiten und grinst. Dann steigt er aus, vergräbt seine Hände in den Jackentaschen und eilt die Straße zum KINSKI‘S hinauf. Der Regen hat nachgelassen.
Das KINSKI‘S ist mäßig gefüllt um diese Zeit, und das ist gut so. In zwei Stunden wird man keinen freien Sitzplatz mehr finden. Tony sucht sich einen Hocker an der Theke. Er zündet sich eine Zigarette an und Vincent, der Mann hinterm Tresen, schiebt ihm eine Flasche Bier zu.
„Was macht das Leben, Vince?“
„Läuft“, sagt Vince.
„Was sagst du zu diesem Abend, Mann? Ist das nicht ein geiler Abend?“
Vince nickt gelangweilt und wendet sich ab, um einen anderen Gast zu bedienen.
Tony trinkt von seinem Bier und grinst. Ja, das KINSKI’S ist ein verdammt gutes Cap Canaveral, um sich in diese Nacht zu katapultieren. Am Anfang steht immer das KINSKI’S. Von hier aus wird sich das Universum entfalten.
Lasko betritt den Laden. Er trägt seine blödsinnige beigefarbene Anglerweste mit den vielen Taschen, in denen er sonstwas aufbewahrt. Er trägt diese Weste zu jeder Tages- und Nachtzeit, im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Die Weste steht vor Dreck, doch es ist ihm egal. Vermutlich hat er irgendwo ein Testament vergraben, wo er seinen einzigen Wunsch raufgekritzelt hat: „Begrabt mich mit meiner Weste, ihr Schwanzlutscher.“ Jep, das würde zu ihm passen.
Lasko rutscht auf den Barhocker neben Tony. „Heute Morgen habe ich meine kleine Schwester vom Frisör abgeholt, und natürlich war die noch nicht fertig, also hab ich mich da hingesetzt und hab die Bild-Zeitung durchgeblättert, und plötzlich kommt dieses junge Ding auf mich zu und fragt mich, ob ich einen Termin habe; Scheiße nochmal, die fragt mich doch glatt, ob ich einen Termin habe, Haare schneiden und fönen und legen und dieser ganze Quatsch, und ich starr sie nur an, und fast hätt ich ihr eine gescheuert, verstehst du? Ich meine, was denkt die Tusse sich dabei, mich sowas zu fragen? Hat die den Schuss nicht gehört, oder was?“
„Scheiße, und dann?“
„Wie und dann …? Ich hab ihr gesagt, dass sie sich verpissen soll, was denn sonst?“
„Und hat sie sich verpisst?“
„Ja klar. Is‘ abgerauscht mit ihrem kleinen geilen Arsch, und ich hab meine Schwester geschnappt und bin mit ihr da raus. Die war natürlich sauer, weil ihre Haare nur zur Hälfte geschnitten waren. Linke Seite frisiert, rechte Seite wie immer. Mann, sieht das beschissen aus.“
„Kann ich mir vorstellen“, sagt Tony und zieht die Pillendose aus seiner Jackentasche.
„Zuhause is‘ sie dann mit’m Kartoffelschälmesser auf mich los gegangen. Wollte mich abstechen, das Luder. Verdammte Scheiße, und alles nur wegen dieser Friseusen-Tusse.“
Tony spült zwei von den gelben Dingern mit Bier herunter.
Cap Canaveral. Apollo Tony Sirius two, ready for take off.
Lasko ist in Richtung Toilette verschwunden. Vincent steht hinterm Tresen und trocknet Gläser ab. Tony betrachtet sich im Spiegel hinter den Flaschenreihen auf dem Regal. Er streckt die Zunge raus und reißt die Augen auf. Dann schiebt er seine Zeigefinger in die Nasenlöcher und spreizt sie auseinander. Jetzt sieht er aus wie ein galaktischer Neandertaler oder wie ein Bison oder wie ein Marlon Brando als Colonel Kurtz in Apocalypse Now. Irgend sowas. Seltsame Kreaturen, die sich da aus dem Nichts nach vorne schieben. Tony rollt seine Augen.
„Du solltest weniger von den bunten Pillen fressen“, sagt Vincent, „die bekommen dir nicht.“
„Tyno“, näselt Tony, „nenn mich Tyno.“
Vincent schüttelt den Kopf und wendet sich ab. Lasko rutscht zurück auf seinen Barhocker.
„Verdammt Mann, der Typ da hinten in der Ecke sieht aus wie Jesus.“
Tony zieht seine Finger aus der Nase und blickt über seine Schulter. Tatsächlich. Hinten in der Ecke sitzt Jesus in einem weißen Gewand.
„Sag mal, isses schon soweit, dass solche Freaks im KINSKI’S verkehren?“ Lasko kann es nicht fassen.
„Der Typ sieht mir verdammt noch mal aus wie das Original“, sagt Tony.
„Wie das Original …? Scheiße, was meinst du damit, Tony?“
