Jetzt und für immer...
Jetzt und für immer…
Straßenkinder haben es nicht leicht. Vor allem in Großstädten, dort, wo die Menschen nur noch sich und ihre verbleibende Zeit sehen, aber den Blick nicht auf die zeitlosen Dinge werfen die um sie herum geschehen. Meine Geschichte ist nur eine von vielen und dennoch bin ich der Meinung, dass sie anders ist und vielleicht der Welt ein ganz kleines Stückchen die Augen öffnen kann. Wenn man denn gewillt ist sich von seinem, schon hart getretenen Pfad zu entfernen und eine neue Richtung einzuschlagen. Ich bin mir sicher es würde uns allen gut tun nicht nur auf unser eigenes Leben zu achten, sondern auch das Glück und Leid mit Anderen zu teilen, um so zu lernen was es heißt, wirklich zu leben.
Seitdem ich denken kann war ich einsam. Mir wurde immer wieder gesagt, ich sei nicht allein, ich habe Menschen um mich, denen ich etwas bedeute und würde sicher auch viele Freunde finden, wenn ich mich nur etwas mehr darum bemühen würde mich anzupassen. Die Leute, die mir das sagten, waren Erzieher aus einem Heim. Ein Heim für Kinder die kein zu Hause hatten, weil nun mal keiner sie haben wollte. Ich wusste das. Ich wusste, dass ich hier war, weil meine Eltern, oder eher Erzeuger wie ich sie nannte, mich nicht haben wollten. Seitdem ich hier war hatte ich keine einzige Freundschaft geknüpft, weil ich keine wollte. Ich wollte mich auf niemanden verlassen, außer auf mich selbst. Mir selber konnte ich immer vertrauen und so war nicht auf die Hilfe anderer angewiesen. Als ich sieben Jahre alt war, also schon 5 Jahre im Heim, kam ein neuer Bewohner zu uns, der mit mir ein Zimmer teilen sollte. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben und nahm mir vor ihn deshalb einfach zu ignorieren. Das mag hart klingen für ein Kind in meinem Alter, aber ich wusste mir damals einfach nicht anders zu helfen als mich von allen abzuschotten.
Mein neuer Mitbewohner hieß Mike und war ungefähr so alt wie ich, doch etwas größer. Er hatte strohblondes Haar und blaue Augen, in denen so viel Sehnsucht steckte, dass ich ihn gar nicht ansehen mochte. Sie erinnerten mich an das Meer. Ich war noch nie dort gewesen, aber ich hatte schon so viele Bilder und Filme gesehen und war begeistert von dieser blauen Weite.
Entgegen meinen Erwartungen versuchte Mike nicht im geringsten irgendwie Kontakt mit mir aufzunehmen. Auch die anderen Waisen schienen nicht sein Interesse zu wecken. Die meiste Zeit des Tages saß er in seinem Bett und schrieb irgendetwas in ein kleines Büchlein. Eine der Erzieherinnen hatte einmal versucht uns etwas näher zu bringen, damit wir zumindest miteinander redeten oder uns vielleicht sogar anfreundeten. Wie hatten uns jedoch einfach nur gegenübergestanden und uns angeschwiegen. Er hatte mich dabei angesehen, ich war seinen wasserblauen Augen ausgewichen. Ich konnte diesem Blick nicht standhalten.
Ich blieb die nächste Zeit immer öfter in unserem Zimmer sitzen und beobachtete ihn. Manchmal schien er zu bemerken, wie mein Blick auf ihm ruhte. Dann sah er ohne eine Mine zu verziehen auf und ich schaute schnell weg. Auf irgendeine Art und Weise hatte dieser Junge es geschafft mein Interesse für ihn zu wecken. Es war nicht so, dass ich egoistisch war, aber bis jetzt hatte ich mich noch nie für andere Menschen interessiert. Sie waren mir egal. Bei ihm war es anders.
