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Joe's Welt

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20.12.2001
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Joe's Welt

Joe war fünfzehn, fünfundzwanzig, fünfunddreißig und fünfundvierzig Jahre alt. Ja, so war es. Oft lag er stundenlang wach und wollte an gar nichts denken. Doch das klappte natürlich nicht. Immer wieder gab es diese Geschichten in seinem Träumen - die Vergangenheit, das Jetzt und die Zukunft. Meist waren es wirre bunte Bilder und immer sah er sich in einer anderen Rolle. In diesen Momenten schwebte er irgendwo zwischen den Welten, halb wach und halb im Schlaf, halb er selbst und halb jemand völlig Fremdes, halb im Traum und halb in der Realität. Doch wer war er wirklich?
Joe war erfolgreich im Beruf. Er hatte ein wunderbare Frau und drei tolle Kinder, die er auch über alles liebte. So dachte er jedenfalls immer. Doch was heißt es denn, jemanden zu lieben? Und warum ist das verdammt noch mal so wichtig, dass sich alles immer wieder darum dreht? Diese Frage hatte er sich oft gestellt. Natürlich liebt man seine Frau. Natürlich liebt man seine Kinder. Doch dann gibt es immer wieder diese Momente, in denen er sich nichts lieber wünschte, als dass er ganz weit weg wäre, ganz allein, irgendwo wo er geborgen war und einfach weinen und lachen konnte, ohne dass ihn jemand sah und nach dem warum fragte. Und wo keiner merkte, dass er eigentlich immer noch fünfzehn war.
Joe hatte Angst. Was passiert, wenn sie ihn da draußen erkennen? Wenn sie merken, dass sein Erfolg nur Zufall war - im Gegensatz zu seiner Ehe, die exakt geplant war. Ja, er mag Sarah. Sie ist immer noch hübsch, sie ist gewandt und eine ziemlich gute Hausfrau. Man konnte sich mit ihr sehen lassen und sie war den Kindern eine gute Mutter. Doch warum Sarah? Warum nicht Caroline oder Mary? Beide waren einmal die 'große Liebe' - natürlich lange vor Sarah. Caroline war seine erste richtige Freundin. Ja damals, da spürte er dieses Knistern in ihrer Nähe jeden Tag aufs neue. Und das immerhin vier Jahre lang. Ja, sie paßten schon toll zusammen. Er wollte das kleine Häuschen am See kaufen, an denen sie sich immer trafen und von ihren Träumen erzählten. Doch dann kam der 6. Mai und er mußte sich entscheiden.
Ja, sie hatten ihn angenommen. Studium an der Stanford University, Surfen im Pazifik, Wohnen im Haus von Onkel Fred und Partys am Strand. Was wollte er mehr? Und Caroline, die würde er schon nachholen. Zumindest in den Semesterferien. Außerdem gab es ja Email und Chat. Er hatte es geschafft. Gut, natürlich gab es da auch noch dieses Angebot bei der Bank. Er hätte eine Ausbildung zum Wertpapierhändler machen und dann an der Börse auch ordentlich Geld verdienen können. Immerhin wohnte er nur 30 km entfernt. Und außerdem wäre er jeden Tag bei Caroline. Aber Kalifornien, das Studium und die Chance auf eine gutdotierte Stelle - sollte er das wegwerfen? Außerdem konnte Caroline auch warten. Das Häuschen könnten sie sich auch noch in fünf Jahren kaufen. Und überhaupt, bevor man sich das ganze Leben bindet, sollte man ein bisschen was von der Welt gesehen haben, Verschiedenes ausprobiert haben. Nein, nein, er hatte sich schon richtig entschieden! Okay, aber er hatte dabei Caroline verloren. Freilich er war nicht nur der kleine Wertpapierhändler am Rande der Großstadt, der er mit ihr wahrscheinlich geworden wäre. Und immerhin sollte man das Maximale aus seinen Möglichkeiten machen, nicht wahr? Ja, er hatte es geschafft. Herr über 1.200 Mitarbeiter, 250.000 DM im Jahr plus Aktien, Frau und drei Kinder, Urlaub in der Karibik. Ja sicher, er war manchmal einsam, ziemlich oft sogar. Nicht das er allein wäre, nein, nein, das nicht, er sah immerhin gut aus und so ein schwarzes Cabrio sorgt auf Wunsch auch immer für die passende weibliche Gesellschaft, aber irgendetwas fehlte. Er wollte etwas tun, etwas machen, etwas bewegen, etwas verändern. Er wollte lachen und verrückt spielen, einfach mal ausflippen und dann wieder ganz ernst sein, er wollte streiten und sich versöhnen ohne Angst, phantastische Traumwelten bauen und in ihnen herumfliegen und doch immer wieder zurückkommen - so wie mit Caroline, damals. Eigentlich war er irgendwie immer noch fünfundzwanzig.