„Tyno.“
„Hä?“
„Nenn mich ab sofort Tyno“, sagt Tony.
„Wieso das denn?“
„Weil ich das Ypsilon mit dem O getauscht habe.“
„Was soll der Scheiß, Tony?“
„Vergiss es, Mann.“
Sie starren schweigend zum Jesus hinüber.
„Was ist, wenn der Typ da der leibhaftige Jesus ist?“
„Wie, wenn das der leibhaftige Jesus is‘ …? Hast du noch alle Latten am Zaun?“
„Die Ähnlichkeit ist frappierend“, sagt Tony, der nun mit dem Rücken an den Tresen gelehnt dasitzt. „Und guck dir dieses verdreckte Nachthemd an, als wenn er direkt aus der staubigen Wüste Gobi kommt.“
„Hey, hey, hey, Tony, warte mal, du denkst doch nicht wirklich, dass dieser Freak da hinten Jesus is‘, oder? Ich meine, Jesus is‘ schließlich schon ein paar Donnerstage tot.“
„Jesus ist wieder auferstanden“, meint Tony.
„Okay, okay, Tony, ich weiß, ich weiß … und dann isser in den Himmel hoch und er is‘ auch noch mal zurück gekommen und hat hallo gesagt und dann isser wieder rauf und hin und her … und du meinst, dass er wieder runtergestiegen is‘ und nun sitzt er ausgerechnet hier im KINSKI’S und trinkt Milch, oder was?“
Sie starren den Jesus weiter an. Der sitzt milde lächelnd hinter einem Bierglas voll Milch.
„Tatsächlich, Jesus trinkt Milch“, stellt Tony entgeistert fest.
Sie wenden sich zeitgleich Vincent zu, der immer noch Gläser poliert.
„Hey, Vince, ist das Milch was der Jesus da trinkt?”
„Soja-Milch“, sagt Vince.
„Soja-Milch? Was das denn?“
„Soja-Milch eben.“ Vincent ist genervt.
„Soja-Milch, das klingt wie Nasi-Goreng oder Judo oder irgend so’n Chinascheiß“, sagt Lasko.
„Was hat denn Soja-Milch mit Judo zu tun, Mann?“, will Tony wissen. „Das hat was mit Bambus zu tun.“
„Bambus? Wieso Bambus?“
„Naja, ist irgendwas Botanisches. Pflanzenmilch.“
„Pflanzenmilch? Sag mal, willste mich verarschen? Wie soll das denn gehen? Melken, oder wie?“
„Verdammt, weiß ich doch nicht. Irgend so’ne asiatische Sache. Soll gesund sein.“
Sie blicken wieder zum Jesus hinüber.
Leere Eckbank, leeres Bierglas auf dem leeren Tisch.
Der Jesus ist weg.
Ihre Blicke gleiten durch den Raum, scannen jeden Winkel, doch der Jesus bleibt verschwunden. Tony springt auf. Er hastet den schmalen Flur zu den Toiletten entlang und reißt die Tür zum Männerklo auf. Da drinnen ist niemand. Er reißt die Tür zum Damenklo auf. Keine Menschenseele. Er rennt zurück in den Schankraum. Lasko steht da und kratzt sich verdutzt am Schädel. Vincent poliert Gläser – was sonst.
„Verdammt Vince, wo ist er hin?“
„Wer?“
„Der Jesus!“
Vincent zuckt mit den Achseln.
Sie rennen auf die Straße hinaus. Schwerer Regen, der von Sturmböen durch die Häuserschluchten getrieben wird. Als sie nach links blicken, sehen sie den langhaarigen Mann im weißen Gewand hinter einer Häuserecke verschwinden. Sie rennen los, spurten die Straße gegen den Sturm entlang. Als sie um die Ecke fegen, sehen sie ihn am Ende einer Sackgasse im fahlen Lichtschein einer schaukelnden Straßenlaterne stehen. Er hat ihnen den Rücken zugewandt, steht mitten auf der Straße vor dem Metallzaun eines stillgelegten Fabrikgeländes. Tony und Lasko nähern sich ihm mit schnellen Schritten. Sie bleiben neben ihm stehen. Der Jesus macht einen verwirrten Eindruck. Und dann sagt er: „Das hier ist nicht schön.“
Tony und Lasko starren ihn an, starren in dieses hagere Gesicht, in diese hoffnungslosen braunen Augen, und der Regen prasselt nieder, und dann wendet sich der Jesus ab, schreitet langsam, mit hängenden Schultern die kopfsteingepflasterte Straße zurück, das Haupt gesenkt, und das weiße Gewand klebt an seinem dürren Körper, und die Männer blicken ihm nach, bis er hinter der Ecke verschwunden ist, und Tony klopft sich `ne Zigarette aus der Packung und zündet sie an, doch der Regen ist zu heftig und weicht den Tabak auf, und dann setzen sie sich in Bewegung und gehen zurück in die Kneipe, und Tony sagt: „Der Jesus hat recht“, während er die Pillendose in einen Straßengully fallen lässt.