Nach geschlagenen drei Wochen hielt ich es schließlich nicht mehr aus. Diese ständige Stille, nur das leise, kratzende Geräusch des Stiftes, der über das Papier von Mikes Buch schabte. Ganz unbedacht sprach ich ihn an: „Was schreibst du da?“
Er hörte auf zu schreiben und schaute auf. Irgendetwas hatte sich in seinem Blick geändert. Ich konnte nicht genau bestimmen was es war, aber er war nicht mehr so gleichgültig wie zuvor. „Das ist mein Tagebuch“, antwortete er mir. „Da schreibe ich rein, was ich den ganzen Tag mache.“
Verwirrt guckte ich ihn an. „Aber du sitzt doch den ganzen Tag im Zimmer und machst nichts. Und trotzdem schreibst du so viel in dein Tagebuch?“
Mike nickte und begann weiter zu schreiben, dann erklärte er: „Ich stelle mir vor, was ich einmal alles machen werde wenn ich hier raus bin. Ich werde in den Vergnügungspark gehen und in den Zoo und ans Meer.“
„Ans Meer?“, fragte ich ganz aufgeregt. „Hast du es schon mal gesehen? Warst du schon mal da?“ Das war mehr als ich in den letzten drei Wochen mit irgendjemanden hier gesprochen hatte. Und nun zeigte auch Mike endlich eine Regung. Er schien überrascht und fasziniert zugleich und sah mit großen Augen an. „Nein, ich war noch nie am Meer. Meine Mutter hat es mir versprochen, aber…“ Er brach ab. Da war etwas Trauriges in seiner Stimme und ich wollte nicht weiter danach fragen. „Willst du es sehen? Das Meer meine ich. Ich habe einen Bilderband mit ganz vielen Fotos nur vom Meer.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten sprang ich aus meinem Bett und holte das Buch darunter hervor. Dann setze ich mich zusammen mit Mike auf den Boden in der Mitte des Zimmers und gemeinsam staunend sahen wir uns die wundervollen Bilder an, die dieses Buch zu bieten hatte. Als ich dann Abends in meinem Bett lag und über den vergangenen Tag nachdachte wusste ich plötzlich selber nicht mehr was mich dazu gebracht hatte einen meiner größten Schätze mit diesem Jungen zu teilen.
Die nächsten Tage und Wochen verliefen anders als bisher. Irgendwie freundeten wir uns miteinander an und ich schaffte es, zu meiner eigenen Überraschung, großes Vertrauen in Mike zu fassen. Und umso mehr Zeit wir miteinander verbrachten, umso mehr klammerten wir uns aneinander. Auch den Betreuern viel dies mit der Zeit auf. Einmal, das war schon länger her, da wollten sie uns in getrennte Zimmer verweisen, weil das, wie uns erklärt wurde, besser für unsere soziale Entwicklung wäre. Mike und ich hatten uns damals so lange gegen dieses Vorhaben gewehrt, dass wir letztendlich doch in unserem gemeinsamen Zimmer bleiben konnten. Es war kaum zu glauben, wie stark unsere Freundschaft mit der Zeit wurde. Wir redeten zwar nicht so viel miteinander wie normale Freunde das tun würden, aber ich genoss schon allein das stille Zusammensein. Wir mussten auch gar nicht mal so viel reden um uns zu verständigen. Es genügten manchmal einfach nur Blicke um auszudrücken was wir fühlten. Wobei sich in Mikes Blicken immer diese Sehnsucht widerspiegelte, egal ob er lachte oder mich einfach nur ausdruckslos ansah. Ich wusste nicht warum, aber dieser sehnsüchtige Blick machte mich traurig, zu fragen was dahinter steckte traute ich mich jedoch nicht. Ich erzählte ihm einmal, dass mich seine Augen an das Meer erinnerten, da hatte er gelacht und mich etwas gequält angelächelt. „Wer weiß, vielleicht gibt es ja eine besondere Verbindung zwischen mir und dem Meer.“ Dieser Satz hatte mich noch lange in meinem Kopf begleitet. Warum weiß ich nicht.
