Jetzt ist alles klar
Ich weiß weder wie viel Uhr es war, noch wie das Wetter an jenem Samstag oder Mittwoch oder dergleichen war.
Es war jedenfalls aufregend warm für einen Freitag im März um 12:23 und dann schien auch noch die Sonne, als ob sie dieser unheilvollen Konstellation das i-Tüpfelchen aufsetzen wollte.
In eben dieser Minute, als es mir beinahe gelungen war, meine Hose anzuziehen, zog es mir die Schuhe aus, wie ich hörte, dass eine Studie der Bundesärztekammer herausgefunden haben wollte, dass Rückenschwimmen bei geschlossenen Augen das Wachstum der weiblichen Brust enorm beschleunigt.
Generell hasse ich es Radio zu hören, aber prinzipiell liebe ich es auf dem Laufenden zu sein. Das T-Shirt endgültig über meinen Kopf gezogen, eile ich in das Zimmer meiner Dreizehnjährigen Tochter Lara. Inmitten eines Berges von leeren Zigarettenschachteln finde ich die neueste Ausgabe ihres Lieblingsmagazins "Applaus". Wie befürchtet, steht dort auf der Titelseite:
Ärzte entdecken Busenwunder! S.3-6
Was ich auf diesen Seiten drei bis sechs dann lese, lässt mich erahnen, warum Mia mich zwang, ihr eine Jahreskarte für das hießige Schwimmbad für sie zu erstehen:
-Wer auf dem Rücken schwimmt, erreicht eine Stimulation der Östrogenproduktion im Bereich der Schilddrüse und bewirkt durch die entspannte Haltung der Brust ein gesteigertes Wachstum.-
-Die geschlossenen Augen sind hierbei von besonderer Wichtigkeit, da das Wachstum nicht durch äußere visuelle Einflüsse beeinträchtigt werden darf.-
Ich ging wieder zurück ins Schlafzimmer, um alles meiner geliebten Frau Emilia zu erzählen.
"Lass mich gefälligst weiter schlafen!" Ich kam nicht umhin einen leicht genervten Unterton in ihrer Antwort auszumachen.
Da ihre Begeisterung für meine Idee sich in Grenzen hielt, rief ich meinen Kumpel Olli an, um ihm von der ganzen Sache zu erzählen. In dem Moment, als ich den Hörer in die Hand nahm, klingelte das Telefon und etwas irritiert nahm ich ab.
"Hallo?" Frage ich noch ahnungslos, worauf eben dieser Olli mir mit total hektischer Stimme entgegenruft:
"Arne du musst sofort ins Krankenhaus, meine Kleine kam grade rein, sie haben Lara mit dem Krankenwagen abgeholt."
"Was? Was? Wie bitte?" Eben war sie doch noch topfit...
"Lara geht es soweit gut, sie ist bei Bewusstsein, sie wäre beinahe ertrunken."
Wenig später stand ich mit Emilia im Krankenhaus vor dem Bett unserer Kleinen, wo diese seelenruhig schlief, den bandagierten Kopf leicht auf und ab bewegend.
Die Ärzte meinten, sie wäre mit dem Kopf gegen den Beckenrand geschwommen und in einer Mischung aus Panik und Schmerzen habe sie unter Wasser nach Luft geschnappt, was zusammen mit der Verletzung am Kopf zu einer Art Kollaps geführt hätte. Nur durch das Eingreifen ihrer Freundin, welche sofort bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmt, sei schlimmeres verhindert worden.
Am nächsten Tag, nach einer ziemlich ungemütlichen Nacht im Krankenhaus, ging ich bei Olli vorbei, um mich bei ihm und seiner Tochter für alles zu bedanken, Lara sollte die nächsten Tage entlassen werden.
"Warum war die Nacht denn ungemütlich?" Fragte mich Olli.
"Lara hat uns wachgehalten", meinte ich nur, "sie hat ständig im Schlaf gesprochen."
"Hast du etwas verstanden?" Fragte er aufgeregt. "Das gleiche ist mir bei Claudi auch aufgefallen. Aber ich konnte nur ein paar zusammenhangslose Fetzen raushören: Schwimmen, Entspannen, Wachsen."
Ich war total sprachlos, wie konnte das sein? Olli sah was in mir vorging, konnte es sich aber auch nicht erklären. Wenig später saßen wir zusammen vor dem Pc und recherchierten im Internet, und als# hätte ich es gewusst, fanden wir lauter Foren, die eben das zum Thema hatten, was unseren Töchtern widerfahren war. Nach einiger Zeit, als wir schon diverse Chatrooms durchgegangen waren ohne eine befriedigende Antwort zu erhalten, kamen wir zufällig auf die Homepage der Belegschaft des hießigen Krankenhauses.