 

Hallo machaczek,

ich habe ein paar Probleme mit deinem Text, die meisten liegen sicher bei mir und darin, dass ich diese typischen Bar- oder Kneipenabhänggeschichten inzwischen einfach langweilig finde.
Die Geschichte liest sich durchaus gut, die Atmosphäre ist auch getroffen, die Charakterisierungen könnten für mein Gefühl ausgeprägter sein. Jedenfalls habe ich nach der Lektüre nicht das Gefühl, eine der Hauptfiguren kennengelernt zu haben.
Problematisch finde ich die zeitliche Einordnung, "Buback" und "Sojamilch" passen für mich kaum zusammen. Ich habe jetzt nicht recherchiert, aber zweiteres hat sich erst in den letzten Jahren wirklich durchgesetzt, auch wenn ich Sojamilch Ende der 80er das erste Mal im Handel gesehen habe. 1977 (Ermordung Bubacks) hätte es wahrscheinlich kaum eine Bar gegeben, in der Sojamilch ausgeschenkt wird. Allerdings sagt deine Geschichte ja nichts darüber aus, wie lange der Schriftzug schon an der Treppenhauswand prangt. Sind solche Elemente in Geschichten, lässt es sich aber wohl kaum vermeiden, in ihnen auch eine Information zu vermuten.
Zum Granada passt auch eher Buback als Sojamilch.
Allgemein empfinde ich einiges als ungenau, dazu mehr in den Details:

Draußen wütet seit Stunden ein Orkan und manchmal hat er den Eindruck, dass das Hochhaus ins schwanken gerät.
"dass das" kannst du leicht vermeiden, wenn du schreibst: den Eindruck, das Hochhaus gerät ins Schwanken, durch die Vorgabe "Eindruck" wäre evtl. dabei der Konjunktiv "geriete" angebrachter.
Der Fahrstuhl kommt und stinkt nach Urin. Er zündet eine Filterlose an
Bezug. So zündet sich der Fahrstuhl die Zigarette an.
Der Regen peitscht diagonal auf die Betonsiedlung nieder. Er überquert im Laufschritt den Parkplatz
Dito
Keine von diesen gewöhnlichen Nächten, wo man träge im kosmischen Psychoplasma hängt
"in denen" statt "wo" (oder die man träge ... abhängt)
madengleich
Allerdings hängen Maden weder noch hängen sie ab.
Ampellichter und Straßenlaternen verschwimmen zu einem bunten ekstatischen Brei.
Artikel streichen: zu buntem exstatischen Brei
Er trommelt mit den Fingern auf dem Lenkrad
auf das Lenkrad (in der Rückfrage erscheint mir aber beides möglich)
Tony fischt den Jack Daniels hervor, der wie brennendes Napalm die Kehle hinab in den Magen spült
Bild ist deshalb schief, weil es gerade die Eigenschaft ist, zu kleben, nicht, zu spülen.

Lieben Gruß
sim

 

Hallo Sim!
Danke für deine Hinweise.
Bzgl. der zeitlichen Einordnung (Buback und Sojamilch) hast du vollkommen recht. Insofern habe ich mich für ein anderes RAF-Opfer entschieden.
Mit deinen erwähnten Datails bin ich einverstanden (und ich habe sie dementsprechend verändert), bis auf das von dir zitierte "madengleich".
Du schreibst: >Allerdings hängen Maden weder noch hängen sie ab.<
"Madengleich" steht hier im Kontext mit "angeödet" und bezieht sich auf den Zustand des Abhängens, was ja nicht bedeutet, dass ich an einer Stange oder an einem Ast hänge, wenn ich ab-hänge. Damit ist das mehr oder weniger sinnlose herumgammeln oder herumsitzen gemeint, und mit "madengleich" stelle ich die Beziehung zu einer Made her, die sich in einem Nahrungsmittelstück fett frisst (also konsumiert), ohne sich dabei großartig bewegen zu müssen.
Vielen Dank noch mal für deine Anregungen. Werde zukünftig versuchen, mehr darauf zu achten.
Gruß Macha

 

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