Einige Jahre später, wir waren beide elf, flüchteten wir eines Nachts aus unserem Gefängnis, welches sich Heim nannte, in der Hoffnung dort draußen etwas besseres vorzufinden. Eine ganze Zeit lang irrten wir ziellos durch die Gegend. Bevor wir aufgebrochen waren hatten wir uns etwas Essen aus der Kantine geklaut, dieses war jedoch schon aufgebraucht und als wir nach langer Zeit über Felder und Dörfer in eine große Stadt kamen waren wir halb verhungert und ausgetrocknet. Wir waren soweit gesunken, dass wir selbst Wasser aus Springbrunnen oder im Notfall auch aus Pfützen tranken und die Reste aßen, die die Stadtleute in Mülleimern oder auf Parkbanken zurückließen. Das reichte jedoch nicht, also mussten wir betteln gehen um zu überleben. Das war allerdings, wie wir merkten, auch nicht ganz einfach, denn würden wir entdeckt werden, würden wir garantiert wieder zurück in ein Heim gesteckt werden. Das war das Letzte was wir wollten, also kämpften wir uns so gut durchs Leben wie es eben möglich war. Dass es so nicht weitergehen konnte wurde mir schließlich bewusst als es Winter wurde und Mike plötzlich Fieber bekam. Wir hatten nicht das Geld um uns einen warmen Unterschlupf oder überhaupt eine Decke leisten zu können. Es war Sommer gewesen als wir geflohen waren, warum hatten wir nur nicht daran gedacht, dass sich die Jahreszeiten ändern würden und es frieren würde. Ich versuchte mit allen Mitteln Mike so warm zu halten wie es mir möglich war, doch ihm ging es immer schlechter.
Eines Nachts, als aus irgendeinem Grund noch besonders viele Leute durch die Stadt liefen und feierten, kam ein Mann auf uns zugelaufen. Er schien nichts Böses im Sinn zu haben und hockte sich neben uns um einen etwas genaueren Blick auf uns beide zu werfen. „Dein Freund sieht nicht gut aus“, sagte er mir zugewandt. Ich wollte mich keinen Fremden anvertrauen, aber ich war verzweifelt und wusste nun mal nicht was ich tun sollte. „Können sie ihm helfen? Bitte, er muss wieder gesund werden!“ Ich hatte dies gesagt ohne an eventuelle Konsequenzen zu denken. Der Mann lächelte mich an. „Habt ihr beide denn kein zu Hause? Was ist mit euren Eltern? Sie vermissen euch doch bestimmt schon? Es ist nicht gut hier Nachts allein in der Stadt zu sein.“ Ich hätte damals besser überlegen sollen was ich tat. Aber ich war jung und hatte keine Ahnung vom Leben. Ich handelte impulsiv und erzählte ihm, dass wir keine Eltern hatten und uns auch niemand vermissen würde. „Hör zu, Junge. Ich habe eine große Wohnung nicht weit von hier. Für eine gewisse Gegenleistung lasse ich euch bei mir wohnen bis es dem Kleinen wieder gut geht“. Ich ging mit ihm, den halb bewusstlosen Mike mit mir schleppend. Unser Wohltäter hatte nicht gelogen. Seine Wohnung war groß genug für uns. Er gab uns ein Zimmer mit einem Bett und zwei Decken und gab Mike und mir eine Tablette. Wofür diese war wusste ich nicht. Ich dachte einfach er wollte uns helfen. Als dann Mike versorgt war nahm er mich mit in das Wohnzimmer. Mir wurde plötzlich schwindelig, alles drehte sich und mir wurde schwarz vor Augen. Als ich die Augen wieder öffnete war ich in einem anderen Zimmer. Sein Schlafzimmer. Das war das erste mal, dass ich mit einem Mann schlief. Obwohl ich erst elf war und gleichen Geschlechts, nahm er mich als wäre ich schon einer von vielen. Es war schrecklich, aber ich konnte mich nicht wehren. Ich fühlte mich wie gelähmt und wimmerte nur vor mich hin. Das war die schlimmste Nacht in meinem Leben.