Natürlich weiß das keiner. Sich streiten? Ha, mit wem denn? Im Job wird er respektiert, hmm, ja eigentlich mehr gefürchtet. Schließlich wußte jeder, das er es weniger durch überdurchschnittliches Können als vielmehr durch überdurchschnittliche Härte und die richtigen Verbindungen zur rechten Zeit geschafft hatte. Nein, er konnte keinen Widerspruch dulden, Streit schon gar nicht. Und zu Hause? Sarah war eher ruhig. Im Zweifelsfall gab sie ihm Recht. Worüber sollten sie sich auch streiten? Was wußte sie von seinem Job? Was wußte er von ihrem Leben und den Sorgen mit den Kindern? Und für den Abend gab es ja zwei Fernseher, 'Basketball' für ihn und 'Vom Winde verweht' für sie. Wann und worüber also Streit? Sie bekam Haushaltsgeld, er einen ordentlichen Haushalt und eine zärtliche Frau zum Vorzeigen. Alles wie geplant, alles prima durchorganisiert. Ja gut, manchmal vermißte er schon die Zeit mit Caroline: 'Gab es einen Urknall? Haben Tiere eine Seele? Sind wir alle übergeschnappt? Wieviel Jogurtbecher passen in eine Telefonzelle?' Ja, er hatte die meisten ernsten Gespräche mit einem Spaß beendet. So konnten sie auch nach den größten Weltstreitereien gemeinsam lachen und sich danach ganz unbekümmert an den Phantasiefiguren der vorbeiziehenden Wolkenformationen erfreuen. Was Caroline wohl heute macht? Was wohl aus ihnen beiden geworden wäre? Egal, er liebt ja Sarah. Zumindest mag er sie sehr. Und Caroline hatte er mal geliebt. Jetzt mag er sie nur noch. Oder war es umgedreht? Egal!
Außer Caroline gab es dann nur noch Mary. Sie wäre es gewesen: jung, hübsch und erfolgreich. Ein Traum für jeden Mann eigentlich. Nur damals war er es, der blieb, während sie sich für den Job entschied. Entwicklungshelferin in Angola. Ja toll - sollte er vielleicht Elefanten jagen? Wenn sie ihre soziale Ader doch irgendwie in seiner Nähe hätte ausüben können. Aber nein, es mußte ja Afrika sein. Und er hatte sie wirklich geliebt. Wegen ihr wäre er sogar nach Deutschland zurückgekommen - aber Afrika, nein danke! Heute denkt er an sie nur noch dann, wenn er im Fernsehen Bilder von hungernden Kindern sieht. Zugegeben, er hatte auch mal große Sozialpläne. Während des Studiums, natürlich, wann sonst? Damals gab es genug Zeit zum Nachdenken: Alles anders machen, den Wohlstand besser verteilen, Weltfrieden - naja, das ganze Programm eben. Aber irgendwann werden wir alle Erwachsen. Werden wir doch, oder? Naja manchmal, wenn es darum geht, die Löhne nicht um die geforderten zwei Prozent zu erhöhen, da es wieder da, dieses Gefühl: Ausbeuter, Kapitalist, Charakterschwein! Dabei weiß es niemand besser als er, dass die Firma noch genug Reserven hat, aber die Aktionäre... Eigentlich hatten sie sogar genug Geld um allen angolanischen Kindern bei Mary einen Computer mit Internetanschluß zu spendieren, aber das war ja nicht sein Job.... Eines Tages, kurz bevor er kündigen und abhauen würde, da würde er noch einen dicken Batzen Geld an Mary's Organisation überweisen. Natürlich Firmengelder, denn von ihm würde sie ja kein Geld nehmen. Und plötzlich fühlte er sich wieder wie damals - mit fünfunddreißig.
Ist doch Quatsch! Natürlich würde er das nicht machen. Was würde auch Sarah dazu sagen? Er war doch immer vernünftig: 'Urlaub im Wohnmobil in den Rocky Mountains? Keine Chance, zu riskant! Ein Waisenkind adoptieren? Niemals, man hat ja schließlich genug mit den eigenen Kindern zu tun! Geld investieren in die Firma des Neffen? Wir sollten lieber in Fonds investieren, das ist sicherer!' Schließlich war er schon fünfundvierzig und kein Träumer mehr. Sollte er alles aufs Spiel setzen? Sollte er Job und Freunde riskieren für seine irgendwelche Phantastereien? Natürlich nicht! Dafür hat er damals nicht auf seine große Liebe verzichtet! Dafür hat er sich nicht in der Firma an die Spitze intrigiert! Dafür arbeitet er nicht 14 Stunden am Tag! Nein, nein, er wird so weiter machen wie bisher, denn er hatte es geschafft, er hatte alles und sich dabei noch selbst verwirklicht. Er besaß eine Familie, er besaß ein Haus, er besaß Macht die Firma zu gestalten. Nein, er wird weitermachen wie bisher - die ganzen zwei Monate, die ihm die Ärzte nach der positiven Krebsdiagnose noch gegeben haben. Er bleibt der alte Joe, der er schon immer war. Aber wer war er denn wirklich?
Joe war fünfzehn, fünfundzwanzig, fünfunddreißig und fünfundvierzig Jahre alt. Ja, so war es. Und er hatte ja auch kaum eine andere Wahl - oder?