Dieses Forum allerdings war aufgrund von Verunglimpfung des Krankenhausvorstandes geschlossen worden, die letzten zwanzig Beiträge sogar völlig gelöscht. Wir schrieben einige der Teilnehmer an, in der Hoffnung näheres über die Schließung und ihren Grund zu erfahren.
Eine Person namens Baywatch antwortete uns und es stellte sich heraus, dass es sich um eine der Bademeisterinnen des örtlichen Schwimmbades handelte. Sie erzählte uns, von einem enormen Zulauf, welchen das Bad in letzter Zeit erfahren habe, wobei es sich hierbei vor allem um junge Damen gehandelt hätte. Die Einnahmen, so meinte sie wären um 30 Prozent gestiegen, wie sie bei einer Sitzung gehört hatte.
Am selben Abend schaltete ich den Fernseher ein und in den Nachrichten war die Rede von einem Schwimmbegeisterten Deutschland, was die gestiegene Anzahl der verkauften Saisonkarten und Mitgliedschaften in Schwimmvereinen bewiese. Das brachte mich ins Grübeln, hatte Lara nichts selbst davon gesprochen einem Schwimmverein beizutreten? Sie meinte, sie müsse noch an ihrer Entspannung arbeiten.
Aber! Wer in aller Welt hört denn schon rund um die Uhr seiner dreizehnjährigen Tochter zu?
Mich jedenfalls brachte es auf eine heiße Spur, mir wurde klar, dass ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der schwimmwütigen Jugend und dem Wassersportverband bestand. Ich schlug ihre "Applaus" ein weiteres Mal auf und las mir den Artikel genau durch, in der Hoffnung Anhaltspunkte zu finden und tatsächlich, der Name des Redakteurs, kam mir irgendwie bekannt vor.
Ein Anruf bei Olli brachte mir Gewissheit, es handelte sich nicht nur um einen zweitklassigen Schriftsteller, sondern auch um den Chef der Ärztekammer. Als mir meine Frau dann erzählte, dass der Geschäftsführer des deutschen Wassersportverbandes ein Halbbruder von ihm sei, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Sofort ging ich ins Internet, um Baywatch davon in Kenntnis zu setzen, schließlich hatte sie alles ins Rollen gebracht. Ihre Reaktion fiel jedoch recht nüchtern aus, sie hätte sich ihre Gedanken schon gemacht meinte sie, ihre Überlegungen gingen sogar noch weiter, dann hörte ich nichts mehr von ihr.
Olli und ich beschlossen am nächsten Tag weitere Schritte einzuleiten, vielleicht sogar einen Anwalt zu kontaktieren oder die Verantwortlichen für diesen Wahnsinn direkt zur Rede zu stellen, aber nun war mir nach Ruhe, zu anstrengend war gerade alles für mich, und irgendwie auch zu unglaublich:
Eine Jugend gesteuert von Lobbyisten in der Schwimmsport und Ärztebranche durch ein lächerliches Magazin?
Am nächsten Tag las ich in der Zeitung einen Bericht und einerseits stimmte mich dieser traurig, andererseits jedoch zornig:
Die Bademeisterin Susanne M. wird des zweifachen Mordes angeklagt, nachdem sie in einem Berliner Hotel Andreas Herig den Vorstandsvorsitzenden der deutschen Bundesärztekammer und Kurt Breisle den Präsidenten des deutschen Wassersportverbandes in der Nacht mit einem Rettungsring überfallen und ihnen damit tödliche Verletzungen im Bereich des Nackens und Kopfes zugefügt hatte.
Die Polizei geht von Mord aus, da eindeutig vorsätzliches Handeln auszumachen sei, wie das Wissen über das gemeinsame Zimmer der beiden Ermordeten belege. Von einem Motiv fehlt bislang noch jede Spur, Bekannte beschrieben sie als höfliche aufmerksame Person, erst der Ertrinkungstod ihrer Tochter, welchen sie trotz ihrer Tätigkeit als Rettungsschwimmerin nicht verhindern konnte, hätte ihr einen Knacks gegeben, jedoch, so die allgemeine Meinung, eher in depressiver Art und Weise.
Ich würde also doch einen Anwalt kontaktieren...