Als ich am nächsten Tag wieder aufwachte lag ich im Wohnzimmer auf dem Sofa, neben mir saß das Schwein von dem ich vergewaltigt worden war. Er grinste mich von oben herab an und ich konnte nichts tun. Ich war so wütend und so verletzt, war gedemütigt worden, fühlte mich benutzt und schmutzig. Und doch konnte ich nichts tun, nicht reden, mich nicht bewegen, nicht einmal weinen konnte ich mehr.
„Das hast du gut gemacht. Hier.“ Er drückte mir einen Schein in die Hand. Ungläubig starrte ich auf das Stück Papier in meiner Hand und schleuderte es von mir. „Nana, du wirst doch nicht übermütig werden? Denk an deinen Freund. Solange du schön brav bist dürft ihr beide hier bleiben. Ihr könnte gerne wieder gehen, aber ich sage dir, lange wird’s der Blondschopf dann nicht mehr machen da draußen.“ Er sagte das mit einem gehässigen Grinsen im Gesicht. Dann stand er auf und verließ den Raum.
Die folgenden Tage vergingen nur quälend langsam. Mikes Zustand verbesserte sich kaum und jede Nacht musste ich mit diesem Perversen schlafen. Mit jeder Nacht veränderte es mich. Ich spürte es. Ich zog mich immer weiter in mir zurück und war fast schon apathisch wenn ich Abends in sein Bett stieg. Mike bekam von alldem nichts mit. Und ich wollte auch nicht, dass er jemals etwas davon erfuhr. Sobald es ihm besser ging würden wir von hier verschwinden und alles wieder vergessen. Dann würde alles wieder so werden wie vorher.
Doch natürlich meinte es das Schicksal nicht gut mit uns. Nichts wurde wie vorher. Nach einer Woche ging es Mike langsam besser und als er eines Nachts aufwachte und mich nicht in dem Bett vorfand, begann er mich zu suchen und erwischte mich dabei in dem Bett meines Freiers. Von da an wurde alles anders. Natürlich war ich psychisch labil nach allem was ich durchgemacht hatte, aber für ihn musste es fast noch schlimmer sein. Ich sah ihm an was er in dieser Nacht empfand als er mich dort in dem Bett liegen sah und der Schmerz, der sich in seinen Augen widerspiegelte ließ sich nicht in Worte fassen. Gleich am nächsten Tag, am frühen morgen, verließen wir das Haus und flüchteten so schnell wie möglich aus diesem Stadtteil. Mike redete nicht mit mir und ich nicht mit ihm. Es war die größte Demütigung für mich von ihm so gesehen worden zu sein. Ich machte mir Sorgen darüber wie es weitergehen sollte. Mit betteln konnten wir nur knapp überleben und außerdem war es noch immer sehr kalt draußen. Was wenn wieder einer von uns krank wurde? Wir konnten doch nicht ewig so leben. Eine Woche nachdem ich diese Gedanken hatte fing es an zu schneien. Die Tage wurden kälter, die Nächte waren unerträglich kalt. Seit dem Vorfall hatten wir Abstand voneinander gehalten. Wir hatten uns nicht einmal mehr berührt und auch nachtsüber wärmten wir uns nicht mehr, was alles noch viel schlimmer machte. Ich fand heraus, dass es nicht nur dieser eine Mann damals gewesen war, der solch perverse Bedürfnisse hegte. Immer wieder wurden wir angesprochen oder einfach nur von lüsternen Augen gemustert und eines Tages, als ich mich schon halb erfroren fühlte, stimmte ich zu und ging mit einem Mann in ein Hotel. Mike ließ ich für die Zeit allein zurück. Was hätte ich sonst tun sollen? Ich wollte das alles nicht, aber ich war verzweifelt und hatte Angst erfroren auf der Straße zu enden. Und auch wenn die Verbindung zwischen Mike und mir nicht mehr so stark, besser gesagt kaum noch vorhanden war, bedeutete er mir doch so unheimlich viel, dass ich für ihn fast alles tun würde. Ich glaube niemand konnte in diesem Moment nachempfinden was in meinem Inneren vor sich ging. Niemand, selbst ich nicht.