[Beitrag editiert von: Bobby am 21.12.2001 um 12:24]

 

Eine Therapiegeschichte....eine, die mich dazu gebracht hat, über mein eigenes Leben nachzudenken und Parallelen zu ziehen.

Eigentlich ein erschreckender Inhalt, aber so sachlich und kühl, wie du ihn rübergebracht hast, zwingst du den Leser (jedenfalls mich) dazu, bei sich selber nachzugucken.

Hat mir gefallen, deine Geschichte.

Gruß.....Ingrid

 

Noch philosophischer und pseudo-intellektueller ging's wohl nicht mehr, wie? Naja, mich hat deine Story dazu gebracht, heute etwas früher in die Heia zu gehen. Immerhin etwas...

 

Hallo Bobby!

Nach der Anzahl deiner Beiträge zu beurteilen, bist du noch relativ neu hier.
Doch wie Poncher schon darauf hingewiesen hat, bitte immer nur für eine Rubrik entscheiden!

Da solche Aktionen ( die selbe Geschichte in mehreren Foren gleichzeitig zu posten )in letzter Zeit wieder zunehmen auf dieser Seite, werde ich in Zukunft auch keine Rücksicht mehr auf bereits "niedergeschriebene" Kritiken nehmen können. Ergo werde ich doppelt vorhandene Geschichten aus meinen Foren automatisch entfernen. Was in den übrigen Foren geschieht, liegt im Ermessen des zuständigen Moderators. :susp:

Es liegt nun an dir, Bobby, ob du auf dein Werk in Philosophisches verzichten möchtest, oder die hier vorhandene Kritik rüberlotsen und diese Geschichte hier entfernt haben willst.

Dieser Hinweis ist nicht als Einschränkung deiner literarischen und freiheitlichen Grundrechte - was die Unterordnung der Geschichten in die jeweiligen Rubriken betrifft - oder als Abschreckung zu verstehen, sondern lediglich als eine Notwendigkeit aufzufassen, die dazu dient, Übersichtlichkeit zu wahren und Chaos zu vermeiden. :engel:

Bitte um Verständnis und Kenntnisnahme. :pope: :)


Hendek

 

Die Geschichte wurde aus der Rubrik Philosophisches entfernt, da sie dort noch keine Kritiken hatte.

 

Geht klar, l3en, der Autor wollte sowieso diese Geschichte hier beibehalten. ;)

 

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