Die Nacht war schlimm, jedoch war es nicht so schlimm wie beim ersten Mal. Als es vorbei war und ich dann wieder auf der Straße stand überkam mich ganz plötzlich der Gedanke, dass Mike nicht mehr da sein könnte. Voller Panik und gehetzt wie ein gejagtes Tier rannte ich durch die Innenstadt zu dem Platz wo ich ihn zurückgelassen hatte. Die ganze Zeit hatte ich nur daran gedacht, dass ich alles für ihn tun würde, er sich immer auf mich verlassen konnte, aber was, wenn er das mittlerweile nicht mehr so empfand? Wenn er einfach gegangen war? Ich rannte so schnell mich meine Füße tragen konnten und als ich schließlich da war konnte ich mich nur noch nach Luft schnappend fallen lassen. Er war noch da. Alles war gut. Er hatte mich nicht allein gelassen. Als sich meine Atmung wieder beruhigt hatte fühlte ich plötzlich wie sich eine warme Träne den Weg über mein kaltes Gesicht bahnte. Ohne etwas dagegen tun zu können fing ich an zu weinen. Immer mehr Tränen rollten mir die Wangen hinab und immer wieder musste ich laut schluchzen. Ich entschied mich dem allen freien Lauf zu lassen, ich kam einfach nicht dagegen an. Mike saß neben mir, nur knapp einen Meter entfernt und sah mich nicht einmal an. Das war es was mich am meisten verletzte. Mein Herz blutete, mein Stolz war mir genommen worden, mein Lebenswille kaum noch vorhanden. Als ich mich etwas beruhigt hatte sah ich zu Mike hinüber. Stumm saß er da während auch ihm still eine Träne über das Gesicht rollte. Doch ich hatte einfach nicht die Kraft zu ihm zu gehen. Ich konnte es einfach nicht…
Immer öfter ging ich mit fremden Männern mit. Von dem Geld besorgte ich uns Decken, etwas zu Essen und manchmal sogar neue Kleidung wenn es dafür reichte. Wir waren noch im Wachstum, die alten Kleidungsstücke waren schon längst zu klein geworden. Auch wenn wir stetig größer wurden, so wuchsen doch nur unsere Knochen. Es bildeten sich keine Muskeln, wir waren abgemagert, hatten dunkle Augenringe, sahen nicht unserem Alter entsprechend aus. Man konnte es nicht übersehen wie schlecht es uns ging, doch die Spaziergänger die an uns vorbei gingen verschlossen die Augen vor der Wahrheit. Sie versuchten so gut es ging ihren Blick nicht auf uns richten zu müssen und gingen einen großen Bogen um uns. Keiner von ihnen wusste wahrscheinlich wie es sich anfühlte da zu sein, wo wir beide waren. Einige von ihnen gaben uns Geld und lächelten dabei so großzügig, dass mir einige Male schon fast das Kotzen gekommen wäre. Wie ich das hasste! Sie dachten alle nur an sich und ihr Wohl. Und wenn doch jemand dabei war, der uns Geld gab, fühlte er sich großartig und befreit von seinen Lasten. Gerade so, als hätte er soeben der Menschheit einen großen Gefallen getan. Mich widerte dieses Verhalten an.
Der Winter hatte mittlerweile geendet und auch der Frühling neigte sich schon seinem Ende zu als ich eines Nachts von einem Freier zurückkam und mich auf meine Decke zum schlafen legte. Auch wenn Mike mit geschlossenen Augen dalag, wusste ich, dass er erst schlief wenn ich auch wieder da war. Das machte mich zwar irgendwie ein bisschen glücklich, jedoch tat es mir auch gleichzeitig in der Seele weh ihn hier jedes Mal hier allein zurückzulassen. Später in dieser Nacht wurde ich durch ein leises Geräusch wach. Als ich die Augen öffnete sah ich Mike, wie er seine Decke zusammenrollte und dann aufstand. Der Mond schien hell genug, dass ich jede seiner Bewegungen genau sehen konnte. Plötzlich beugte er sich zu mir runter und hockte sich neben mich. Schnell schloss ich die Augen und fühlte plötzlich seine warme Hand, wie sie über mein Gesicht strich. Dann hörte ich wie er wieder aufstand und sich von mir entfernte. Was hatte er vor? Er würde mich doch nicht verlassen? Das durfte er nicht! Hastig sprang ich auf. „Mike!“ Das erste Wort seit langem. Erschrocken drehte er sich zu mir um. Dann wirbelte er herum und rannte davon. Ich folgte ihm und obwohl er größer war und längere Beine hatte holte ich ihn ein und bekam sein Handgelenk zu greifen. „Nein, lass mich los!“, schrie er. Ich wusste nicht was in seinem Kopf vorging und ich wollte ihm auch nicht wehtun, aber ich hatte solche Angst ihn zu verlieren, dass ich noch fester zugriff und versuchte ihn zu mir zu zerren. „Nein, nein, bitte!“, rief er immer wieder. Schließlich wurde seine Stimme immer leiser bis sie ganz erstarb. Er wehrte sich nicht mehr, also drehte ich ihn zu mir um in sein Gesicht zu schauen, welches tränenüberströmt war. Das versetzte mir einen Stich ins Herz. Ich umarmte ihn und entgegen sämtlicher Vermutungen stieß er mich nicht von sich oder versuchte sich zu befreien, sondern erwiderte die Umarmung. Dann fing er haltlos an zu schluchzen und ich fühlte warme Tränen die mir in den Nacken tropften. Ich versuchte ihn zu beruhigen und strich mit meiner Hand über seinen Rücken. „Bitte...“, brachte er immer wieder zwischen den Schluchzern hervor. „Bitte..“
Was auch immer er mir sagen wollte, ich würde ihm jede Bitte erfüllen. Nach einiger Zeit hatte er sich beruhigt, ließ mich jedoch nicht los, genauso wenig, wie ich ihn losließ. Einen Moment lang war alles still, nur Mikes leises Atmen war noch zu hören.
„Bitte, ich möchte so nicht weiterleben. Ich kann das nicht mehr“, brach er schließlich das Schweigen. Er nahm etwas Abstand von mir und schaute mich mit seinen flehenden Augen an. Ich nickte stumm und ging zurück um die letzten Sachen zu holen. „Lass uns ans Meer gehen“, sagte ich ruhig und nahm seine Hand. So gingen wir gemeinsam durch die dunklen Straßen, ahnungslos in welche Richtung und wie weit von unserem Ziel entfernt. Als die Sonne aufging waren wir noch immer auf den Beinen. Als ich eine alte Frau an einer Bushaltestelle warten sah, fragte ich sie in welche Richtung wir gehen mussten um an das Meer zu gelangen. Sie wies uns einen Weg und wie es schien waren wir nicht einmal sehr weit von unserem Ziel entfernt und das, obwohl wir gerade einmal die Stadt hinter uns gelassen hatten. Vielleicht ein oder zwei Tage Fußmarsch. Ich bedankte mich und ging zurück zu Mike, der in einiger Entfernung auf mich gewartet hatte. Ich konnte spüren wie die Frau uns hinterher sah und uns argwöhnisch beäugte. Sobald man den Leuten den Rücken zudrehte hatten sie keine Scham mehr und man konnte an ihren Blicken ablesen was in ihren Köpfen vorging. Es war mir egal und so gingen wir weiter. Wir liefen und liefen bis unsere Füße so sehr schmerzten, dass wir einfach eine Pause machen mussten. Wir hatten schon längst die belebteren Straßen verlassen und wanderten eine Zeit lang nur noch an Feldern und kleinen Wäldern entlang. Wir legten uns auf eine Wiese in das grüne Gras und atmeten tief ein. Wie wunderbar diese Luft doch war im Gegensatz zu der aus der Stadt, wo man ständig von tausenden von Gerüchen umgeben war. Wir lagen eine ganze Zeit lang einfach nur still nebeneinander und blickten in den grenzenlosen Himmel der mit kleinen, weißen Wolken besetzt war. „Danke“, flüsterte Mike und griff nach meiner Hand. „Danke, dass du bei mir bleibst“. Ich war überrascht, dass von ihm zu hören und es machte mich gleichzeitig so unheimlich glücklich, dass wir das alles hinter uns gelassen hatten und wieder miteinander redeten. Schließlich wurde es dunkel und wir entschlossen uns dazu auf dem Feld liegen zu bleiben. Das Gras war so unfassbar weich im Gegensatz zu denn Pflastersteinen auf denen wir sonst mit unseren dünnen Decken geschlafen hatten. Fast so, dass ich mir vorkam als würde ich auf Wolken liegen. Von hier aus konnte man auch viel besser die unzähligen Sterne am Himmel sehen. Kurz bevor ich einschlief rückte Mike näher zu mir und legte von hinten vorsichtig seinen Arm um mich. „Nur wenn es ok ist“; sagte er ganz leise und ich nickte und schmiegte mich noch etwas näher an seinen wärmenden Körper. Allein in dieser Nacht verspürte ich so unheimlich viel Glück wie in den letzten zehn Jahren zusammengezählt nicht mehr.
Früh am nächsten Morgen, als noch nicht einmal die Sonne am Himmel stand, sammelten wir unsere Sachen zusammen und liefen weiter, auch wenn unsere Füße noch immer vom Vortag schmerzten. Schon nach einigen Kilometern Fußmarsch hatte ich plötzlich einen salzigen Geruch in der Nase und hörte deutlich das Rauschen von Wellen. Hinter einem kleinen Hügel, den wir soeben erklommen hatten, erstreckte sich das weite, blaue Meer. Knapp über dem Meeresspiegel zeigte sich die orange-rote Sonne die eben aufgegangen war und spiegelte sich in dem, davon glitzernden Wasser. Überwältigt von dieser Schönheit schmiss ich all meine Sachen von mir, schnappte Mike an der Hand und rannte mit ihm den Hügel hinunter auf den Strand zu. „Siehst du das? Siehst du das, Mike?“, rief ich laut. „Wir haben es geschafft! Wir sind endlich da!“ Wir setzten uns ganz nah ans Wasser in den Sand, sodass unsere Füße bei jeder heranrollenden Welle das Salzwasser berührten.
„Ja“, lächelte mich Mike an. „Wir haben es endlich geschafft. Hier gehören wir hin.“ Endlich waren wir am Ziel unserer langen Reise. Diese Reise durch das Leben hatte uns beiden so viel Energie gekostet. Wir hatten so viel gesehen und erlebt was einem Menschen unwürdig war. Noch nie hatte sich mein Herz so unbeschwert und ich mich so frei gefühlt wie in diesem Moment und ich war mir sicher, dass es Mike nicht anders erging. Bis zum Abend blieben wir am Strand sitzen. Schweigend, darauf wartend, dass es Abend wurde und unsere Reise endlich ein Ende hatte. Ich atmete so viel frische, salzige Seeluft ein wie ich nur konnte und genoss jeden Atemzug, jeden Augenblick den wir beide hier Hand in Hand saßen und in die Ferne sahen.
Schließlich neigte sich der Tag dem Ende zu und die Sonne färbte sich rot, bereit dem Mond Platz zu machen. Mike stand auf und schaute mich mit einem undefinierbaren Blick an. Einen Moment wanderte sein Blick über die unendliche Weite des Meeres, während ich ihn von unten her musterte. Er war so schön wie er da stand und ich war glücklich, dass er es war, der jetzt hier neben mir stand. Dann plötzlich drehte er sich zu mir um und hielt mir seine Hand hin um mir hoch zu helfen. Wir sahen uns tief in die Augen. Diese unstillbare Sehnsucht, sie war endlich verschwunden. Ich wusste was jetzt kam. Wir beide wussten es. Uns fest an den Händen haltend liefen wir langsam immer weiter in das alles verschlingende Meer, solange, bis wir nicht mehr stehen konnten. „Ich liebe dich.“
„Ich dich auch. Ich werde dich immer lieben“.
Das waren unsere letzten Worte bevor wir den Weg zur Erlösung unserer Qualen gingen und mit der, sich im Meer spiegelnden Abendsonne und dieser unendlichen Weite des Meeres eins wurden.